Zwei Erzählungen.

Welch ein Glück

Von Männern und Frauen, die die Orientierung verlieren.

Sternenhimmel
Sie kaufte Austern, Thunfisch und Lachs. Dann wollte sie noch Kaiserhummer, dann wollte sie doch nicht mehr, sie war so hektisch, mit glühenden Wangen, der Fischhändler flirtete mit ihr, schließlich entschied sie sich für Krebs. Draußen war es kühl und windig, sie stieß aus Versehen ihr Fahrrad um, der Fischhändler eilte herbei und hob es für sie auf, ja, er legte sogar ihre zahlreichen Tüten in den Fahrradkorb, seine Hilfsbereitschaft nahm kein Ende. Er lächelte, und sie lachte, er winkte begeistert, als sie endlich anfing loszugehen, sie wankte mit dem schweren Rad. Sie beeilte sich. Sie ließ ihre Schlüssel fallen. Noch im hässlichsten und deprimiertesten Gesicht, das ihr entgegenkam, sah sie Schönheit. Sie warf mit Geld um sich: einen riesigen Strauß Lilien, Weißwein, Rotwein, Schnaps, Champagner, Mangos, Steaks, Brot und Kuchen vom teuersten Bäcker der Stadt. Sie schleppte alles nach Hause und nahm ein Bad. Aber da hielt sie es auch nicht lange aus, sie war ja so wahnsinnig verliebt. Sie cremte sich ein, machte ihr Haar und schminkte sich. Sie schlüpfte in die neue Unterwäsche, ah, Seide und Spitzen, dann kamen das Kleid und die hochhackigen mitternachtsblauen Schuhe, in denen sie kaum herumstaksen konnte, aber sie konnte eben doch, alles konnte sie. Und all diese Dinge, die sie noch schöner machten, die so schmackhaft waren, so jubelnd, hatten zum großen Teil dazu beigetragen, dass sie ihr Konto überzogen hatte. Natürlich kamen noch der Friseurbesuch, die Tanzstunden, der kupferne Topf und die ökologische Bettdecke dazu. Ganz zu schweigen vom Sofa und einer Unmenge Musik, die sie eingekauft hatte, um Eindruck auf ihn zu machen. Ihn. Er kam am späten Nachmittag, und sie blieben mehr als eine halbe Stunde im Entree stehen und küssten sich. Bis er so stark schwitzte, dass es ihm aus den Haaren tropfte; er hatte immer noch den Mantel an und den Hut auf dem Kopf. Schließlich knöpfte sie seine Hose auf. Sie wälzten sich in dem engen Eingang, er zerriss ihr Kleid, als er es ihr über die Hüften ziehen wollte. Sie wurden fast besinnungslos vor Erregung. Aber dann war alles ganz schnell vorbei; sie konnten sich nicht beherrschen. Sie jammerte selig, Tränen rannen ihr die Wangen hinunter. Er konnte nicht aufhören, ihr Gesicht, ihre Schultern und kleinen zarten Finger zu küssen.
Dann hatten sie Hunger. Er zündete Kerzen an. Sie strahlte. Sie tranken tüchtig, während sie einen leckeren Gang nach dem andern zu sich nahmen, aber nichts war genug, sie waren unersättlich; es war ihnen schier unmöglich, auf das Nächste zu warten – kaum hatten sie sich vom Boden oder Sofa oder Bett erhoben, freuten sie sich schon darauf, es noch einmal zu machen, wenn sie nicht mehr essen, keinen Kaffee, keinen Wein mehr trinken konnten, ja, dann waren sie beinahe unglücklich, warten zu müssen, bis sie es wieder könnten …
Doch welche Seligkeit! Sie konnten nicht schlafen, nicht arbeiten, nicht denken (nur aneinander), nicht essen (nur miteinander); sie brachen in kalten Schweiß aus und fieberten und riefen sich mindestens zehnmal am Tag an. Er verlor an Gewicht. Sie nahm fünf Kilo zu. Er bekam plötzlich dreimal hintereinander Mittelohrentzündung, sie litt an einem juckenden Ausschlag, dann kriegte er Pickel im ganzen Gesicht, ihr fielen massenhaft die Haare aus – aber das kümmerte sie alles überhaupt nicht, wenn sie sich nur aneinander reiben konnten wie Hunde, die sich am Bein ihres Herrchens rieben. Sie rieben, sie drängten und fingerten und streichelten, und sie rissen und rubbelten und knutschten, sie öffneten sich wie Schleusen, scheinbar entströmten ihnen unglaubliche, ungeheure Wassermassen, alter Kummer, Freude, die Vergangenheit selbst wurden hinausgespült, während sie das Wasser des andern aufschleckten, sich überschwemmen ließen, sich mit Liebkosungen, Küssen und süßen Worten überhäuften.
Jetzt waren sie ordentlich betrunken. Er fütterte sie mit Schlagsahne. Auf einmal wurde sie sehr energisch, stand auf und legte Musik auf, schrie: »Jetzt brauchen wir einen Gin Tonic!«, und den bekamen sie auch, sie kletterte auf seinen Schoß, dann wollte er plötzlich tanzen, und das war toll, das hatten sie noch nie probiert, zusammen zu tanzen, echt aufregend, ein Meilenstein, heiß. Zwischendurch hatten sie wieder Sex, diesmal auf dem Küchentisch, ein großes Tranchiermesser fiel vom Tisch und bohrte sich wenige Zentimeter neben seinem Fuß in den Boden, sie lag mit dem Hinterkopf in einem Häufchen geriebenem Parmesankäse, seine Ärmel saugten Tomatensaft vom Wiegebrett. Die Musik donnerte aus den Lautsprechern. Sie heulte, er brummte. Dick und weiß lief ihr der Samen die Schenkel hinunter. Sie stippte etwas mit dem Finger auf und leckte es ab. Er war ganz atemlos vor Freude und Dankbarkeit. Jetzt war er es, der fast wimmerte. Er hob sie hoch und trug sie zum Bett. Sie waren blau, sie musste sich übergeben, er musste pissen, aber keiner wollte einen derart unvergesslichen Moment verderben, keiner wollte aufstehen und den anderen verlassen. Sie schliefen ein und hatten noch die Schuhe an. Am nächsten Morgen hatten sie einen fürchterlichen Kater. Jetzt brauchten sie Kaffee. Und so die ganze Zeit. Mittag­essen in einem der exklusivsten Restaurants der Stadt. Wieder Kaffee. Dann ins Kino und Händchen halten und im Dunkeln lüstern werden. Sex im Klo einer Bar. Und wieder Kaffee. Ein wenig schlafen (sie schliefen nicht). Und alles wieder von vorn, Tag für Tag, fast fünf Monate lang.
Er saß auf seiner Arbeit und schaute nur aufs Telefon. Er konnte sich unmöglich konzentrieren, seine Kollegen lachten über ihn. Er sah sie in allen Gesichtern, hörte sie in allen Popsongs, und wenn er die Augen schloss: immerzu das verschleierte Bild ihres zurückgeworfenen Kopfs, die heftige Schönheit ihres Gesichts, der offene Mund, wenn der Orgasmus sie durchflutete.

