Die Ergebnisse des G20-Gipfels

Machen sollen die anderen

Die deutsche Regierung hofft, dass die Exportnation Deutschland von den Konjunkturmaßnahmen anderer Staaten profitiert. Die amerikanische Regierung hofft, dass die Wirtschaft dank der enormen Stimuli bald wieder anspringt. Und auf beiden Seiten des Atlantiks hoffen die Bürger auf den Staat.

Am Ende reichten nur noch Superlative, um das Ereignis zu beschreiben. Es sei ein »sehr, sehr guter, fast historischer Gipfel«, meinte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der bri­tische Premierminister Gordon Brown sprach vom »Tag, an dem die Welt zusammengekommen ist, um die Rezession zurückzuschlagen«. Einen »Wendepunkt in der Wirtschaftskrise« glaubte US-Präsident Barack Obama entdeckt zu haben. Wie das lang ersehnte Happy End in einem düsteren Hollywood-Streifen wirkten die abschließenden Presseerklärungen auf dem Gipfeltreffen der 20 führenden Industrienationen vergangene Woche. Erleichterung war in London zu spüren – schließlich hatten die skeptischen Stimmen, die ein Scheitern des Treffens prophezeiten, zuvor deutlich überwogen.
Vor dem Treffen war tatsächlich eher ein Drama als ein hoffnungsvoller Neubeginn zu erwarten gewesen. Die Welt ächzt unter dem größten Wirtschaftseinbruch seit über sieben Jahrzehnten, doch die wichtigsten Industrienationen – allen voran Deutschland und die USA – streiten über die richtige Antwort auf die epochale Krise. Während es für Obama offenbar auf ein paar Nullen mehr oder weniger bei seinen Konjunkturprogrammen nicht mehr ankommt, verteidigt Bundeskanzlerin Merkel unnachgiebig die Stabilität des Geldes. US-Keynesianer gegen deutsche Mone­taristen.

Bislang hat die US-Regierung weit über eine Billion US-Dollar ausgegeben, um die Konjunktur zu stützen. Mittlerweile beläuft sich das US-Haushaltsdefizit auf rund zwölf Billionen Dollar, während sich die Sparquote in den Vereinigten Staaten nahezu bei Null bewegt. Selbst die Regierungen notorischer Defizit-Staaten in der Euro-Zone wie Griechenland oder Italien, die nur mit allergrößter Mühe und vielen Tricks ihre Verstöße gegen die Maastricht-Kritierien kaschieren können, agieren vergleichsweise wie geizige Finanzbeamte.
Für viele deutsche Politiker und Journalisten sind die permanenten Forderungen der USA nach neuen Konjunkturprogrammen schlicht irrational. Die US-Regierung habe sich bereits unter dem früheren Präsidenten George W. Bush auf ein »Lotterleben« eingelassen und mit billigen Dollars die Welt überschwemmt, schreibt etwa Gabor Steingart, US-Korrespondent des Spiegel. Bis 75 Pro­zent der weltweiten Ersparnisse flossen in den vergangenen Jahren in die USA, um diesen Kaufrausch zu finanzieren. Anstatt wieder zu »Selbstbeherrschung und Solidität zurückzukehren«, bewirke der Regierungswechsel nun eine weitere »Enthemmung«: Obama reagiert demnach auf die Krise wie ein Alkoholiker, der sich aus Angst vor dem Kater maßlos betrinkt. Mit seiner Analyse mag der Spiegel-Korrespondent zwar der deutschen Bundeskanzlerin aus dem Herzen sprechen. Allerdings erklärt er nicht, wer an Stelle der USA die Welt aus der Rezession führen soll. Deutschland sicher nicht.
Denn die Kehrseite des gigantischen US-Defizits bilden die enormen Überschusse der beiden größten Exportnationen, Deutschland und China. Beide Länder profitierten in den vergangenen Jahren in hohem Maße von der »enthemmten« US-Wirtschaftspolitik. Sie hielten die Staatsaus­gaben sowie die Löhne niedrig und überschwem­mten die Welt mit ihren Waren. Für die Bundesregierung ein durchaus erfolgreiches Konzept – solange sich andere Länder über alle Maßen verschulden, brummen die Geschäfte. Und sie weiß, dass die USA zumindest mittelfristig über keine Alternative zum deficit spending verfügt: Ohne die massiven Finanzierungsprogramme würde nicht nur die US-Wirtschaft völlig kollabieren.

