Die »Guerrieri Ultras« und der AC Milan

Alles für den Verein?

Die Einführung elektronischer Tickets beim AC Milan dient nicht nur der Kontrolle der Fans. Es geht dabei auch um viel Geld.

Adriano Galliani ist Präsident des AC Milan und ehemaliger Chef der Lega Calcio, des italienischen Äquivalents des DFB. Beim Mailänder Traditionsverein fungiert er als rechte Hand des Clubeigners Silvio Berlusconi. Es handelt sich bei dem von Freund und Feind liebevoll mit »Uncle Fester« titulierten Glatzkopf dabei mitnichten um einen Marionettenpräsidenten für den ­gerade anderweitig verhinderten Berlusconi, sondern um einen mit allen diplomatischen Wassern gewaschenen Clubmanager, der das Spiel mit den Medien virtuos beherrscht. In­sofern sollte stutzig machen, was der Mann vor einigen Tagen vernehmen ließ: »Die Einführung der ›Fankarte‹ wird das Ende des Papiertickets einleiten und damit das Ende des Kartenverkaufs durch die Ultrà-Organisationen mit allen seinen negativen Begleiterscheinungen. Ich bitte deshalb um ein wenig guten Willen gegenüber der ›Tessera del Tifoso‹ und darum, dass ihr die Zeit eingeräumt wird, die unausweichlichen anfänglichen Probleme abzustellen.«
Der AC Mailand hat in dieser Saison als erster Club der Serie A mit der so genannten Tessera del Tifoso ein elektronisches Ticket eingeführt, das in vorauseilendem Gehorsam entsprechende Empfehlungen des Innenministeriums erfüllt. Zur Beantragung sind Steuernummer, Personalausweis und Lichtbilder notwendig, der Kartenvorverkauf ist teils nur noch für Besitzer einer solchen Karte möglich. Ein Instrument zur Steuerung, wer ins Stadion darf – kaum mehr, aber auch nicht weniger. Und aus Gallianis Zitat geht auch schon hervor, wieso es Milan so eilig hatte, dieses Instrument einzuführen.
Denn Galliani äußerte sich erstmals ungewohnt deutlich. Er sagte klar, dass die Carta del Tifoso ein Mittel ist, den Ultràs den lukrativen Ticketvertrieb zu entziehen. Solcherart undiplomatisches Poltern gegen die eigenen Fans ist eine absolute Ausnahme im italienischen Fußball, vor allem für Staatspräsident Berlusconis Spitzenmannschaft, für die das saubere und wahl­kampfförderliche Image der konfliktfrei­en Großfamilie über allen sportlichen Zielen steht. Vor allem sollte man aber meinen, dass der wegen des sportlichen Niedergangs unter starkem Druck stehende Adriano Galliani kein Interesse daran hat, weitere Konflikte zu schüren. Vor diesem Hintergrund ist Gallianis Halbsatz eine veritable Bombe, die er hat platzen lassen – eine Kriegserklärung.
Man weiß von Galliani, dass er sich nur noch unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegt, weil einige Ultrà-Gruppierungen etwas dagegen haben, dass der AC Milan ihnen den lukrativen Eintrittskartenmarkt entzogen hat. Auch eine Rolle spielt, dass Galliani als seinerzeitiger Lega-Chef das Decreto Amato entscheidend mitgetragen hat – das Gesetz, das Megafone, Trommeln und Pyrotechnik aus den italienischen Fankurven verbannt hat. Ein Aufschrei ging durch die Fanszene angesichts der scheinbar willkürlichen und offenbar ungerechten Repressalien gegen die treuesten der treuen Fußballfans, denen ganz offensichtlich aus reiner Bösartigkeit alle Instrumente entzogen wurden, ihre Leidenschaft auszuleben. Vorbei die Zeiten der leuchtenden und rauchenden Curva, des streng koordinierten Gesangs einer 10 000er-Meute.
Jedoch wurde Adriano Galliani, von Berlusconi-Medien weitgehend ignoriert, am 19. Dezember 2008 in einem kleinen Restaurant im Mailänder Nobelviertel Brera bei einer Weihnachtsfeier in trauter Eintracht mit eben jenen Ultràs gesehen, deren Drohungen ihm Leibwächter auf Staatskosten einbrachten, die natürlich auch präsent waren auf der Feier. Ein Fest also von Erpressern, Erpresstem und Schutzengeln beim gemeinsamen Liedersingen. Mit dabei Giancarlo »il Barone« Capelli, charismatischer Anführer der Mailänder Südkurve, seinerzeit gern gesehen im VIP-Bereich des San-Siro-Stadions oder im Mannschaftsflieger auf der Reise nach Übersee. Mittlerweile ist er in Ungnade gefallen, er durfte bereits für wenige Wochen Gefängnisluft schnuppern und seit Jahren nicht mehr ins San Siro, aber es ist ja Weihnachten, und was zählt, sind die Farben. Und der »Barone« war ja nicht allein, so illustre Persönlichkeiten wie Giancarlo »Sandokan« Lombardi, Chef der »Guerrieri Ultràs«, war ebenfalls einer der bereits 2007 Festgenommenen. Im Mai 2007 schrieb Il Giornale »von Aggressionen gegen rivalisierende Fangruppen bis hin zu Drohungen gegen den Verein in der Via Turati. Und sieben ›Guerrieri‹ wurden festgenommen unter der Anklage der Bildung einer kriminellen Vereinigung, versuchten Erpressung, des Widerstands gegen die Staatsgewalt und Werfens von Objekten während einer Sportveranstaltung. Während der vergangenen Wochen eine letzte Drohung gegen den Verein. Eintrittskarten für das Champions-League-Finale am heutigen Abend, ›oder wir werden nicht in der Lage sein, die Jungs ruhig zu halten‹.«
