Über von der Leyens Kampagne gegen Kinderpornografie

Alles Gute für Ihr Kind

Mit ihrem Kampf gegen Kinderpornografie im Internet hat Ursula von der Leyen die Zweite Frauenbewegung beerbt. Dabei ist nichts Progressives übrig geblieben.

Kaum hat die Bundesfamilienministerin zum Angriff gegen die inflationäre Kinderpornografie im World Wide Web aufgerufen, wird in den Medien ausführlich über die Hintergründe ihrer Kam­pagne spekuliert: Handelt es sich, wie die erbitterte Abwehr von Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) nahelegt, um einen Vorwand für die verstärk­te Einschränkung informationeller Grundrechte und den Ausbau des Überwachungsstaats, oder geht es doch nur um ein typisch christdemokratisches Kinder- und Familienschutzprojekt?
Viel zu wenig beachtet worden ist dabei, dass von der Leyen mit ihrem Vorhaben, ähnlich wie bereits in ihrer gegen traditionalistische Parteikollegen durchgesetzten Gleichstellungspolitik, an gewisse Traditionen der Zweiten Frauenbe­wegung anknüpft, deren Moralismus einerseits deutlich verschärft wird. Andererseits werden deren Vorstellungen zugleich umgepolt und neu kodiert. Ob das Ergebnis, verglichen mit den Standards christdemokratischer Kinder- und Familienpolitik, eher als fortschrittlich oder als reaktionär bewertet werden muss, lässt sich vorerst noch kaum voraussagen.

Lange bevor die Zweite Frauenbewegung es im Zu­ge ihres Vorgehens gegen sexuelle Gewalt in Ehe und Familie geltend machte, war das »Kindeswohl« hierzulande fester Bestandteil bürgerlicher Ideologie. Die Angst vor dem bösen Schwarzen Mann, der allmorgendlich im menschenleeren Park Sechsjährigen auf dem Schulweg auflauert, hat ganze Generationen von Eltern umgetrieben und im Format von »Aktenzeichen XY … un­gelöst« bekanntlich sogar die öffentlich-rechtlichen Programmchefs beschäftigt. Weil draußen das Grauen umgehe, so wurde suggeriert, sei es empfehlenswert, die minderjährigen Sprösslinge so lange wie möglich, am besten bis nach dem Erreichen ihrer Volljährigkeit, an Heim und Herd zu binden und jeden ihrer autonomen Schritte genau zu überwachen.
Gegenüber diesem elterlichen Beaufsichtigungswahn, der sich wahlweise als väterliche Strenge oder mütterliche Wärme Ausdruck verschaffen konnte, hat die Zweite Frauenbewegung völlig zurecht ins Bewusstsein gerufen, dass sexuelle Gewalt, gegen Frauen wie auch gegen Kinder, weniger in der finsteren Fremde als vor allem im sozialen Nahbereich vorkommt, wo die Misch­ung aus Frustration, Treuezwang, Langeweile und überschießenden Wünschen, die in deutschen Familien als Geborgenheit gilt, die schlimmsten Aggressionen hervorzubringen vermag. Man war sich zu dieser Zeit also durchaus noch bewusst, dass sich Kinder umso freier entwickeln können, je mehr man ihnen die Möglichkeit gibt, soziale Kontakte, eigenständige Freundschaften und außerfamiliäre Beziehungen aufzubau­en. Die borniert »feministische« Mutter, die sich von ihrer Rolle als Ehefrau nur emanzipiert hat, um ihre Kinder umso enger an sich und die eigenen partikularen Bedürfnisse zu fesseln, ist im Frauenbild der Zweiten Frauenbewegung selbst also noch keineswegs angelegt, sondern Produkt ihres gesellschaftlichen Zerfalls.
Während die intelligenteren Protagonistinnen der Frauenbewegung sich stets bewusst geblieben sind, dass die bürgerliche Ehe in ihrer Binnensphäre in Form der vor den Unbilden des »männ­lichen« Erwerbslebens scheinbar geschützten Mutter-Kind-Dyade durchaus einen Bereich herausgebildet hat, wo die Ehefrau und Mutter ihre reale Ohnmacht als unmittelbare Herr­schaft gegen ihr Kind ausagieren kann, ist diese kritische Einsicht in den Zusammenhang von väterlicher und mütterlicher Macht mittlerweile weitgehend verloren gegangen.

