Der Nato-Gipfel in Strasbourg

Raus aus der Nato, rein nach Strasbourg – aber wie?

Strasbourg befand sich während des Jubiläumsgipfels der Nato in einer Art von Belagerungszustand. Die Polizei erprobte offenkundig eine Form der »Strategie der Spannung« und ließ ein paar Vermummte ungestört im Armenviertel der Stadt randalieren, um zur selben Zeit die Masse der Kundgebungsteilnehmer vom Demonstrieren abzuhalten.

Samstag, 4. April, um die Mittagszeit erfuhren wir im Stadtzentrum von Strasbourg: Heute verkehren keine öffentlichen Verkehrsmittel. Eine der vielen Maßnahmen, die in den letzten Tagen die Einwohner der ostfranzösischen Metropole ebenso wie die Zugereisten trafen: Nach dem Aus­setzen aller Zugverbindungen von und nach Deutschland in den vergangenen 48 Stunden und der Einrichtung von No-Go-Areas in Gestalt der so genannten roten und orangefarbenen Zonen, war dies nur eine weitere der vielen Sicherheitsmaßnahmen.
Sicher ist am Ende des Tages jedoch nur eines: Die Bilanz der Proteste gegen den Nato-Jubiläums­gipfel in Strasbourg fällt heftig aus: Tränengas, aus Hubschraubern auf friedliche Demonstranten abgeworfen; 300 Festnahmen und 49 eingeleitete Strafverfahren mit Eilvorführung vor dem Richter; mehrere Dutzend Verletzte. Auf der einen Seite. Auf der anderen Seite: mehrere in Brand gesteckte Gebäude, darunter ein Hotel, ein ehemaliges Zollhaus an der Europa-Brücke zwischen dem französischen Strasbourg und dem deutschen Kehl, eine Touristeninformation, eine Apotheke und ein Tierheim.
Dabei konnte die Demonstration, zu der trotz intensiver Kontrollen und Blockaden am Ende rund 30 000 Menschen angereist waren, nur ansatzweise stattfinden. Der Zug wurde vor dem brennenden Ibis-Hotel im Hafengebiet von Strasbourg im einsetzenden Chaos faktisch aufgelöst. Steinewerfer trafen nicht immer die Polizeikräfte, sondern auch Kundgebungsteilnehmer aus den vorderen Reihen. Etwa gleichzeitig wurden die Leu­te von Einheiten der französischen Bereitschaftspolizei CRS mit Tränengas beschossen.

Kritiker des Einsatzes meinten, die Polizei habe den Protestierenden offenkundig eine Falle gestellt. Den Militanten, die in dem Hafenviertel meh­rere Feuer legten, hätten die Beamten anderthalb Stunden Zeit zum ungestörten Agieren ge­lassen, während zur selben Zeit die Masse der friedlich Demonstrierenden von der Polizei in Schach gehalten wurde.
Während am Rande der Route gelegene Gebäude in Brand gesetzt wurden, warfen Polizisten während der Auftaktkundgebung unterhalb der Europa-Brücke aus mehreren Heli­kop­tern Tränengasgranaten. Diese gingen u.a. neben dem Laut­sprecherwagen des Mouvement de la Paix (Bewegung für den Frieden) nieder, einer ausgesprochen harmlosen Organisation, die aus Anhängern der KP und Christen besteht und ungefähr den deutschen Ostermarschierern entspricht. Ihre Mitglieder sind meist im mittleren und höheren Alter. Harmlosere Teilnehmer der Demonstration, an der auch Attac-Mitglieder, radikale Linke, Anarchosyndikalisten, afrikanische Oppositionelle und kurdische Aktivisten teilnahmen, hätten sich die Ordnungshüter für ihre Angriffe nicht aussuchen können.
Die Debatte auf dem Nato-Gipfel war vor allem von Personalien geprägt. Am Samstagabend stand, nachdem es zuvor heftiges Gerangel gegeben hatte, fest: Er wird es doch! Der dänische Premierminister Anders Fogh Rasmussen wird der neue Nato-Generalsekretär. Dass die dänische Armee von Kopf bis Fuß mit US-Militärmaterial ausgerüstet ist und Dänemark für US-Rüstungsfirmen als Türöffner für den europäischen Markt gilt, dürfte bei seiner Ernennung eine gewisse Rolle gespielt haben.