Unter anderem wird den angeklagten Ultrà-Capos das Werfen von Pyrotechnik bei Milan-Spielen angelastet. Hintergrund der kühl kal­kulierten Aktionen war es, den AC Milan mit der Drohung, Platzsperren und empfindliche Geldstrafen zu provozieren, an den »Verhandlungstisch« zu zwingen. Reine Erpressung. Ermittlungsrichterin Federica Centonze äußert sich im Rahmen der Verhängung von Untersuchungshaft so: »Die Gründung der ›Guerrieri Ultràs‹ dient keinem anderen Zweck als der Etablierung einer Vorherrschaft unter Begehung auch schwerer Straftaten, zum Beispiel die Verletzung von Leonardo Avignano (der durch Pistolenschüsse am 16. Oktober 2006 schwer verletzte Milan-Fan, K.T.), das Aufbrechen von Einlasstoren, die Erpressung zum Zweck der Mittelbeschaffung für die weiteren Geschäfte rund um das Stadion, (…) den Handel mit vom AC Milan überlassenen Eintrittskarten (…) für nennenswerte Einnahmen seitens der organisierten Gruppierungen.«
So zum Beispiel beim Champions-League-Endspiel 2007 gegen Liverpool. Am 10. Mai sprachen »Sandokan« und der »Barone« in der Via Turati vor und fragten höflich nach Tickets. Sie redeten mit dem Verantwortlichen für »Book­ing« des Vereins und dem Vorsitzenden der »Milan Entertainment«-Gruppe. Der Verein spielte auf Zeit. Die beiden forderten ein Treffen mit Vereinseigner Berlusconi. »Wir sind in der Lage, das Auftreten der gesamten Ultrà-Tifoserie der Curva zu beeinflussen, gegen wen auch immer.« Vom 14. bis 17. Mai erreichten E-Mails mit Drohungen die Via Turati. Man kennt sich. Die Verantwortlichen am Vereinssitz stehen in regem Telefonkontakt mit den Guerrieri über Fragen des kostenfreien Kartenvorverkaufs. »Aus diesen Tickets kommen die Gelder, die wir brauchen, um sagen wir (…) die zurückzubezah­len, die sich darum kümmern, dass die Kurve immer voll ist … Signora, die Rauchbomben können abgeschafft werden, hängt alles von euch ab, ich hab’s denen gesagt. Wir haben ­absolut kein Problem damit, auf Rauchbomben zu verzichten, hängt von euch ab! Ich habe gesagt, fürs erste bleiben wir ruhig«, zitierte 2007 La Repubblica aus dem Mitschnitt eines Telefonats zwischen dem Ultrà Claudio Tieri und der Stadion-Managerin des AC Milan Dani­ele Gozzi.
In diesem Frühjahr stehen die sieben Guerri­eri vor Gericht. Am 19. Dezember (nur fünf Tage, nachdem etwa 50 Ultràs die Studios des Berlusconi-Senders Mediaset gestürmt hatten, um live gegen die »Situation auf dem Ticketmarkt« zu protestieren) feierte man also fröhlich Weihnachten, nun bestätigt Galliani, dass die personalisierte »Carta del Tifoso« nur eingeführt wurde, um den Ultràs die Einnahmequelle zu nehmen. Eine Einnahmequelle, die nach übereinstimmenden Schätzungen bis Mai 2007 in der Curva für Umsätze von ca. zwei Millionen Euro jährlich sorgte. Richtig viel Geld also.
Immer an vorderster Front die Guerrieri Ultràs, die nach der dubiosen Selbstauflösung der ältesten und stärksten Ultrà-Vereinigung »Fossa dei Leoni« 2005 und der mit Waffengewalt forcierten Marginalisierung der »Commandos Tigre« die Mailänder Südkurve fast ungehindert beherrschen. Lombardis »Krieger« hatten endgültig die Macht übernommen, die Curva Sud wurde ein von staatlicher Kontrolle und konkurrierenden Gruppierungen weitgehend befreites Spielfeld für allerlei bestenfalls semilegale Aktivitäten mit Verbindungen zu organisiertem Verbrechen und Drogenhandel. Und die »Krieger« sind vernetzt mit Ultrà-Organisationen auch eigentlich rivalisierender Vereine wie ­Juventus Turin oder Inter Mailand.
Irgendetwas hat Galliani bei der Weihnachtsfeier am 19. Dezember jedenfalls gründlich falsch verstanden. Es geht um Geld. Es geht mit Sicherheit nicht um irgendwelche Vergünstigungen für das arme Fußvolk der Curva oder Unterstützung bei den bunten Choreografien, es geht nicht um die Wiederzulassung von Trommeln und Megafonen, es geht nicht um die überbordende Polizeigewalt gegen Ultràs, es geht nicht um diejenigen, die 24 Stunden am Tag für ihren Verein leben. Weiter oben in der Kurve geht es um ökonomische Interessen. So verwundert es auch nicht, dass Giancarlo Capelli (Curva Sud, AC Milan) und Franco Caravita (Curva Nord, Inter) gemeinsam ein Bekleidungsgeschäft in Mailand besitzen. Der Name: »Calci e Pugni« – Tritte und Schläge. Einen selbstbewussten Sinn für Humor kann man den Jungs nicht absprechen.