Die Proteste in London

Die große Konfusion

Die Heterogenität der globalisierungskritischen Bewegung, die bislang als ihre Stärke betrachtet wurde, hat sich in London als ihre Schwäche herausgestellt.

»Die G20-Proteste in London sind ein großer Erfolg«, hieß es am 2. April auf der Website von Attac Deutschland. »Insgesamt übersteigt die Zahl der Teilnehmer an den G20-Gegenaktivitäten in der britischen Hauptstadt mit rund 10 000 die Erwartungen der Organisatoren.« Was war das? Ein verspäteter Aprilscherz? Schließlich sollten die Londoner Proteste das einläuten, was die britische Polizei präventiv-paranoid als »Summer of rage« bezeichnet hatte.
Aber davon waren sie weit entfernt. Und das lag nicht nur an der geringen Beteiligung. In Genua 2001, das der mythologisierte Höhepunkt der glo­balisierungskritischen Bewegung ist, waren es Hunderttausende, und es gab heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Aber da hatten sich auch alle, die mit der Berlusconi-Regierung ein Hühnchen zu rupfen hatten – das war der gemeinsame Nenner der Proteste –, auf der Straße getroffen. In London hingegen: einige von Anarchisten unter großer medialer Anteilnahme zerdepperte Fenster bei der Royal Bank of Scotland, einige Rangeleien vor der Bank of England, ein von den Cops ruppig geräumtes Klimacamp. Wie der Economist dazu kommt, unter dem Titel »The rich under attack« von einem »Riot in London« zu fabulieren, bleibt sein Geheimnis.
Die geringe Mobilisierungsfähigkeit des Anti-G20-Bündnisses hat inhaltliche Gründe. Fast schien es, als hätten sich die Organisatoren an dem alten Spruch orientieren wollen: »Getretner Quark wird breit, nicht stark.« Denn einerseits hinken sie der gesellschaftlichen Krisendynamik meilenweit hinterher. Die Fokussierung der Proteste auf die Banken ist offensichtlich dumm, wenn sich bereits große Teile der Wirtschaft im freien Fall befinden. Und sie läuft Gefahr, in das altbekannte Schema vom bösen Finanzkapital hie, gu­tem Industriekapital da zu verfallen. Andererseits sind die offen reaktionären Ansichten von einem Teil der Organisatoren offensichtlich. Doch wenn die britische Stop the War Coalition mit Mahathir Muhammad einen Ideologen der jüdischen Weltverschwörung (s. Seite 15) und mit Daud Abdullah einen Islamisten zu ihrer Londoner Kundgebung einlädt, ist das den anderen Organisatoren nicht der Rede wert. Hauptsache, es gibt im Rahmen der Gipfelproteste eine hübsche Demonstration mit dem Slogan »Free, free Palestine«, organisiert von der famosen britischen Palästina-Solidarität, die sich als eine Hamas-Unterstützungstruppe entpuppt hat. Das hat zuletzt, im März, die Übergabe der Spenden für Gaza durch George Galloway an Ismail Haniyeh von der Hamas bewiesen, am Ende des großartigen »Viva Palestine«-Konvois.
Die politische Frage, die sich den Bewegungspolitikern stellen müsste, ist folgende: Wie lässt sich das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Emanzipation und die Zusammenarbeit mit der kompletten Reaktion in Gestalt von Islamisten vermitteln? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Deshalb ist die Frage für die Bewegungspolitiker tabu. Denn sie stellt sofort ein Grundprinzip der Bewegung in Frage: die politische »Heterogenität«, die bislang als Stärke betrachtet wurde, sich in London aber nicht als mobilisierungsfähig erwies.
Sind die politischen Ziele nicht diskutierbar, wird über die Mittel des Protests gestritten. Alles kreist dann um die berüchtigte Gewaltfrage. Haben die Medien die Proteste in London nicht als zu gewalttätig dargestellt? Sind polizeiliche Provokateure für die kaputten Fensterscheiben verantwortlich?
Dann wird es endgültig öde. Höchste Zeit also, nach Belfast statt nach London zu blicken. Dort ist seit einigen Tagen eine Fabrik besetzt.