Es ruinierte sie. Es war ihnen gleichgültig. Sie kauften ein Haus. Dann wollten sie nach Spanien. Dann nach New York. Durch Polen fuhren sie mit dem Motorrad. Sie heirateten in Las Vegas. Dann bekamen sie ein Kind. Und bereits zwei Wochen nach der Geburt waren sie wieder zugange: Sie fickten schlichtweg in den Pausen zwischen den Mahlzeiten des Kindes, da gab es keine Müdigkeit und saure Muttermilch, da gab es nur sie, wild und wirr, und nun auch eine tiefe, schwindlig machende Liebe, das konnten die beiden, die Welt war ein Ort geworden, den sie mit Leichtigkeit einnahmen, von A bis Z, da wurde nicht gekleckert, und Angst durchzufallen gab es auch nicht. Sie fühlten sich verwandelt, und pausenlos versicherten sie sich gegenseitig ihrer Erkenntnis: Wir haben einander verwandelt, wunderbarerweise, Segen ohne Ende.
Und dann doch. Es trat etwas ein. Er begegnete einem Mann. Einem Mann, der ihm immer näherkam. Er war im selben Betrieb angestellt, eine gemeinsame Aufgabe führte sie durchs ganze Land. Es war Spätsommer. Sie saßen im Auto und hörten Musik. Näher, immer näher. Und seine Schleusen waren ja geöffnet. Es strömte. Es lief. Eine vage Phantasie wurde plötzlich sehr konkret. Die Begierde sehr unausweichlich. Es war ihm ja nie in den Kopf gekommen, dass er wirklich wollte. Aber dieser Mann wollte. So fand er sich unversehens auf Knien wieder und schluckte ihn, dort im Hotel. Ein Sternenhimmel, alles funkelte. So sanft zu sein, beinahe rund, nachgiebig, empfänglich, wie ein Gör, ein Kind, es zerriss ihm fast das Hirn, und gerade das war ja so toll, so wahnsinnig befreiend. Er staunte. Er fühlte sich vollkommen. Wenn er von ihm zu ihr ging, vollkommen erlöst, und den umgekehrten Weg nahm, vollkommen vital – frei konnte er wechseln zwischen den Rollen: ihr Mann zu sein (verantwortlich, verliebt), Vater des Kindes zu sein (zärtlich, aufmerksam), und schließlich das Glied seines Geliebten in den Mund zu nehmen und zu tun, was von ihm verlangt ­wurde.
Welch ein Glück.

