Die Wahlen, die Parteien und die Kandidaten

Wer bietet mehr?

Begleitet von Angriffen der maoistischen Guerilla begann am Donnerstag vergangener Woche die erste von fünf Phasen der Wahlen zum indischen Unterhaus, der Lok Sabha. Die Wahlen entscheiden auch über die Bildung einer neuen Regierung. Mehr als 200 Parteien werben um die Gunst der über 714 Millionen Wahlberechtigten, die meisten Parteien vertreten lediglich regionale Interessen. Gleichzeitig mit den Unterhauswahlen wird auch die Wahl der Länder­parlamente dreier Bundesstaaten stattfinden. Alle offiziellen Endergebnisse sollen am 16. Mai verkündet werden.

Bomben gegen Wahlen
Als »Tag des roten Terrors« bezeichnete CNN India den 16. April. Die Versuche der Maoisten, den Wahlbeginn zu behindern, waren absehbar, sie blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück. Die Gegenden, in denen am 16. April gewählt wurde, sind fast deckungsgleich mit jenen Regionen Indiens, die die Maoisten in weiten Teilen kontrollieren, dem so genannten roten Korridor. Schon Tage vor dem Wahlbeginn fingen die als Naxaliten bezeichneten maoistischen Gruppen mit einzelnen, regional begrenzten Offensiven an und erschossen bis zum Wahlbeginn mindestens 15 Polizisten, 19 weitere Menschen starben bei Bombenattentaten und Angriffen am Wahltag selbst. »Wir rufen alle Inder zum Boykott der Wahl auf, es sind die Wahlen der Imperialisten und feudalen Kräfte, nicht die des Volkes«, erklärte Gadar, der inoffizielle Sprecher der maoistischen Gruppen in Andhra Pradesh, im Gespräch mit der Jungle World.
Doch insgesamt befindet sich die Bewegung in der Defensive, militärische Offensiven haben die Guerilla in den vergangenen Jahren zusehends geschwächt, viele Kader wurden in Polizeigewahrsam getötet. Zum ersten Mal seit Jahren spielten die Maoisten in den meisten Bundesstaaten keine Rolle als Wahlkampfthema. Friedlich blieb es jedoch auch während des Wahlkampfs nicht immer, der am 3. März mit der Bekanntgabe des Zeitplans für die Lok-Sabha-Wahlen begann. Täglich finden seitdem landesweit Demonstrationen und Parteiveranstaltungen statt, durch die Dörfer fah­ren Pritschenwagen und verkünden über Lautsprecher die Parolen der jeweiligen Partei, in den Städten ziehen bezahlte Wahlhelfer durch die Viertel und verteilen Flugblätter an die Haushalte, Millionen SMS-Nachrichten wurden verschickt, und überall zieren die Porträts der Kandidaten Häuserwände und Werbeflächen. Immer wieder geraten, vor allem in den Dörfern, Angehörige verschiedener Parteien aneinander, bewerfen sich mit Steinen und attackieren die Gegenseite mit Knüppeln, und immer wieder kommt es bei diesen Auseinandersetzungen auch zu Toten.

Aufgelöste Allianzen
Die Öffentlichkeit interessiert sich jedoch besonders für die Kandidaten selbst – die Anzahl der Kandidatinnen ist ähnlich gering wie der gegenwärtige Frauenanteil in der Lok Sabha, der bei acht Prozent liegt. Detailliert werden nicht nur die Äußerungen und Versprechen der wichtigsten Kandidaten präsentiert, sondern auch deren persönliches Vermögen und ihre Besitztümer. Politik wird in Indien vor allem als das Geschäft von Führungspersonen wahrgenommen, die es verstehen, lukrative Unternehmen und politisches Amt miteinander in Einklang zu bringen. Das entsprechende Stereotyp des selbstgefälligen, ganz in Weiß gekleideten übergewichtigen Schnauz­bartträgers, der stets von einer Horde Sekretäre, Bodyguards und Dutzenden Unterstützern umringt ist, erweist sich zumindest in Andhra Pradesh als ausgesprochen realistisch. Hier kam es im Laufe der vergangenen Monate immer wieder zu Zerwürfnissen innerhalb der Parteien, häufig wechselten Politiker die Fraktionen und traten einfach der Partei bei, die ihnen den aussichtsreichsten Listenplatz gewährte.
Neben sehr personenfixierten Berichten spielen regionale Themen eine zentrale Rolle im Wahlkampf, meist Armutsbekämpfung, Korruption und soziale Gerechtigkeit. »Bei den diesjährigen Wahlen gibt es weder das eine bedeutende Thema noch die eine herausragende Persönlichkeit, der Prozess ist ein einziges riesiges Chaos«, charakterisierte die Wochenzeitung Outlook die Lage Anfang April. Die als chaotisch bezeichnete Situation entstand vor allem durch den Unwillen der beiden großen Parteien, des Indian National Congress und der Bharatiya Janata Party (BJP), koalitionswillige Partner unter den Regionalparteien zu rekrutieren. »Alle Allianzen sind aufgelöst, alte Freunde sind heute Feinde, wir können damit rechnen, dass der große Basar erst beginnt, wenn die Resultate am 16. Mai verkündet werden«, kommentiert Outlook die komplizierte Situation.
Regionalparteien spielen eine bedeutende Rolle im indischen Parlament, keine Fraktion kann ohne eine Koalition mit mehreren Regionalparteien regieren. Derzeit sind 40 verschiedene Parteien im indischen Unterhaus vertreten, dazu kommen drei unabhängige Parlamentarier. Prognosen zufolge werden weder die BJP noch der Congress eine ausreichende Mehrheit bei dieser Wahl erlangen können, entsprechend bedeutend ist diplomatisches Geschick beim Planen strategischer Allianzen. Um eine Mehrheit zu sichern, scheint fast alles erlaubt, selbst Gespräche zwischen den Hindu-Nationalisten der BJP und muslimischen Parteien fanden statt, blieben allerdings ohne Ergebnis. Als »politische Promiskuität« bezeichnet die Tageszeitung The Hindu diese Attitüde des anything goes. Wobei Koalitionen zwischen Congress und BJP sowie zwischen BJP und den kommunistischen Parteien weiterhin tabu bleiben.

