Der Roman »Apostoloff« von Sibylle Lewitscharoff

Zeig mir das Land, wo die Tomaten siebzig sind

Sibylle Lewitscharoff durchquert in ihrem großartigen Roman »Apostoloff« den eigenen bulgarischen Migrationshintergrund und entdeckt viel Hässliches in der Heimat ihres Vaters.

Sibylle Lewitscharoffs »Apostoloff« ist alles andere als eine tragisch-schöne Familiengeschichte mit Vor­abendserien-Tauglichkeit: Die Ich-Erzählerin ist eine notorisch schlecht gelaunte junge Frau, die sich mit ihrer Schwester und dem ihr nur mäßig sympathischen Fahrer Rumen Apostoloff auf eine Reise nach Bulgarien in die Heimat ihrer Vorfahren begeben hat. Der Vater, schon seit vielen Jahren tot, beging Selbstmord, war in Bulgarien geboren worden, emigrierte aber schon früh nach Deutschland, seine beiden Töchter sind in Stuttgart aufgewachsen.
Ein wohlhabender Exilbulgare hatte nun die Geschäftsidee, seine ausgewanderten Landsleute in heimatlichem Boden begraben zu lassen, und auch der durch eigene Hand zu Tode gekommene Exil-Schwabe soll nun zur allerletzten Ruhe nach Bulgarien überführt werden. Die Angehörigen begleiten die Leichenwagen, und so fahren auch die beiden Schwestern im Korso mit. Die Exhumierung und die abermalige Beerdigung beschreibt die Protagonistin ohne große Gefühlsaufwallung: »Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, sondern nur ein gutmütig gepflegter Hass.«
Eindringlich schildert die Autorin, wie der als düster und bedrohlich erlebte Vater seine erwachsenen Kinder auch noch über seinen Tod hinaus beunruhigen und verfolgen kann: Immer wieder taucht der Strick, mit dem sich der Vater in seiner Arztpraxis erhängt hat, in den Träumen der Ich-Erzählerin auf.
Neben der kritischen Beschäftigung mit dem postsowjetischen Bulgarien, das sich zurzeit nur über das »post-« definiert, aber noch nirgend­wo angekommen ist, begeistert Lewitscharoffs phantasievoll-präzise Sprache. Ob ein Alkoholisierter ein Gesicht »wie ein Euter« hat oder die ­Erzählerin in einer schicken Villa an »goldene Kakerlaken« und »Ratten mit vergoldetem Schwanz« denken muss: Lewitscharoffs Sprache wartet immer mit eigensinnigen Überraschungen und neuen Bildern auf.
Heimatgefühle kommen keine auf; »Apostoloff« ist vor allem eine gelungene Abrechnung mit all jenen Ostromantikern, die in jeder verrotteten Industrieanlage, in jedem megalomanen Staatsgebäude Stalinscher Prägung und in jedem realsozialistischen Protzdenkmal einen Anwärter auf das Unesco-Weltkulturerbe erblicken. Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart gebo­rene Autorin, selbst Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter, schreibt schonungslos und mit bitterem Humor über ein ästhetisch wie gesellschaftlich auf den Hund gekommenes Land: »Wir fuhren an Industrieruinen vorbei. Kilometer über Kilometer zog sich eine katastrophale Landschaft hin aus halb zusammengebrochenen Gebäuden, zerwor­fenen Scheiben, durchwühlter Erde, Müllhalden, rostigen Kränen, sinnlos in die Höhe gereckten Baggerschaufeln, herumliegenden Maschinenteilen. Ungelogen: kilometerlang (…) Bedrückt und stumm fuhren wir in Sofia ein.«
An den Landstraßen stehen Prostituierte »fast jeden Alters« vor »müllübersäten Böschungen«. Auch die bulgarische Gastronomie kommt nicht gut weg: »Aus einem verborgenen Winkel des Gebäudes trieb Rumen eine Bedienerin auf und bestellte Tee. Sie kam eine halbe Stunde später herangeschlurft, brachte lauwarmes Wasser und drei mumifizierte Kommunistenteebeutel auf einem schmierigen Tellerchen.« Und eine »Tomate, die in Menschenjahre umgerechnet schon weit über siebzig zählt«.