Die politische Auseinandersetzung allerdings kommt nur am Rande vor, die Berichterstattung zum Nato-Gipfel wird von der Frage der Gewaltbeherrscht. Aber auch die Bewohner des Hafenviertels, des ärmsten Stadtteils von Strasbourg, der fast ausschließlich von den Ausschreitungen betroffen war, fragen sich, warum die Polizei die Militanten dort gewähren ließ und die Feuerwehr 90 Minuten zum Anrücken benötigte, während die besseren Viertel bestens geschützt waren. Der Chefberater des französischen Präsidenten, Claude Guéant, gab unter dem stündlich wachsenden Druck der Öffentlichkeit eine lapidare Erklärung ab: »Die Polizei kann nicht überall sein.« Angesichts der erdrückenden Polizeipräsenz und faktischen Militarisierung der Stadt in den 14 Tagen vor dem Gip­fel eine schwache Erklärung.

Die Überwachung in der Stadt war seit Wochen intensiviert worden. Von 40 000 Einwohnern der innenstädtischen Zone, die zum »Sicherheitsbereich« erklärt wurde, waren personenbezogene Daten erhoben worden, einige Anwohner durften ihre Wohnung nicht ohne vorherigen Anruf bei den Sicherheitsorganen und nur mit triftiger Begründung verlassen. Mehrere Bewohner von in höheren Etagen gelegenen Wohnungen mussten diese gar ganz räumen, um Scharfschützen Platz zu machen. Überwachungskameras wurden installiert, rund 40 000 Polizisten, deutsche und französische, eingesetzt.
Der in Strasbourg lehrende Professor für Soziologie, Roland Pfefferkorn, titelte seinen Beitrag für die südfranzösische kommunistische Wochenzeitung La Marseillaise deshalb mit den Worten: »Eine Stadt wird als Geisel genommen.«
Für eine Dauer von 14 Tagen wurde das Schengen-Abkommen (zum freien Personenverkehr innerhalb der EU, zwischen den Beitrittsländern) außer Kraft gesetzt, um wieder Personenkon­trollen an der deutsch-französischen Grenze durch­führen zu können – ähnlich wie etwa beim EU-Gipfel im Dezember 2000 in Nizza an der französisch-italienischen Grenze. Ein deutsches Demonstrantenpärchen aus Konstanz berichtete, es habe einen Umweg von über 100 Kilometern über Freiburg und Colmar fahren müssen, um sich Strasbourg nähern zu können: »Beim ersten Anlauf wurden wir aufgehalten, nicht durchgelassen und nach Hause geschickt. Wir hatten eine dritte Person im Auto, die angeblich wegen ›Gewalt gegen die Polizei‹ in den Polizeidateien gespeichert war. Alles Unfug, der Mensch wartet lediglich auf ein Bagatellverfahren wegen einer harmlosen Rangelei, in die er verwickelt wurde: Die Polizei kam hinzu, als er versuchte, sein eigenes Fahrradschloss zu öffnen, weil er den Schlüssel verloren hatte – was die Beamten nicht unmittelbar einsehen konnten. Die ganze Sache wird sich alsbald aufklären. Aber wir mussten deshalb nach Konstanz zurückfahren und zu zweit wieder losfahren, um letztendlich über einen riesigen Umweg nach Strasbourg zu gelangen …«
Teilnehmer aus Köln berichteten, dass ein Sonderzug aus Nordrhein-Westfalen nicht durchkam und alle Passagiere an der Grenze abgewiesen worden seien. 6 000 Nato-Gegner aus Deutschland seien in Kehl aufgehalten worden.