Die Aktionen der Gipfelgegner

Camping im Kessel

Im Londoner Bankenviertel demonstrierten die Kapitalismuskritiker, in den öden Docklands trafen sich die G 20. Die Arbeiter von Visteon, die ihre bankrotte Fabrik am Rande Londons besetzt halten, kümmert das kaum.

Treffpunkt ist Ecke Commercial Street und Wentworth in Bethnal Green um Punkt Zwölf, »German time«, wie am Vorabend jemand gesagt hatte. Also pünktlich. Um 12.15 Uhr ist zwar eine Gruppe bunt bemalter Protestclowns an der Straßenkreuzung angelangt. Doch von der Bezugsgruppe, der affinity group, mit der ich hier eigentlich verabredet bin, ist noch keiner da. Aber überall im Viertel sind kleine Gruppen mit Camping-Ausrüstung und großen Rucksäcken zu ­sehen. Ihr Ziel ist es, mit einem swoop, einem zeitlich koordinierten Treffen vieler Kleingruppen, ein Protest-Camp mitten in der Stadt zu errichten. Um Punkt 12.30 Uhr sollen alle Kleingruppen vor dem Büro der europäischen Emissionshandelsbörse »zusammenkommen«. Das soll es der Polizei unmöglich machen, die Demons­tranten einzukesseln.
An der Liverpool Street Station, mitten im Finanzzentrum der Stadt, steht eine Gruppe von vielleicht 500 Protestierern bereits im Kessel. Sie sollte den »grünen Reiter der Apokalypse« bilden, einen der vier Sternzüge, die sich auf den Weg zur englischen Nationalbank machen wollten, um dort den meltdown des Kapitalismus zu feiern. Aber als der Sternzug loslegte, stellte sich auf der Straße ein Bus der Polizei quer, Polizisten versperrten die Durchgänge, ein anderer Polizei­trupp kam von hinten, in fünf Minuten war die Demonstration eingekesselt.

Schließlich kommt auch meine affinity group zusammen, und wir setzen uns in Bewegung Richtung Emissionsbörse. Unterwegs stoßen wir auf immer mehr Protestierende. Hier ist weit und breit keine Polizei zu sehen. Die angespannte Stim­mung löst sich zusehends. Als wir Bishopsgate um 12.30 Uhr erreichen, kommen dort Tausende zusammen. Die Polizei tritt den Rückzug an und muss sogar ihre Fahrzeuge zurücklassen. Überall werden Zelte aufgestellt, eine Gruppe von Fahrradfahrern schließt ihre Räder zwischen Ampeln als Barrikade zusammen.
Nur 500 Meter entfernt sind indes rund 4 000 Teilnehmer der »Meltdown«-Demonstration vor der Bank of England zusammengekommen. Anders als im Klimacamp ist die Festival-Stimmung hier bald vorüber. Im Gerangel zwischen Polizei und Demonstranten beginnen einige, die Scheiben der Zentrale der Bank of Scotland einzuwerfen. Sofort ist ein Heer von Journalisten zur Stel­le und filmt, wie rund 20 Leute in die Bank eindringen und Computer und Büroeinrichtung aus den Fenstern werfen. Nach 15 Minuten bringt die Polizei die Situation mit Pferde- und Hundestaffeln unter Kontrolle. Im Vergleich zu den Geschehnissen in Athen diesen Winter ist die Aktion höchstens ein Aprilscherz, aber am nächsten Morgen beherrscht sie dennoch die Schlagzeilen.

In den Straßen rund um die Hauptschauplätze der Proteste kommt es indes zu ungewöhnlichen Begegnungen. In einem Pub treffen Protestierende auf Banker, denen die Polizei geraten hatte, heute besser keine Anzüge zu tragen. »Eng­land vereint im Pub«, scherzt ein Demonstrant, während sich Gespräche entwickeln. »Jeder hat das Recht zu demonstrieren«, sagen die Banker, und sie seien auch gegen Gordon Brown. Ein Demonstrant erklärt, dass er kein Problem mit In­dividuen habe, sondern eines mit dem System. »We are all working class.« Man stößt an. Doch dann kommt plötzlich eine Gruppe vom schwarzen Block am Pub vorbei und ruft: »Banker-wanker«. Die Banker gehen sofort in die Offensive, und nur die Polizei, die sich zwischen Banker und Demonstranten stellt, verhindert eine Schlägerei. Abends sind die Protestierenden im Rückzug begriffen. Das Klima-Camp wird mit einem Polizeieinsatz geräumt, die Demonstranten werden von Bishopsgate bis nach Hackney mit Hunde­staffeln regelrecht durch die Straßen gejagt.

