Die Vorwürfe gegen die israelische Armee

Erst der Krieg, dann die Moral

Während der israelischen Offensive im Gaza-Streifen seien Kriegsverbrechen begangen worden, behaupteten israelische Soldaten. Ihre Aussagen über das Verhalten der IDF sind bislang nicht bewiesen, das Urteil der Öffentlichkeit steht jedoch bereits fest.

Die Aussagen von israelischen Soldaten über die gezielte Tötung mehrerer palästinensischer Zivilisten lösten Ende März weltweit einen Aufschrei der Empörung aus. Die Soldaten berichteten, sie seien von ihren Vorgesetzten zu den Angriffen aufgefordert worden, zudem hätten sie bewusst und ohne Anlass palästinensisches Eigentum zerstören müssen. Das wurde vor einigen Wochen bei einer Tagung in der Rabin-Militärakademie in Oranim bekannt, das Protokoll der Sitzung wurde von der linksliberalen Tageszeitung Haaretz veröffentlicht.

Vor allem zwei Geschichten gingen in den vergangenen Wochen um die Welt. In einer geht es um die angeblich absichtliche Tötung einer alten palästinensischen Frau. Die Soldaten berichteten, sie hätten vom Geheimdienst Hinweise erhalten, dass sich ihnen eine alte Frau nähern werde mit der Absicht, sich mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft zu sprengen. Die Soldaten hätten zuerst Warnschüsse abgegeben, die Frau habe trotzdem nicht angehalten und sei anschließend erschossen worden. An ihrer Leiche sei jedoch kein Spreng­stoff entdeckt worden. In einem anderen Fall geht es um eine Mutter mit ihren zwei Kindern, die erschossen worden seien, weil sie sich unerlaubterweise in einem Sperrgebiet aufgehalten hätten.
Die Aussagen der Soldaten wurden schnell als die »Spitze eines Eisbergs« bezeichnet. Die Armee habe »ihren Krieg gegen bewaffnete Terroristen geführt, während eine anderthalb Millionen zählende Zivilbevölkerung zwischen den Fronten stand«, kommentierte die Haaretz die Aussagen der Soldaten. Ihre Reporter sammelten fleißig weitere Indizien für die angeblichen Kriegsverbrechen der IDF. Als Beweis galten ihnen beispielsweise gedruckte T-Shirts – angeblich von Soldaten –, auf denen Sprüche gedruckt sind, die zum Mord an Palästinensern aufrufen, oder angeblich von Rabbinern verbreitete Schriften, die dazu aufrufen, Araber zu ermorden, und schließlich eine Sammlung von Graffiti, die israelische Soldaten in palästinensischen Häusern in Gaza hinterlassen haben sollen.
Der Oberstaatsanwalt der israelischen Armee beauftragte Ende März eine sofortige Untersuchung zu den Aussagen der Soldaten, bereits nach wenigen Tagen wurde die Akte jedoch wieder geschlossen. Es stellte sich heraus, dass die Soldaten keine Augenzeugen gewesen waren. Sie hatten lediglich Gerüchte wiedergegeben.
Vor allem die israelische Linke bemüht sich weiterhin darum, die Untaten der israelischen Soldaten aufzuspüren und zu veröffentlichen. »Oh Wunder, oh Wunder. Die Armee ordnete eine Untersuchung an und entdeckte, die moralischste Armee der Welt zu sein«, schrieb der Friedensaktivist Uri Avnery und prophezeite bereits weitere Gräueltaten im »Gaza-Krieg II«, den Lieberman, Netanjahu und Barak angeblich planten.
Die palästinensische Seite nutzt ihrerseits jede Gelegenheit, jedes nicht bewiesene Gerücht für ihre Propaganda zu nutzen. Auf ihrer Seite stehen so genannte Friedensaktivisten und internationale Organisationen, wie etwa das Flüchtlingswerk der Uno dafür Palästinenser (UNRWA). Besonders eklatant war während der Offensive das Bombardement einer Schule der UNRWA in Gaza Anfang Januar, bei dem nach Angaben der Uno 44 Zivilisten ums Leben kamen. Erst zwei Wochen später gestand der Sprecher des UNRWA in Gaza, dass es kein absichtliches Bombardement gegeben habe.
Jetzt will die Uno eine »unabhängige« Untersuchungskommission nach Gaza schicken. Noch liegt im israelischen Außenministerium kein Beschluss vor, ob die Kommission überhaupt einreisen darf. Der Sprecher des Außenministeriums sagte, dass diese Untersuchung nicht die Wahrheit herausfinden wolle, sondern eine Farce sei, da Israel wegen vermeintlicher Kriegsverbrechen längst von der Uno vorverurteilt worden sei. Chef der Delegation soll ein jüdischer Richter aus Südafrika sein, Richard Goldstone. Während dieser glaubt, unvoreingenommen »alle Verstöße gegen Menschenrechte« aufdecken zu können, machten andere Delegationsmitglieder Äußerungen, die für Israel nichts Gutes verheißen. Das Mandat der Untersuchung sei es, sich auf die palästinensischen Opfer zu konzentrieren. Der Präsident des UN-Menschenrechtsrats, Martin Uhomoibhi, erklärte, dass die »Verhältnismäßigkeit« der israel­ischen Reaktion auf die Raketenangriffe der Hamas geprüft werden solle. Da es jedoch in der Natur des »asymmetrischen« Krieges zwischen einem Staat und einer Organisation wie der Hamas liegt, dass sich zwei Parteien mit unterschiedlichen militärischen Kräften und ideologischen Absichten messen, dürfte bei der Frage der Angemessenheit das Ergebnis längst feststehen.