Und sie. Sie hatte den Eindruck, es gehe ihnen immer besser, obwohl es eigentlich gar nicht zu verstehen war, dass es überhaupt besser werden konnte. Bewundernd schaute sie ihn an, wenn er sich nach dem Duschen abtrocknete. Sie fiel ihm um den Hals und drückte ihn. Er griff um ihre Pobacken, grub seine Nase tief in ihr Haar. Sie lachten und machten das Fenster auf, damit der Dampf entweichen konnte. Sie gingen im Wald spazieren. Das Kind versuchte auf den gewaltigen, aufgestapelten Baumstämmen zu balancieren, die mit Rot markiert waren. Ein Fasan lief über den Pfad. Es knisterte und raschelte auf dem Waldboden; ein milder und grauer Februartag. Er schwang sie herum, sie lachte wieder. Ihre Hände fuhren ihm unter das Hemd und streichelten seinen Rücken. Er küsste ihre Augen. Sie hatten es so gut. Und es ging lange gut, drei Jahre fast, es ging immer besser, der Geliebte brachte noch einen Kumpel mit, jetzt waren zwei Männer zu bedienen, er hatte echt zu tun, aber das war die Sache wert. Er schämte sich kein bisschen. Denn sie gab ihm Kraft. Sie liebten sich schließlich mit so viel Macht, dass sie nur daran wachsen konnten.

Dann aber sah das Kind seinen Vater in einer Einfahrt, er küsste einen Mann. Sie kam mit ihrer Großmutter vom Kindergarten. Und das Kind konnte gut erkennen, dass es sich nicht um einen alltäglichen Kuss handelte, weil nämlich ihr Vater und der Mann gar nicht mehr aufhörten, das Unheimlichste aber war, dass der Mann den Nacken von Papa im Griff hatte und ihn gleichsam nach unten zog. Das Kind stand mucksmäuschenstill.
Am Abend sagte sie zu ihrer Mutter: »Ich hab’ gesehen, wie Papa einen dicken Mann geküsst hat.« Die Mutter lachte. »Was ist denn das für ein Unsinn?!« Er stand in der Küche und trocknete Teller ab. Er erstarrte. »Das war bestimmt einer von Papas Freunden.« Dann legte sie das Kind ins Bett. Er war damit beschäftigt, die Birne in der Dunstabzugshaube zu wechseln. »Hast du gehört, was sie gesagt hat?« »Nee, was denn?« »Sie hat gesehen, wie du einen dicken Mann geküsst hast!« Er lächelte. »Hast du einen dicken Mann geküsst, Schatz?« Sie musste prusten. Er schüttelte lachend den Kopf und fing an, die Birne einzuschrauben. »Die Kleine! Das muss irgendwas Ödipales sein!« Sie lachten. Die Birne leuchtete weiß in der Abzugshaube. Aber dann wurde sie still und kratzte mit den Nägeln auf dem Lack des Küchentischs herum. Und blickte ihn mit tränennassen Augen an. »Aber Schatz, du weinst doch nicht etwa?« Er legte die Arme um sie. »Schatz, du weinst doch nicht etwa wegen nichts?« Er strich ihr übers Haar. Sie beruhigte sich und schnupperte an seiner Achselhöhle: es duftete nach Nadelwald, Erde, warmem Regen.