Der dritte Block
Das von der Kongress-Partei geführte Bündnis UPA (United Progressive Alliance) stellt zurzeit die Regierung unter Premierminister Manmohan Singh. Die oppositionelle NDA (National Democra­tic Alliance) unter Führung der hindu-nationalistischen BJP bemüh sich nun um einen Sieg, nach der Niederlage bei den vorigen Wahlen. Als dritter Block tritt eine mitunter abenteuerlich wirkende Allianz auf, die von den beiden großen kommunistischen Parteien CPI und CPI (Marxist) bis zu etlichen Regionalparteien reicht, die teilweise kaum etwas mit linker Politik zu tun haben. Ob dieser dritte Block nach der Wahl Bestand haben wird, muss sich zeigen. Einerseits haben Vorsitzende der beiden KPs bereits darauf hingewiesen, unter Umständen doch eine vom Congress geführte Regierung unterstützen zu wollen. Andererseits bringen die verschiedenen Parteien immer wieder die Ministerpräsidentin des Bundesstaats Uttar Pradesh, Kumari Mayawati, als potenzielle Kandidatin für das Amt des indischen Ministerpräsidenten ins Spiel, und manche betonen, auf jeden Fall sowohl eine Congress- als auch eine BJP-Regierung verhindern zu wollen.
Mayawati stammt aus der sozialen Gruppe der Unberührbaren, der Dalits. Die wegen ihres luxuriösen Lebensstils umstrittene Politikerin hat zwar mehrfach Interesse am Amt des Ministerpräsidenten geäußert, als offizielle Kandidatin des dritten Blocks tritt sie bislang aber nicht auf. Sollte das Bündnis halten und sogar weitere Koalitionspartner dazugewinnen, könnte womöglich tatsächlich eine Frau aus der Kaste der Unberührbaren künftig den bedeutendsten Posten der Regierung besetzen. Eine Regierungschefin aus der Community der Unberührbaren hätte zumindest symbolischen Wert in einem Land, das nach wie vor von dem diskriminierenden Kastensystem und patriarchalen Strukturen gekennzeichnet ist.
Ob Mayawati und der dritte Block aber tatsächlich weit reichende Veränderungen der bestehenden Verhältnisse durchsetzen würden, ist zweifelhaft. Wiederholt wurde Mayawati gerade von mehreren Dalit-NGO vorgeworfen, sich zwar mit den Stimmen der Unberührbaren wählen zu lassen, aber entsprechende Reformen nicht auf den Weg zu bringen. Mayawati regiert bereits in der vierten Legislaturperiode den Bundesstaat Uttar Pradesh. Das International Food Policy Research Institute beschreibt die Ernährungssituation dort als »alarmierend«, in Sachen Mangelernährung und Hunger liegt Uttar Pradesh mit Ruanda gleich­auf, Dalits und indigene Gruppen sind am stärksten von der Armut betroffen.
Unabhängig davon, welche Koalition sich nach dem 16. Mai als tragfähig erweisen wird, der wachsende Einfluss diverser Regionalparteien auf das politische Geschehen in Neu-Delhi gilt als sicher. Ihre Perspektive reicht meist jedoch kaum über die Grenzen des eigenen Bundesstaats hinaus. Etliche dieser Leute scheinen internationale Politik vor allem als martialische Polemik gegen Pakistan zu begreifen, die sich innenpolitisch als bewährtes Rezept zur Herstellung eines nationalen Konsenses erwiesen hat. Für diplomatische Realpolitik auf internationaler Ebene fehlen vielen Parteien nicht nur Erfahrung und Kompetenz, sondern es fehlt ihnen augenscheinlich auch der Wille. Gerade im Hinblick auf den politisch instabilen Nachbarn Pakistan kann ein Bedeutungszuwachs der Regionalparteien Konsequenzen mit internationaler Tragweite nach sich ziehen.