Weil das feministische Emanzipationsprogramm seit den siebziger Jahren zahlreiche formelle Erfolge verzeichnen konnte, ohne dass die Gesamtgesellschaft wesentlich »freier« geworden wäre, hat sich als »feministisch« zunehmend durchgesetzt, was Bekenntnisliteratinnen wie Verena Stefan schon in der Blütezeit des Feminismus für »weiblich« hielten: die fetischistische Berufung auf die eigene körperlich-seelische »Andersheit« und das Sich-Klammern an Schmerz und Leiden, die nicht mehr als zu beseitigende Stigmata, sondern als positiver Identitätsausweis begriffen wurden. Erst im Zuge dieser identitären Deformation der Frauenbewegung, gegen deren Phantome mittlerweile auch eine immer einflussreichere, vollends paranoide »Männerbewegung« kämpft, ist das »Kindeswohl« wieder zum Synonym für die Forderung von Nähe und Aufsicht zwecks Schutzes vor der Außenwelt geworden.
Eine beliebte Metapher für die Anmutungen jener Außenwelt war schon im Vulgärfeminismus der achtziger Jahre die »Pornographie« – ein Begriff, der bereits in der »PorNo«-Kampagne von Alice Schwarzer, gelinde gesagt, sehr allgemein gefasst worden ist. Als »pornographisch« galten nicht nur, wie in der bürgerlichen Gesetzgebung, gewaltverherrlichende, sexuell erniedrigende Darstellungen, sondern zugleich alle ihre vermeint­lichen Sublimierungen, also etwa auch die Repräsentation stereotyper und voyeuristischer Frauenbilder in der Werbung, so dass die Frau­enbewegung sich im Kampf gegen den Sittenverfall zeitweilig, und teilweise zum Schrecken ihrer Anhängerinnen, nahezu einig mit dem Vatikan war. Mögen solche Kampagnen als Hinweis auf den ideologischen Charakter öffentlich propagierter Geschlechterrollen auch eine gewisse Wirkung gehabt haben, der Begriff der Pornographie wurde durch sie jedenfalls bedenklich strapaziert.
Demgegenüber scheint Ursula von der Leyens Kampagne gegen Pornographie im Internet von geradezu trennscharfer Begrifflichkeit zu sein, geht es hier doch ausdrücklich um Darstellungen sexueller Gewalt und die damit verbundene klandestine Kriminalität auf Basis der bestehenden Definition von Pornographie im bürgerlichen Recht. Dass die Bundesfamilienministerin ihrer Gesetzesinitiative einen überzeugenderen Begriff von Pornographie zugrunde gelegt hat als Emma, lässt sich also kaum leugnen, ist aber auch keine besondere Leistung.

Unheimlich bleibt trotzdem, mit welcher souveränen Orientiertheit plötzlich fast sämtliche Kabinettsmitglieder über mediale Darstellungen sprechen, die sie, der Lage der Dinge nach, doch selbst kaum je mit eigenen Augen betrachtet haben dürften. Noch wer aus harmlosen Gründen das Wort »Puppenstube« googelt, so wird nahegelegt, sei in Gefahr, in einem Sumpf von Schmutz und Perversion zu versinken, während umgekehrt jeder, der öffentlich bekennt, es versucht und kaum etwas Schlimmes gefunden zu haben, sich sexualpathologischen Verdächtigungen aussetzt.
Der fast schon begeisterte Eifer, mit dem eine Öffentlichkeit, die sich sonst an heruntergekommenen Gestalten wie Dieter Bohlen oder Stefan Raab delektiert, über ein Thema redet, das, wie man doch wohl hoffen darf, kaum ein Debattant aus eigener Erfahrung kennt, ist ein deutlicher Hinweis auf das Gewirr widersprüchlicher Emotionen, unbearbeiteter Ängste, Vorurteile und Realitätsfragmente, das allererst zu durchdringen wäre, bevor über die rein juristische Diskussion hinaus pädagogische Diagnosen über die »Pornographisierung« westlicher Gesellschaften erstellt werden.
Doch statt dessen macht sich der Eindruck breit, dass mit dem Thema Pornographie, mit dem doch gerade nicht leichtfertig und metaphorisierend umgegangen werden dürfte, nur ein weiteres Feld staatspädagogischer Intervention ­eröffnet worden ist, um den Menschen angesichts schwerer Zeiten zu zeigen, dass es immer noch Gebiete gibt, auf denen sie sich mit all ihrer moralischen Rigorosität »einbringen« und »bewähren« können. Die Frage, warum einem Phänomen, das doch angeblich alle guten Bürger abstoßend und schrecklich finden, eine derartige Wirkungsmacht zugeschrieben wird, dass man jeden einzelnen glaubt davor warnen zu müssen, fällt dagegen niemandem ein.