Die Mehrheit der Israelis scheint sich für die Kritik an der IDF und für den Zustand der Palästinenser im Gaza-Streifen derzeit nur noch geringfügig zu interessieren. Dazu beigetragen haben nicht nur die Parlamentswahlen und die neue Regierung. Das Schicksal des im Gaza-Streifen entführten Soldaten Gilad Shalit und der bislang erfolglose Versuch der Hamas, Israel damit zu erpressen, erzeugen mehr Emotionen, als die bislang nicht nachgewiesenen Gerüchte über angebliche israelische Kriegsverbrechen.
Die Vorwürfe gegen die israelische Armee sind nicht neu. Auch während des ersten Libanon­Krieges ab 1982 und während der ersten und zweiten Intifada gab es immer wieder Fälle, in denen Soldaten oder Grenzschützern Mord und Vergehen wie Plünderung und Diebstahl nachgewiesen werden konnte. Diese Soldaten wurden verurteilt und mussten Gefängnisstrafen absitzen. Meistens waren es Soldaten oder israelische Fotografen und Kameraleute, die das Beweismaterial für eine Anklage lieferten. Andererseits waren es in vielen Fällen ausgerechnet die Opfer, also die Palästinenser, die eine strafrechtliche Verfolgung mutmaßlicher israelischer Kriegsverbrecher mangels Kooperation mit den israelischen Behörden unmöglich machten. Der berühmteste Fall dürfte der gefilmte Tod des zwölfjährigen Muhammad al-Dura an der Netzarim-Kreuzung im Gaza-Streifen im Jahr 2002 sein. Der Fernsehsender France 2 strahlte die erschütternden Bilder aus, die damals durch die Welt gingen. Al-Dura wurde zur Ikone der Intifada und zum »Beweis« für die Brutalität der Israelis. Für die Palästinenser stand fest, dass israelische Scharfschützen den Jungen erschossen hatten. Deshalb verzichteten sie auf eine Obduktion der Leiche.
Längst muss bezweifelt werden, ob es tatsächlich israelische Soldaten waren, die auf al-Dura schossen. Erst kürzlich lieferte die Reporterin des Hessischen Rundfunks Esther Schapira neue Hinweise, dass die israelischen Soldaten al-Dura gar nicht hätten treffen können, und dass der Junge möglicherweise gar nicht tödlich getroffen worden ist.
Vermutlich wird die volle Wahrheit nie ans Licht kommen. Die Palästinenser und ihre kämpfenden Organisationen können sich allerdings glücklich preisen, keinen Staat zu besitzen und deshalb offensichtlich nicht an geltendes Kriegsrecht gebunden zu sein. Die Uno kann (und will) sie nicht verurteilen, und kein internationaler Gerichtshof käme auf die Idee, mutmaßlich palästinensische Kriegsverbrecher vorzuladen.