Über den bedrohten sozialen Frieden in Deutschland

Deutschland bleibt besonnen

Wo der »soziale Frieden« herrscht, sind soziale Unruhen unmöglich.

Auch eine überbordende Phantasie hat Grenzen: Es ist unmöglich, sich Michael Sommer als Barrikaden bauenden und Steine werfenden Straßenkämpfer vorzustellen. Der DGB-Vorsitzende und soziale Unruhen – diese Verbindung ist ausgeschlossen. Schließlich zählt es zu den Aufgaben deutscher Gewerkschaften zu vermeiden, dass lohnabhängig Beschäftigte mit konfrontativeren Mitteln als dem Griff zur Trillerpfeife zumindest ein erträgliches Leben einfordern. Das mussten auch französische Gewerkschafter in der vergangenen Woche erfahren, als sie während ihrer Teilnahme an den Protesten bei Continental in Hannover von deutschen Kollegen wiederholt zur Ordnung gerufen wurden.
Die Aufregung über Sommers Raunen von den möglichen »sozialen Unruhen auch in Deutschland« scheint also angesichts der erwiesenen Loyalität des DGB-Vorsitzenden und seines Vereins zur Deutschland AG absurd zu sein. Doch allein schon die Rede von Unruhen rührt ans Allerheiligste: den »sozialen Frieden«. Auf diesen ist man hierzulande gerade im nationalen Jubeljahr und trotz der Krise stolz, glaubt man doch ein besseres Geschäftsmodell hervorgebracht zu haben als den US-amerikanischen »Raubtierkapitalismus«. Von diesem unterscheidet sich die deutsche »Sozialpartnerschaft« tatsächlich erheblich: Das Eigeninteresse, der individuelle Vorteil sind dem »Gemeinwohl«, dem »öffentlichen Interesse« oder dem »Standort« unterzuordnen. So soll es auch bleiben, nichts anderes ist gemeint, wenn der Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in einer Antwort auf Sommer anmahnt, »mit gemeinsamen Anstrengungen die Folgen der Krise zu bewältigen«.
Die Errungenschaften des »sozialen Friedens« sind selbst in Auszügen eindrucksvoll: Die Ungleichheit der Einkommen und die Armut hat einer OECD-Studie vom vergangenen Jahr zufolge hierzulande stärker als in allen anderen Industrie­nationen zugenommen; nirgendwo anders in Europa arbeiten weniger Frauen in Führungspositionen und nimmt der Unterschied zwischen den Durchschnittslöhnen von Männern und Frauen derart zu; das Bildungssystem ist darauf angelegt, Kinder aus der Unterschicht auch als Erwachsene nicht aus diesem sozialen Status entkommen zu lassen; das Sozialsystem bringt Langzeitarbeitslose in großer Zahl hervor, die der unmittelbaren staatlichen Verfügungsgewalt unterstehen. Zustände wie diese werden in der Krise nicht besser. Man könnte sich also nur wünschen, dass der Frieden empfindlich gestört würde.
Das ist freilich nicht zu erwarten. Die Deutschen verhalten sich »bisher sehr besonnen« (Ulrich Wilhelm), d.h. sie haben die Gemeinschaftsideologie vom »sozialen Frieden« derart verinnerlicht, dass sie sich aus Willen zum Verzicht für die nationale Sache nicht einmal Geld schenken lassen würden, wie Umfragen zur Vergabe von Konsumgutscheinen im vergangenen Jahr gezeigt haben.
»Ich kann mir vorstellen, dass in zwei bis drei Monaten die Wut der Menschen deutlich wachsen könnte«, befand Gesine Schwan in der vergangenen Woche. Unwahrscheinlich ist das nicht, wenn sich die Krise erst einmal richtig auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht. Doch angesichts von Menschen, die sich individualistische Regungen und das Eigeninteresse im Namen des »sozialen Friedens« ausgetrieben haben, dürfte diese Wut schlicht in ihrer nur allzu bekannten Form auftreten: als furor teutonicus.