Über den 300-Euro-Vorschlag der SPD

Erbarmen mit der SPD!

Der Vorschlag, 300 Euro an jeden zu zahlen, der auf seine Lohnsteuererklärung verzichtet, ist so bedeutungslos wie das gesamte Wahlprogramm der Sozialdemokraten.

Die derzeitigen staatlichen »Rettungsaktionen« für den Kapitalismus haben – wie könnte es anders sein? – Klassencharakter: In den bedrohten Banken liegen die Guthaben von reichen Leuten. Sie sollen nicht verloren gehen. Die Staatsverschuldung ermöglicht ängstlich gewordenen Geldvermögensbesitzern die Chance auf sichere Anlagen und künftige Zinsen. Im Fall der Hypo Real Estate geht es sowohl um Privateinlagen als auch um die großen Mengen von Bundesschatzbriefen, die in diesem Institut lagern. Wäre die Bank pleite gegangen, könnte so manches Vermögen, das in Bundesschatzbriefen festgelegt war, nicht mehr vererbt werden.
Die marktliberale Lehre, wonach eine Krise nützlich sei, denn sie beseitige überflüssige Kapazitäten, ist schneller entwertet worden als die Guthaben und die Autofabriken. Überließe man den Markt jetzt sich selbst, träfe es die Paradebranche des Neoliberalismus am stärksten. In den vergangenen drei Jahrzehnten wuchs die Finanzindustrie schneller als der produzierende Teil der Wirtschaft insgesamt und noch viel schneller als die Autobranche, die dennoch nach Möglichkeit geschont werden soll. New und Old Economy klammern sich aneinander. Der unvermeidliche Schnitt muss wohl hinausgezögert werden.
So könnte es sein, dass die gegenwärtige Rezession eben keine Reinigungskrise sein wird.

Zu den schutzbedürftigen Sektoren, die in den vergangenen Jahren von der Abwrackung bedroht waren, gehört auch das, was man manchmal etwas allgemein als »die Politik« bezeichnet: Staat und Parteien. Deren Legitimation könnte dann wieder zunehmen, sollten sie eine Klientel aus­findig machen, die sich von ihnen retten lässt.
Als die Kanzlerin im Herbst 2008 an einem Wochenende die Einlage der Sparkassen garantierte, bluffte sie: Im Ernstfall hätte sie nicht das Geld gehabt, um die Konten zu retten. Aber sie hat doch erfolgreich gezockt: Der Ansturm auf die Schalter, der die Geldinstitute hätte ruinieren können, blieb am Montagmorgen aus.
Nun versucht die SPD einen ähnlichen Coup, und zwar mit gutem Timing. Es ist April, bis zum 31. Mai müssen die Steuererklärungen abgegeben werden. Besserverdienende haben ihre mit Hilfe des Steuerberaters schon Anfang des Jahres eingereicht und freuen sich darauf, dass die Rückerstattung noch vor dem Sommerurlaub eintrifft. Ganz anders steht es bei den Menschen, die keine Quittungen für Werbekosten vorlegen können und auch sonst nichts abzusetzen haben. Der Weg zum Steuerberater ist für sie überflüssig und kostet noch dazu. Es geht also um Gering- und Nichtverdiener. Wenn sie keine Steuererklärung abgeben, sollen sie nach den Plänen der SPD 300 Euro aufs Konto bekommen.
Es handelt sich um eine Variante der Idee mit den Barschecks, über die vor ein paar Monaten dis­kutiert wurde: 500 Euro für alle, um die Nachfrage zu beleben. Dem Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) gefiel dies gar nicht, andere kritisierten das »Gießkannenprinzip« einer derartigen Maßnahme. Lieber sollten nur die Armen beschenkt werden, weil die das Geld gleich ausgeben würden. An dieser Stelle endete die Debatte, die nunmehr von der SPD mit größerer Zielgenauigkeit wieder aufgenommen wird.