Spaziergänge in den größeren Städten sind bestenfalls soziologisch interessante Unternehmungen, das Wohlbefinden steigern sie nicht: »Offenbar haben beide Geschlechter nur jeweils einen Code zur Verfügung: Die Frauen signalisieren: wir sind Huren, die Männer: wir sind brutal.« Die gesamtgesellschaftliche Verrohung spiegelt sich im familiären Mikrokosmos und hat Tradition. So schreibt die Protagonistin, die unschwer als Alter ego der Autorin zu erkennen ist, über ihre Großeltern: »Als sein Ertauben voranschritt, sprach sie absichtlich leiser, damit er immer größere Mühe hatte, sie zu verstehen.«
Immer wieder ragt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein – »Hundert bulgarische Ammen reichen Stalin die Brust« lautet der Titel eines Werks in der Nationalen Gemäldegalerie.
Lewitscharoff kritisiert die fehlende Vergangenheitsbewältigung in Bulgarien, das sich mit Hitler verbündet hatte, und verzeichnet eine kollektive Flucht ins Religiöse und Esoterische, bisweilen ins Phantastische. Die Geschichte des Landes ist eine mit vielen Auslassungen. »Es fehlen: die deutsche Wehrmacht und die SS.
Es fehlt: die russische Armee.
Es fehlt: die Zerstörung des Landes, der Städte und der Dörfer durch das Sowjetsystem.
Die letzten siebzig Jahre scheinen sich für phantastische Ausschmückungen wenig zu eignen.«
Nüchtern konstatiert die Autorin Vorfälle aus der jüngsten Zeit und lässt hier geschickt die Ereignisse für sich sprechen: »Abgeordnete verprügeln Verkehrsteilnehmer, die ihnen in die Quere kamen, auf offener Straße. Im Fernsehen durfte verkündet werden, Juden und Zigeuner seien zum Seifemachen gut. Augenärzte ver­gaßen, bei Operationen die Nähte herauszunehmen, und niemand zog sie zur Verantwortung.« Und auf den städtischen Friedhöfen stehen seit Neuestem lebensgroße Figuren mit steinernem Handy am Ohr.
Wer meint, Lewitscharoff würde mit ihren Schilderungen von parteipolitischer Korruption und mafiösen Strukturen übertreiben, dem sei Ilija Trojanows »Die fingierte Revolution – Bulgarien, eine exemplarische Geschichte« und dort das Kapitel »Der zweiarmige Bandit: Staat & Mafia« ans Herz gelegt. Bulgarien befindet sich bestenfalls seit 19 Jahren in einem transitorischen Zustand, von einer Errichtung transparenter, rechtsstaatlicher Verhältnisse kann noch nicht die Rede sein.
Die Ich-Erzählerin unterzieht sich auf dieser Reise auch einer Selbstbefragung in Hinblick auf die eigene kommunistische Vergangenheit: »Wie war’s möglich, dem Brechttheater mit seiner öden Typenwirtschaft zu verfallen? Was sollten diese blumigen, idiotischen Mao-Texte? Und wieso Trotzki? Wegen des Eispickels? Als Gegenspieler von Stalin? Oder weil ich, wie die meisten Linkserregten damals, auf der Suche nach einem jüdischen Adoptivvater war und Adorno nicht verstand?«
Doch Sibylle Lewitscharoff macht sich nicht lustig über ihre Figuren. Allein der titelgebende Name »Apostoloff«, der an ihren eigenen Familiennamen erinnert, ist Hinweis auf eine Haltung des »Mitgefangen, mitgehangen«, auf eine stille Inklusion des Selbst, oder zumindest: ein ausgeprägtes Bewusststein über die Nähe zum Sujet des Romans. Manchmal wird die Erzählerin auch gnädig – so bei der Einfahrt in ein Dorf: »Obwohl ich mir vorgenommen hatte, Veliko Tarovo übel zu finden, ist es nicht ganz so übel wie gedacht.« Und, an anderer Stelle, als ihr die Stadt Plovdiv Eindruck macht: »Ich wüsste gern mehr über das Vielvölkergemisch, das Plovdiv einst besiedelt hat.«
Auch die Stuttgarter Beethovenstraße, in der die Schwester der Protagonistin samt Familie wohnt, kommt nicht unbedingt besser bei ihr weg als der Sofioter Stadtteil Mladost: Dieser Roman hebt sich wohltuend ab von den vielen literarischen Heimatbeschwörugen, die man derzeit auf dem Buchmarkt findet.

Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 247 Seiten, 19,80 Euro