Für die deutsche Regierung ist die Krise daher vor allem eine Frage der richtigen Regulierung. Das größte Problem besteht für sie im Banken­crash, der seitdem weltweit die Aktienmärkte und die Kreditvergabe belastet – und entsprechend auch die Nachfrage nach deutschen Exportprodukten. Die Binnenkonjunktur spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Daher verwundert es auch nicht, dass die deutschen Wirtschaftsprogramme gerade mal 16 Milliar­den Euro umfassen – während etwa Japan 158 Milliarden und China sogar 470 Milliarden locker machte. Die deutschen Hilfsmaßnahmen für die Banken sind hingegen ungleich größer.
Die auf dem Gipfel beschlossenen Regulierungsmaßnahmen passen ins Konzept der deutschen Regierung. So sollen Hedgefonds, Rating-Agenturen und Managergehälter schärfer reguliert werden, das Bankgeheimnis wird faktisch abgeschafft. Ein Gremium für Finanzstabilität, der Internationale Währungsfonds (IWF) und Kontrollgremien für international agierende Großbanken und -versicherungen sollen die Finanzmärkte überwachen. Selbst mit den in London beschlossenen neuen Mitteln für den IWF kann sie gut leben. Dieses Geld belastet nicht den Haushalt, sondern kommt von der Bundesbank. Und es dient zumindest mittelbar der weiteren Stabilität der Euro-Zone und der anliegenden Regionen: Schon jetzt stehen die osteuropäischen Länder bei dem Fonds für neue Kredite Schlange.

So gesehen konnten alle mit den Ergebnissen des Gipfels zufrieden sein: die Schuldenapologeten, weil es neue gigantische Finanzierungsprogramme gibt. Und die Regulierungsfetischisten, weil die Bankenkontrolle besser wird. Nur die eigentliche Ursache für die Krise kam in London erst gar nicht zur Sprache. Die enorme Spekula­tionsblase wurde nicht durch überzogene Kredite oder gierige Manager und Banken verursacht. Faktisch hat sich die Krise bereits seit den achtziger Jahren abgezeichnet. Seitdem ging die Rendite in der so genannten Realwirtschaft zurück. Um die fallenden Umsätze zu kompensieren, kam mehr und mehr die Finanzwirtschaft ins Spiel – sie übertrug einfach die Renditeerwartungen von der Gegenwart auf die Zukunft. Den ersten Vorgeschmack lieferte die New Economy, die mit Erwartungen auf künftige Geschäftserfolge zuerst fantastische Gewinne produzierte – und wenige Jahre später kollabierte. Wenig später wurde dieses Modell auf die scheinbar sichere Immobilienbranche übertragen. Nachdem nun fast die gesamte Finanzbranche ruiniert ist, kann derzeit nur noch der Staat die nötigen Mittel aufbieten, um weitere Nachfrage zu stimulieren.

Diese Aufgabe will die Bundesregierung nun der neuen US-Administration überlassen. Soll sie doch Kopf und Kragen riskieren und sich verschulden, bis es kracht: Geht es gut und die Konjunktur springt eines Tages wieder an, gehört der Exportweltmeister zu den ersten, die davon profitieren. Geht diese Strategie schief, dann verfügt die deutsche Regierung immer noch über genügend Mittel, um zu reagieren. Immerhin hat Merkel ihre Ziele schon vor Monaten klar definiert: Deutschland soll gestärkt aus der Krise hervorgehen – wenn es sein muss, auch auf Kosten des geschätzten Alliierten auf der anderen Seite des Atlantiks.

In den USA hingegen ist man überzeugt, dass die Krise nur unter Aufbietung aller Mittel noch zu bewältigen ist. Die Notenpresse läuft auf Hochtouren und pumpt gewaltige Geldmengen in den Markt. Irgendwann, so das Kalkül, muss die Wirtschaft dann wieder funktionieren. In einer Hinsicht gleichen sich die Strategien. In beiden Fällen ist man davon überzeugt, dass nur noch der Staat die Krise meistern kann – sei es durch die exponenzielle Erhöhung der Ausgaben, sei es durch schärfere Regulierung.
Dieser Ansicht scheinen auch die meisten Bürger erlegen zu sein. Anders sind die fast messianischen Erwartungen an Präsident Obama kaum zu erklären, ebenso wie der Umstand, dass sich die Proteste bislang noch in Grenzen halten. Dabei sind es die Bürger, die für die Krise zahlen werden. Als vor wenigen Wochen Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, prognostizierte, dass sich in Deutschland in diesem Jahr das wirtschaftliche Wachstum um fünf Prozent verringere, galt er als Wichtigtuer und Querulant. Vermutlich sind jedoch selbst diese Angaben noch zu optimistisch. So ging in Deutschland zum ersten Mal seit 1928 in diesem Frühjahr die Arbeits­losigkeit nicht zurück. Selbst die Bundesregierung hält mittlerweile fünf Millionen Arbeitslose bis Ende des Jahres für realistisch. Gut möglich, dass es auch noch weit mehr sein können.
In den USA ist es jetzt schon so weit. Jeden Monat gehen dort rund 680 000 Jobs verloren. Ein Zehntel der Amerikaner bezieht bereits Lebensmittelmarken des Supplemental Nutrition Assistance Program – das sind derzeit über 32 Milli­onen Menschen. Das volle Ausmaß der Krise wird voraussichtlich erst in einigen Monaten zu spüren sein. Die Bezeichnung »historisch« wäre dann ausnahmsweise tatsächlich angebracht.