Proteste gegen »Zensursula«

Eins zu Null für »Zensursula«

Die Familienministerin hat erste Maßnahmen zur Internetzensur durchgesetzt. Schon bald sollen weitere folgen. Bisher demonstrieren dagegen nur Computerfreaks.

Geben wir es gleich zu Beginn zu: »Bürgerrechte« – das klingt nach dem 18. Jahrhundert. Oder nach DDR-Opposition. Und dass Bürgerrechte eingeschränkt oder abgebaut werden: normal. Für die meisten Linken ist das nichts als eine Art inhärenter Nebenwiderspruch von Staatlichkeit, der in westlichen Ländern seit dem Ende des Realsozialismus nun mal um sich greift.
Die einzigen, die also am Freitagmorgen vor der Bundespressekonferenz stehen und gegen die von Familienministerin Ursula von der Leyen durchgesetzte Internetzensur protestieren, sind rund 300 Computerfreaks. »Immerhin«, sagt ein 21jähriger, der sich eine Vendetta-Maske aufgesetzt hat. Warum außer Hackern, Bloggern und anderen Internetfans kaum jemand da sei? »Außer denen hat eben keiner Ahnung.« Er zählt sich zu den so genannten Anonymous, die sich im Internet finden und mit ihren Masken oft gegen Scientology und heute gegen »Zensursula« protestieren, wie die Szene Ursula von der Leyen getauft hat.
Ursula von der Leyen sitzt derweil in der Bundespressekonferenz und sagt ihren Lieblingssatz: »Kinderpornografie im Internet ist die Vergewaltigung von Kindern vor der Kamera.« Sie atmet tief durch und fährt mit sorgsam gesetzten Pausen fort: »Die Vergewaltigung von Schulkindern. Von Kleinkindern. Von Säuglingen.« Neben von der Leyen sitzen der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, und die Vertreter von fünf Providern. Diese werden gleich einen Vertrag unterzeichnen, mit dem sie sich verpflichten, gewöhnlichen Nutzern den Zugang zu Internetseiten zu erschweren, die das BKA der Verbreitung von Kinderpornografie bezichtigt.

Vor der Bundespressekonferenz ruft jemand: »Wir dürfen bis zum Eingang.« Die Mahnwache gegen von der Leyens Zensurvorhaben rückt ein wenig auf den Eingang zu. Zwei davor postierte Polizisten winken hektisch besser gepolsterte Kollegen herbei. Von denen stehen dann fünf entspannt vor dem Eingang. Trotz vereinzelter schwarzer Parkas, Vendetta-Masken und Pullovern, auf denen im RAF-Emblem eine Tastatur die Kalaschnikow ersetzt, sind 300 Computernerds harmloser als fünf Genmaisgegner. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum jene, die sonst Hunderte Kilometer zurücklegen, um Castoren zu blockieren oder gegen die Nato zu demonstrieren, nicht dabei sind. Die Verteidigung von Bürgerrechten verspricht keine Action und scheint nicht eben revolutionär.
Dass die Nerds mit ihrem Protest weitgehend unter sich bleiben, ist ihnen kaum anzulasten. Ihre elitäre Selbststilisierung als digitale Avantgarde wirkt allerdings auch nicht unbedingt integrativ. Der Imperativ »RTFM« ziert etliche Shirts und Taschen: »Read the fucking manual!« Leider führt die Lektüre von Computerhandbüchern nicht unbedingt zu allgemeiner Klugheit, wie ein junger Mann mit weißen Zombie-Kontaktlinsen beweist. Ihm barg das Kampagnenmotto »Stasi 2.0« offenbar noch nicht genug historische Unkenntnis. »Damals Bücherverbrennung – heute Internetzensur«, ist auf seinem Pappschild zu lesen.
»Wir sind das Internet« sagen die »Anonymous«, und irgendwie hört sich das ein bisschen an wie »Wir sind das Volk« – das Volk, das ganz allein das Internet bewohnt und sich gegen die Eingriffe der »Internetausdrucker« wehrt, wie die Szene diejenigen nennt, die den Quantensprung in die digitale Welt ihrer Ansicht nach nicht vollzogen haben. »Die lassen sich ihre Mails ausdrucken. Die benutzen noch Faxe!«

