Amoklauf, Gewalt und Geschlechterrollen

Alphamännchen werden

Die grausame Tat des Tim K. in Winnenden war Ausdruck des Zwangs, seiner Geschlechterrolle gerecht zu werden.

Die 17jährige Tina K. zieht an einem Mittwochmorgen los und erschießt in ihrer ehemaligen Schule zwölf Menschen gezielt mit Kopfschüssen, elf davon sind Jungs. Im Anschluss an das Blutbad begeht sie Selbstmord. Das Schießen hat sie von ihrer Mutter gelernt, in deren häuslichem Waffenar­senal sich 15 Schusswaffen und 4 600 Pa­tronen fanden. Tina galt als unscheinbares, nettes Mädchen, war jedoch unter ihren Mitschü­lerinnen und Mitschülern als Loserin ausgemacht. Sie konsumierte täglich Killerspiele und Pornos.
Beim Trauergottesdienst für die Opfer sagt Horst Köhler, dass die Welt nie mehr so sein wird, wie sie war. Das Geschehene scheint so unerklärlich, dass von »Naturereignis« und »Heimsuchung« die Rede ist. Der baden-württembergische Kultus­minister Helmut Rau sieht in dem Amoklauf eine Manifestation des Bösen, und der Spiegel titelt: »Wenn Kinder zu Killern werden.«
Während Horst Köhler noch von einem Naturereignis spricht, sind sich die Medien längst darüber einig, dass das Mädchen eine Männerhasserin gewesen sei. Ihr Vater ein Schläger. Ihre Mutter eine frustrierte Emanze. Eine Verrückte, die Tonnen von Waffen und Munition hortet. Das Verbot von Computerspielen und die Verschärfung der Waffengesetze werden zweitrangig diskutiert.

Im realen Fall von Tim K. verhält es sich anders. Die Tatsache, dass er elf Mädchen erschoss, spielt eine untergeordnete Rolle. Dass über 90 Prozent aller Amokläufer männliche Jugendliche sind, ebenso. Versuche, dies zu erklären, enden meist mit einem Achselzucken: Das liege am hohen Testosteronspiegel der Männer. Gegen die Natur könne man eben nichts machen.
In den wenigen Betrachtungen, die soziologische Gründe mit einbeziehen, heißt es meist, Jungen bekämen in der Schule und zu Hause zu wenig Aufmerksamkeit und es mangele ihnen an männlichen Vorbildern. Ihre Verzweiflung sei daher wesentlich größer als die der Mädchen.
Dass diese Aussage nicht zutrifft, zeigt eine genauere Analyse der Suizidstatistik von Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren. Vordergründig scheint sie den höheren Grad der Verzweiflung bei Jungen zu bestätigen. 454 Jungen und 112 Mäd­chen nahmen sich, dem Statistischen Bundesamt zufolge, im Jahr 2006 das Leben. Die höhere Zahl der Suizidtoten bei Jungen liegt daran, dass diese sich eher erschießen, erhängen oder ersticken. Mädchen greifen zu »weichen« Methoden wie Vergiftung durch Tabletten, weshalb sie öfter überleben. Suizidversuche sind bei Mädchen hingegen wesentlich häufiger als bei Jungen. Somit wären die Mädchen die Verzweifelteren.
Das Geschehen in Winnenden kann als eine Form des Suizids gelesen werden, eine, die wegen ihres dramatischen Ausmaßes nicht zu übersehen ist. Zwei Dinge lehrt uns Tim K.: erstens, dass es eine allgemeine Blindheit gegen­über dem sprunghaften Anstieg der Depressions- und Suizidrate während der Adoleszenz gibt. Und zweitens, dass extreme Verkörperungen von Männlich­keit alltäglich und für bestimmte männliche Jugendliche in Situationen der Verzweiflung noch immer sehr attraktiv sind.
In der Adoleszenz sind Jugendliche mit einer Viel­zahl von Entwicklungsaufgaben konfrontiert: Sie müssen körperliche Veränderungen bewältigen, ih­re Identität finden, sich von der Familie lö­sen, einen Freundeskreis aufbauen und die schulischen Anforderungen erfüllen. Geschlechterrollen, das heißt die Vorstellungen davon, wie Männer bezie­hungsweise Frauen sich zu verhalten und zu sein haben, finden sich in all diesen Bereichen wieder.