Der Vorschlag hat eine konjunktur- und eine sozialpolitische Seite. Ob eine solche Spende wirksam gegen die Rezession sein würde, ist offen. Es gibt ein Gegenbeispiel: Als in Großbritannien die Mehrwertsteuer um drei Prozent gesenkt wurde, stimulierte dies nur für kurze Zeit den Verbrauch. In Deutschland scheint gegenwärtig der Konsum keinen besonderen Stimulus zu benötigen. Die Menschen kaufen viel, zum Teil wohl wegen der Lohn­erhöhungen, die ihnen als Spätfolge des inzwischen verendeten Booms zukamen. Karstadt und Quelle dürften von solchen 300-Euro-Geschenken allerdings nicht genügend profitieren, um wieder zu florierenden Unternehmen zu werden, sie gehö­ren zu den Überkapazitäten im Einzelhandel, die in der Krise eben besonders schlecht dastehen.
Sozialpolitisch spricht der Vorschlag für die SPD, wenn man bereit ist, von den Interessen der Armen auszugehen. Sie werden das Geld gut gebrauchen können.
Dass die Idee Wahlkampfzwecken dient, kann kein Vorwurf sein. Realisiert wird sie sicher nicht, weder von der Großen Koalition vor September, noch von irgendeiner anderen denkbaren Regierung danach. Der Vorschlag ist also der Sache nach ebenso bedeutungslos wie das gesamte Wahl­programm der SPD, einschließlich der so genannten Reichensteuer.
Es wird vermutet, bei all den sozialen Vorschlägen der SPD handele es sich um Maßnahmen, mit denen sie sich gegenüber der Linkspartei behaupten will. Vielleicht ist es tatsächlich so, aber das wäre dumm. Die zeitweilige Etablierung der Partei Oskar Lafontaines ist nun einmal passiert und kann nicht innerhalb weniger Monate rückgängig gemacht werden. Auch scheint die Konkurrenz bereits an ihre Grenzen zu stoßen. »Die Linke« schwächelt in der Krise. Sie stagniert in den Umfragen bei zehn bis elf Prozent, ein Ins­titut sah sie zwischendurch sogar bei nur acht Prozent. Die Idee mit den 300 Euro bei gleichzeitigem Verzicht auf die Steuererklärung hätte auch von ihr stammen können, aber sie ist einfach nicht darauf gekommen.
Um wie viel »Die Linke« am 27. September über der Fünf-Prozent-Hürde liegen wird, weiß man noch nicht. Doch selbst wenn sie diese verfehlen würde, wäre der SPD damit nicht geholfen. Wer »Die Linke« nicht wählt, wählt vermutlich auch nicht die SPD, sondern bleibt zu Hause.
Die vielen seit Gerhard Schröder verlorenen Wählerstimmen sind mit dem gegenwärtigen Personal und angesichts der Tatsache, dass die SPD noch in der Großen Koalition ist, nicht wiederzugewinnen. Selbst der Vorschlag, den Spitzensteuersatz zu erhöhen, könnte gegen sie verwendet werden, denn der wurde erst unter Hans ­Eichel und Gerhard Schröder gesenkt und bliebe auch mit der nunmehr proklamierten Anhebung noch unterhalb des Tarifs zu den Zeiten Helmut Kohls. Und dass Frank-Walter Stein­meier sich in der Rhetorik Schröders versucht, beruht auf der falschen Annahme, die Leute ­fielen zweimal auf dieselbe Masche herein.

Vielleicht zielt der 300-Euro-Vorschlag weniger nach links als in die Mitte – auf die Schnittmenge zwischen den Wählern der Union und der SPD. Nach wie vor sind CDU und CSU im Vergleich zur SPD die zahlenmäßig größeren Arbeiterparteien. Mit Horst Seehofer und Jürgen Rüttgers haben sie sogar Populisten in ihren Reihen, die sich mit Lafontaine messen können.
Selbst der Versuch eines Lagerwahlkampfs wird der SPD wohl wenig nützen. Seit Schröder hat sich die Partei zu einer abhängigen Variablen der großen kapitalistischen Medien gemacht. Deren Hohn prasselte sofort nach der Veröffentlichung der 300-Euro-Idee auf sie nieder und wird seine Wirkung auf die umworbene linke Mitte nicht verfehlen.
Wer kein Kapitalist ist, kann sich darüber nicht freuen. Da die Linkspartei auch nicht besser ist als die SPD und bestenfalls dafür sorgen kann, dass diese nicht völlig nach rechts abdriftet, bleibt dem unbefangenen Beobachter nicht viel mehr übrig, als die Hände zu ringen und um ­Erbarmen für die SPD zu flehen.