Die »Internetausdrucker« sorgen derweil in der Bundespressekonferenz dafür, dass die meisten Internetzugänge in Deutschland künftig durch ein äußerst intransparentes, extralegales Verfahren zensiert werden. Der technische Hintergrund ist einfach: Im Internet hat jeder Server eine Art Telefonnummer, die IP. Weil diese Nummer lang ist und sie sich auch ändern kann, wird sie in einen Namen übersetzt. Das übernimmt der Domain Name Server (DNS). Zwar führt auch etwa die Nummer 213.239.207.245 zum Ziel, doch jungle-world.com kann man sich besser merken.
Dem auf der Konferenz unterzeichneten Vertrag zwischen den Providern und dem BKA zufolge soll nun die Übersetzung zwischen URL und IP verändert werden. Der DNS soll von den Providern so manipuliert werden, dass er bestimmte, vom BKA ausgewählte URLs nicht in die korrekten IPs umwandelt. Fünf Internetprovider, die zusammen 75 Prozent der deutschen Internet­zugänge bereitstellen, werden auf dieser Pressekonferenz der Öffentlichkeit unzugängliche Privatverträge unterzeichnen, in denen sie sich zu diesem Zensurverfahren verpflichten.
Kunden der Telekom und von Kabel Deutschland werden statt der gewünschten Seite eine Fehlermeldung sehen – »Error 404 – Page not found« oder ähnliches. Aber das geht von der Leyen noch nicht weit genug. »Error – das passiert uns ja täglich mehrmals«, sagt die Ministerin mit Kennermiene. Die anderen drei am Vertragswerk beteiligten Provider erfüllen auch den Wunsch der Familienministerin und des BKA, statt der Fehlermeldung eine Stop-Seite einzublenden. »Das ist die rote Ampel. Wer sie überfährt, macht sich straf­bar«, sagt Ziercke. Die Stop-Seite befindet sich auf einem Server des BKA. Wer sie erblickt, wurde also auf einen Server des BKA weitergeleitet. Und der wird dann bereits gespeichert haben, wer oder genauer: welcher Computer gerade versuchte, eine auf der Sperrliste verzeichnete Seite zu besuchen.

Ob mit Stop-Seite oder Error-Meldung: Die fünf Provider haben die Verträge »freiwillig« unterzeichnet, wie Ziercke betont. Wie eine solche Freiwilligkeit zustande kommt, wird in der Pressekonferenz ansatzweise deutlich. Die Verhandlungen mit den Providern seien »zäh« gewesen, ­betont von der Leyen. Daraufhin beeilen sich die Provider, den Verdacht auszuräumen, sie hätten sich dem »Kampf gegen Kinderpornografie« verweigert. René Obermann von der Telekom sagt: »Man stelle sich vor, so etwas werde den eigenen Kindern angetan.« Die Internetsperren seien schon dann wertvoll, wenn durch sie »nur ein, zwei, drei Fälle« unterbunden würden, sagt Eric Heitzer von Alice. »Sicher werden es mehr sein.«
Ähnlich vage scheinen die Zahlen, die der BKA-Präsident nennt. Ermittlungen bei einem osteuropäischen Kinderporno-Anbieter hätten etwa erst vor kurzem 9 000 Verfahren nach sich gezogen, sagt Ziercke. Draußen vor dem Eingang sagt Christian Bahls: »Auf die Zahlendiskussion lassen wir uns gar nicht mehr ein.« Der Mann mit der Wollmütze vom Verein »Missbrauchs-Opfer gegen Internet-Sperren« (Mogis) zieht Jonglierbälle aus seinem Rucksack und ruft: »Schau, so jonglieren die mit Zahlen!« Ein anderer ruft: »Genau! Wie bei der Operation Himmel!« – Bei der wurde 2007 gegen 12 000 Verdächtige ermittelt, die Anklagen wurden jedoch so gut wie alle fallengelassen. Auch die von Ziercke heruntergespulten Zahlenkolonnen beinhalten nur Ermittlungsverfahren – bis auf einen einzigen Fall unter Tausenden, bei dem er stolz ein Urteil erwähnen kann.