Am nächsten Morgen beginnt im Excelzentrum in den Londoner Docklands der G 20-Gipfel. Die Journalisten werden in Spezialbussen zum Gipfel transportiert. Ein starkes Polizeiaufgebot sichert die unwirtliche Umgebung der Docklands. »Wir müssen in dieses Wasteland kommen, nur weil sie Angst vor ein paar Demonstranten haben«, beschwert sich ein amerikanischer Journalist im Bus. Vier Mal werden unsere Personalien geprüft, bevor wir ins Pressezen­trum gelangen. Dort sind 2 500 Journalisten zusammengekommen, um über den Gipfel zu berichten. In der Halle liegen Hochglanzbroschüren aus, die die Grundlagen des Gipfels und der Krise erklären sollen, Statistiken über die Immobilienpreise in den USA und Rezessionsprognosen des Internationalen Währungsfonds.
Plötzliche Aufregung am Tisch der französischen Journalisten deutet an, dass Unterhändler ins Pressezentrum gekommen sind. Sofort bildet sich eine Traube von Journalisten um die beiden Mitarbeiter der französischen Delegation. »Wie steht es um die Liste?« Die Franzosen wollen, dass die G 20 eine schwarze Liste der globalen Steuerparadiese veröffentlichen. Doch bereits vorher hatten die Chinesen interveniert, vor allem zugunsten der Steueroase Hongkong. Der französische Unterhändler gibt zu verstehen, dass es mit der Liste Probleme gibt. »Man muss abwarten, was die Chefs aushandeln«, weicht er weiteren Fragen aus. »Was kannst du uns überhaupt sagen?« ruft ein Journalist. Die Franzosen lachen. Pikanterweise ist der Tisch mit den chinesischen Journalisten direkt neben dem der Franzosen.
Am frühen Nachmittag mehren sich die Auftritte von Prominenten im Pressezentrum. Der britische Finanzminister Alistair Darling gibt Fern­sehinterviews und spricht von »wichtigen Fortschritten«. Auch ein leicht entnervt wirkender Bob Geldof springt im Pressezentrum herum. »Ist der Kapitalismus noch zu retten?« frage ich ihn. Er schaut mich verwirrt an. »Welthandel hilft Menschen aus der Armut. Wir müssen die Hilfe für die Dritte Welt neu definieren, als globales Konjunkturprogramm«, sagt er.
Schließlich kommt es zum Höhepunkt des Tages. Gordon Brown tritt vor die Presse. Er wirkt sichtlich erleichtert. Er hat einen Deal ausgehandelt, und die G 20 als neue Institution etabliert. Doch der eigentliche Held ist Obama. In seiner Pressekonferenz kann man eine Nadel fallen hören, so leise ist es. Obama unterstreicht die Bedeutung des Multilateralismus. Es sei seine Aufgabe als US-Präsident, den Amerikanern zu erklären, dass die Sicherheit ihrer Jobs eine globale An­gelegenheit sei. Und als ihn eine indische Journalistin nach seiner Anti-Terror-Politik fragt, antwortet er, der Terrorismus sei »ein sehr wichtiges Problem«, aber es gebe »auch andere Probleme«, zum Beispiel die Klimakatastrophe. Die amerikanische Journalistin neben mir lächelt. »Wir sind sehr froh über ihn.«
Während die Delegationen am nächsten Morgen abreisen, fahre ich an den nördlichen Stadtrand von London, nach Enfield. Hier haben 70 Arbeiter die Fabrik der Firma Visteon besetzt. Visteon produzierte Autoteile für Ford, jetzt ist die Firma bankrott. Vor einigen Jahren wurde sie aus dem Fordkonzern herausgelöst. Damals garantierte man den Arbeitern die gleichen Pensionsrechte wie den Mitarbeitern von Ford. Nun will Visteon ihnen nicht mal Entlassungsgeld zahlen. Phil Welson, einer der Arbeiter am Zaun der Fabrik, sagt mir, er sei Realist. Er wolle nicht erzwingen, dass die Fabrik weiterproduziere, wenn es keine Arbeit gibt. Aber er verlange, dass die Firma die Verträge einhalte.Was er vom G 20-Gipfel hält, frage ich ihn. »Das sind alles nur Worte. Wir wollen Taten sehen.«