Wie stark der Zwang sein kann, sich in eine dieser komplementären Kategorien einzufügen, zeigt sich beispielsweise daran, dass homosexuelle Jugendliche zwei bis drei Mal häufiger versuchen, sich umzubringen. Sie passen einfach nicht in die Norm. Ähnlich geht es Jungs, die Angst haben, als Mädchen beschimpft zu werden, wenn sie sich nicht trauen vom Baum zu springen. Oder Mädchen, die das Bedürfnis haben, sich vor Männerblicken auf Busen und Po zu verstecken.
Ob nun Jungen oder Mädchen mehr an den auf­erlegten Rollenerwartungen während der Adoles­zenz zu leiden haben, sei hier nicht ausschlaggebend. Die Tatsache, dass Kinder in Kategorien gepresst werden, die einander ausschließen, ist an sich gewaltsam. Überall begegnet ihnen Geschlecht als Entweder – oder. Wer es nicht schafft sich einzufügen, wird ausgeschlossen, findet sich bei den Nicht-Gesehenen und Überhörten wie­der. Jungen brauchen folglich keine zusätzliche Dosis männliche Identität und Mädchen keine weibliche. Was sie benötigen, ist eine Gesellschaft, die nicht schon bei Babys nicht zuordenbare Geschlechtsorgane operativ verändert und keine strikten Vorstellungen davon vermittelt, wie Män­ner und Frauen zu sein haben.
Dass bestimmte Bilder von Männlichkeit, trotz »neuer Männer« und fürsorglicher Elternzeit-Väter, noch immer attraktiv sind, belegt einmal mehr das Massaker von Winnenden. Gerade in Krisenzeiten scheinen sie Halt zu geben und Sicherheit zu versprechen. Für Tim K. bedeutete Sicherheit in einer unsicheren Zeit die Inszenierung als Krieger: berechnend und kühl. Nicht nur in Computerspielen begegnen uns die starken Krieger, auch bei der Polizei und dem Militär, bei denjenigen also, die für Sicherheit sorgen sol­len, treffen wir sie an.
Dieses Bild stand und steht nach wie vor für Macht und für Handlungsfähigkeit in einer Phase der Krise und Verzweiflung. Dass niemand in der näheren Umgebung von Tim K. seinen Zustand wahrnahm und Mitschülerinnen und Mitschüler ihn als unauffällig beschrieben, liegt nicht zuletzt daran, dass das Eingeständnis von Hilflosigkeit und Ohnmacht dem Stereotyp von Männlichkeit widerspricht. Tim K. konnte folglich nicht über seine Probleme sprechen, ohne den Verlust seiner männlichen Identität fürchten zu müssen. Suizid wird häufig zur letzten Möglichkeit, den Selbst­wert zu retten. Bei Männern müsse der Suizidversuch, Psychologinnen zufolge, tödlich enden, um nicht bloß als Hilferuf und somit als schwach interpretiert werden zu können.

Nicht mit einem Schrei der Verzweiflung, sondern mit einem Kriegsschrei verabschiedete sich Tim K. Die Art, wie er seinen Abschied von der Welt zelebrierte, steht dabei für die gesellschaftliche Ent­wick­lungsaufgabe, ein Alphamännchen zu wer­den. Von ihm wurde erwartet, es bis ganz nach oben zu schaffen. Genau dieses Bild wollte er retten.
Im Amoklauf von Winnenden manifestierte sich nicht das Böse, das über die Gesellschaft wie ein Naturereignis hinwegfegte. Das Morden in der Albertville-Realschule und die Reaktionen da­rauf offenbaren eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, sich mit der alltäglichen Gewalt von Rollenbildern, speziell Geschlechterrollen, auseinanderzusetzen. Tim K. steht für viele verzweifelte Jugendliche. Dass sein Selbstmord nicht lediglich die Suizidstatistik unbemerkt um eins erhöhte, liegt an der Grausamkeit seiner Tat. Er war ein Produkt dieser Gesellschaft und repräsen­tierte in diesem Sinne einen Teil der Normalität. Wären über 90 Prozent derer, die Amok laufen, Mädchen, würden wir das wohl so benennen und den Amoklauf zu einem vergeschlechtlichten Problem machen. Würden überwiegend mi­gran­tische Jugendliche Amok laufen, stünden Integrations- oder, wahrscheinlicher, Migrationsthematiken im Mittelpunkt der Debatte. Die Amok­läufer der vergangenen Jahre waren aber weiße, deutsche, männliche Jugendliche. Das trifft eine patriarchale Gesellschaft mitten ins Herz.