Slumdog Millionaire im Kongress
Ein Szenario, das Sonia Gandhi, die Vordenkerin der Regierungspartei Congress, unter allen Umständen verhindern will. Es soll maßgeblich ihre Entscheidung gewesen sein, mit dem Gute-Laune-Lied »Jai Ho« aus dem Oscar-gekrönten Film »Slumdog Millionaire« als Partei alleine, nicht als Koalitionsbündnis, in den Wahlkampf zu ziehen und damit zahlreiche Koalitionspartner zu brüskieren. »Der Congress und die BJP wünschen sich ein Verschwinden der kleinen Parteien, aber das wird nicht passieren. Am Tag, als der Congress verkündete, nicht als Teil der UPA zur Wahl anzutreten, verlor er die Wahl«, sagte der ehemalige Innenminister Sardar Buta Singh dem Wochenmagazin Frontline. Buta Singh gehört selbst der Kongress-Partei an. Er befürchtet aber wie viele andere Beobachter auch, dass das unilaterale Vorgehen, kombiniert mit allzu offensiv geäußertem Optimismus, dem Congress eine Niederlage bescheren könnte.
Genau dieses Schicksal ereilte bei den vorigen Wahlen die Hindu-Nationalisten der BJP, die damals mit dem Parteienbündnis NDA die Regierung stellten. Angesichts beeindruckender wirtschaftlicher Wachstumszahlen zog die BJP mit dem Slogan »India Shining« in den Wahlkampf und musste wegen der ungleichen Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands eine herbe Niederlage hinnehmen.

Der Hardliner der BJP
Der Spitzenkandidat der Partei in diesem Jahr, der 81jährige Lal Krishna Advani, eignet sich indes kaum, größere Wählerschichten jenseits der überzeugten Anhänger zu erschließen. Advani hat sich seinen Ruf als Hardliner redlich verdient. Er führte in den neunziger Jahren eine Kampagne zur Errichtung eines Tempels des Hindu-Gottes Ram auf dem Areal der Babri-Masjid-Moschee im Bundesstaat Gujarat an, die schließlich im Jahr 2002 mit der Zerstörung der Moschee endete und heftige gewaltsame Auseinanersetzungen zwischen Hindus und Muslimen nach sich zog. In Gujarat und anderen Staaten kam es zu Pogromen gegen Muslime, Tausende wurden gelyncht, auch mehrere hundert Hindus starben.
Doch in diesem Jahr entschied sich die BJP früh, einen gemäßigten Wahlkampf zu führen und vor allem soziale Themen in den Mittelpunkt zu stellen. Aber dann kam Varun Gandhi: »Wenn irgendjemand mit dem Finger auf einen Hindu zeigt, dann schwöre ich bei der Göttin Sita, diese Hand abzuhacken«, polterte der Abkömmling des Gandhi-Clans Anfang März. Nach anfänglichem Zögern stellte sich die BJP-Führung schließlich hinter den 29jährigen. Somit verspielte die BJP die Gelegenheit, sich als gemäßigte Anti-Korruptionspartei zu inszenieren, und kombinierte die Vorschläge zur Armutsbekämpfung fortan mit der altbewährten rassistischen Hindutva-Ideologie. Die BJP präsentiert sich als einzige politische Kraft, die konsequent gegen islamistischen Terror vorgeht. Premierminister Manmohan Singh werfen die Hindu-Nationalisten einen zu defensiven Umgang mit Terroristen und dem Nachbarn Pakistan vor.