Christian Bahls ist selbst Missbrauchsopfer und hat in den vergangenen Tagen in zahlreichen Interviews betont, dass er von der Leyens Instrumentalisierung von Kindern entsetzlich findet. Wie der Chaos Computer Club und andere, die sich gegen die Internetzensur zur Wehr setzen, betont auch Mogis, dass die Netzsperren Missbrauch nicht bekämpfen. Das gibt BKA-Präsident Ziercke zu: Die DNS-Sperren sollten allein als »ergänzende Maßnahme« Gelegenheitskonsumenten abschrecken und den Anbietern von Kinderpornografie Umsatzeinbußen bescheren. »Oberstes Ziel ist die Tatermittlung – international«, sagt von der Leyen. »Selbstverständlich ermitteln wir, wenn Hinweise vorliegen«, betont Ziercke.
Die Demonstranten bezweifeln das. Wenn das BKA Sperrlisten habe, habe es Hinweise. Wenn man Hinweise habe, könne man die Server ausfindig machen, die Inhalte entfernen und die Täter vielleicht festnehmen. Manche der geheimen Sperrlisten anderer Länder, die bereits Internetsperren eingerichtet haben, sind trotz aller Geheimhaltung in der Öffentlichkeit aufgetaucht – etwa über wikileaks.de, gegen dessen Betreiber deshalb wegen Verbreitung von Kinderpornografie ermittelt wurde. Anhand dieser Listen konnte gezeigt werden, dass die meisten auf ihnen verzeichneten kinderpornografischen Inhalte offenbar nicht auf Servern in irgendwelchen failed states liegen, sondern in den USA und Deutschland. Sie könnten daher bereits nach geltendem Recht entfernt werden. Wenn es nur darum ginge, Kinderpornografie aus dem Netz zu entfernen und die Betreiber solcher Seiten zu verurteilen, scheint die Beschlagnahmung der Server oder die Forderung an den Provider, die kinderpornografischen Seiten aus dem Netz zu nehmen, sinnvoller.

Ob allerdings gleich »ganze Server vom Netz abgeklemmt werden«, sei eine »Frage der Verhältnismäßigkeit«, sagt BKA-Präsident Ziercke. Die Internet-Provider anhand geheimer Listen zur Zensur zu bewegen, hält er dagegen offenbar für verhältnismäßig – immerhin bekommt das BKA auf diesem Weg von außen unkontrollierbare Befugnisse. Weil die Sperrlisten geheim sind, ließen sich mit ihnen auch schnell andere Websites zensieren. Sperrlisten anderer Länder, die ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, bestätigen diesen Verdacht.
Tröstlich scheint, dass die DNS-Manipulationen dank kleiner Einstellungen im Betriebssystem problemlos umgangen werden können. »Das ist echt total billig. Das geht in Sekunden«, versichern die Demonstranten. Wie das funktioniert, zeigen Anleitungen auf Youtube oder die Internetseiten des Chaos Computer Club. Bisher kann man also an den Einstellungen drehen – oder zu einem Provider wechseln, der die Verträge nicht unterzeichnet hat.
Der letztgenannte Ausweg dürfte sich schon bald erledigt haben. In Kürze soll das Telemediengesetz geändert werden. Dabei sollen die jetzt unterzeichneten Verträge rechtlich abgesichert, die Umleitung auf die Stop-Seite des BKA verbindlich gemacht und alle Provider, die noch nicht unterzeichnet haben, zu den Zensurmaßnahmen gezwungen werden. Dabei wird auch entschieden werden, ob die Maßnahme im Gesetz auf die Zensur von Kinderpornografie eingeschränkt wird oder ob die geheimen Zensurlisten für andere Bereiche Verwendung finden dürfen.
Auch die Möglichkeit, statt des Namens die genaue IP-Adresse einzugeben oder einen unzensierten DNS-Server aus dem Ausland zu nutzen, könnte sich vielleicht irgendwann erledigt haben. Zensurbefürworter fordern die Einführung so genannter Zwangsproxys. Der nächste Schritt könnte ein System sein, in dem der gesamte Traffic aller Nutzer gefiltert wird. Spätestens dann ist es soweit, dass man die Proteste nicht allein den Computerfreaks überlassen sollte – so öde die »Verteidigung von Bürgerrechten« auch klingt.