Es gibt Reis
Insgesamt spielen internationale Beziehungen und selbst die globale Finanzkrise aber eine untergeordnete Rolle. Immerhin leben über 70 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, die urbane Mittelschicht gilt als politisch wenig interessiert. Sicherheit assoziiert ein Großteil der Wähler in erster Linie mit einer regelmäßigen Mahlzeit und weniger mit Maßnahmen gegen Terrorismus. Kaum verwunderlich ist daher die große Bedeutung der Landwirtschaft und der Hungerbekämpfung in den Wahlprogrammen der großen Parteien. Und alle versprechen viel: Der Congress verspricht armen Familien ein Kilo Reis für drei Rupien (etwa vier Cent), während die BJP das Kilo für zwei Rupien verteilen will. Aussichten auf groß­zügige sozialstaatliche Leistungen zu eröffnen, gilt weiterhin als bestes Rezept für einen Wahlsieg. Das Prinzip des fürsorglichen Wohlfahrtsstaats stellt derzeit keine relevante politische Partei in Frage.
Entscheidend für das Ausmaß der staatlichen Zuwendungen ist die Klassifizierung der eigenen sozialen Gruppe als »backward caste« (untere Kasten), »scheduled caste« (Dalits) oder »scheduled tribe« (indigene Gruppen). Mit speziellen Leistungen und Quoten in Bildungseinrichtungen und in Regierungsorganen soll den diskriminierten Gruppen der gesellschaftliche Aufstieg ermöglicht werden.
Die Oberschicht fühlt sich ihrerseits durch die affirmative action benachteiligt, und die unteren Kasten erhalten ihren Status durch die Forderung nach der entsprechenden Klassifizierung aufrecht . Bei einem Wahlkampfauftritt von Sonia Gandhi in Secunderabad am 28. Februar durchbrachen einige Dutzend Dalit-Frauen mehrere Sicherheitsabsperrungen und forderten eine gesonderte Regelung für Madigas, eine Gruppe unter den Dalits. Gleichzeitig zündeten Angehörige der Bewegung das Congress-Büro in Secunderabad an, vier Menschen starben. Verbunden mit der Bitte, doch in Zukunft auf Gewalt zu verzichten, versprachen Sonia Gandhi und der Ministerpräsident von Andhra Pradesh den Protestierenden die Erfüllung ihrer Forderungen. »Allerdings wurde dieses Versprechen schon vor vier Jahren von der Congress-Regierung gegeben und nichts passierte«, meint der Sprecher der Dalit-Gruppe, Krishna Madigar.

Farbfernseher für alle
Andererseits brachte die regierende Kongress-Partei in der vergangenen Legislaturperiode zahlreiche Reformprogramme zur ländlichen Entwicklung auf den Weg. Gegenwärtig existieren mehrere hundert Programme, die die Lebenssitua­tion der armen Bevölkerung verbessern sollen: kostenlose Mahlzeiten für Schulkinder, staatliche Beschäftigungsprogramme, Lebensmittelsubventionen, Gratis-Strom auf dem Land, Subventionen für den Bau von Häusern und Brunnen und den Kauf von Dünger und Pestiziden sowie unzählige weitere Sozialleistungen. Im Bundesstaat Tamil Nadu haben Familien unterhalb der Armutsgrenze sogar ein Recht auf einen Farbfernseher.
Die Dringlichkeit sozialstaatlicher Maßnahmen lässt sich angesichts der grassierenden Armut kaum bestreiten, etwa 80 Prozent der Bevölkerung müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Es ist nicht die mangelnde Anzahl sozialstaatlicher Leistungen, die eine Verbesserung der Lebensbedingungen verhindert. Das Hauptproblem der staatlichen Sozialpolitik sind die korrupten, ineffizienten und kaum service­orientierten administrativen Strukturen, die entweder nicht in der Lage sind, die Programme zu realisieren, oder aber das Geld verschwinden lassen. Dazu kommen politische Machtspiele: In Tamil Nadu kamen beispielsweise vornehmlich Familien in den Genuss eines Fernsehers, die die Regierungspartei wählten und weiterhin ihre Loyalität bekunden.
Statt aber dafür zu sorgen, dass die bestehenden Programme verwirklicht werden und Schwachstellen im Staatsapparat anzugehen, werden munter weitere Versprechen gemacht. Auch der Farbfernseher darf da nicht fehlen, wie im Falle der Telugu Desam Party, einer Regionalpartei in Andhra Pradesh, die mit dieser Strategie nach Darstellung der Times of India bei völlig verarmten Gemeinden indigener Gruppen Sympathien erwerben konnte. In anderen Fällen liegt der Preis für eine Wählerstimme dagegen weit unter den Kosten eines Fernsehers. Gerade einmal zehn Rupien kostete die Stimme in dem Dorf Jampani in Andhra Pradesh bei der letzten Wahl. Nach Angaben von Sudhir Rao, einem Aktivisten der NGO Action Aid, nahm hier die Kongress-Partei das günstige Angebot wahr, im Nachbardorf waren konkurrierende Parteien schneller. Welche Partei in diesem Jahr insgesamt am erfolgreichsten auf Stimmenfang ging, wird sich Mitte Mai zeigen. »Wieso sollte auch ausgerechnet der Ausgang der Wahl kalkulierbar sein?« fragt Sudhir Rao. »Hier in Indien ist doch alles chaotisch und unvorhersehbar.«