Er wurde vorsichtiger. Küsse im Hauseingang kamen nicht mehr in Frage. Neuer Treffpunkt. Aber nach wie vor Sex. Mindestens einmal pro Woche. Er war davon abhängig, er brauchte das. Aber dann sagte der Geliebte Stopp. Er hatte einen anderen gefunden und meinte, ihre Beziehung sei ausgebrannt. War schwer, die Enttäuschung zu verbergen. Er legte im Esszimmer neue Dielen. Das half. Sie schliefen fleißig miteinander. Das half auch. Die Zeit verging. Wirtschaftlich befanden sie sich mitt­lerweile auf einer stabilen Grundlage. Es kam noch ein Kind. Sie unterstützten sich gegenseitig bei der Hausarbeit, erfreuten sich ihrer Kinder, sie schafften es einfach, dass der Laden lief. Plötzlich, an einem Abend im Winter, als er oben allein an irgendeiner Arbeit saß, überkam es ihn. Heftig und brennend. Er nahm das Auto, fuhr in die Stadt und parkte vor einer Bar, die er aus seiner Teenagerzeit kannte. Er und seine Freunde hatten sich über die Ledermänner lustig gemacht, hatten aufgekratzt und herablassend über sie gelacht, die aus dem Lokal kamen – jetzt war er es selber, der mit einem großen Mann mittleren Alters aus dem Dunkel trat, sie gingen zu einem Klub in der Nähe, wo der Mann Mitglied war, sie zogen sich aus, wuschen sich, fanden eine Ecke, wo sie es taten, um sie herum waren andere zugange, es war ein Gestöhne und ein Geruch nach Schweiß, was ihn ganz schwindlig machte.

Etliche Jahre später, als sie etwas anderes sucht, findet sie zufällig in den Tiefen des Schranks die mitternachtsblauen Schuhe. Sie haben Kaffeeflecke. Sie streichelt sie lächelnd. Es war der Tag, an dem ich Austern gekauft hatte, als er mein schönes Kleid zerriss. Sie ist nackt und wühlt nun in dem Fach mit der Unterwäsche. Das Ding ist groß, und sie mag es. Er hatte es ja für sie gekauft, aber dann stellte sich heraus, dass er es auch mochte, wenn sie es in ihn steckte. Es hatte sie überrascht, dass sie auf so etwas kommen konnte. Dass sie das mochte. Und es hatte sie überrascht, dass er es mit sich geschehen ließ. Aber, denkt sie und schließt den Schrank, zwischen uns ist eben so eine Verbindung. Wir spüren einander. Dann zieht sie die Schuhe an und beschaut sich im Spiegel. Immer noch schön, ihre Haut im Halbdunkel ist matt und weiß. Er liegt bereits auf dem Bett, klar und bereit, »wie herrlich du bist«, flüstert er und zieht sie zu sich herunter.

Bunte Mischung
Wir arbeiteten uns durch den langen Einkaufszettel und landeten schließlich am Regal mit den Süßigkeiten. Wir suchten uns zwei Beutel Bunte Mischung aus. Du legtest sie in den großen geflochtenen Einkaufskorb, den deine Mutter auf Bali gekauft hatte. Wir nahmen auch einen Schokoladenriegel, packten ihn aus und brachen ihn in zwei Teile. Fast heißhungrig schlangen wir die süße, klebrige Masse hinunter. Dann gingen wir zur Kasse und legten die Waren aufs Band. Du dachtest auch an das Papier des Schokoriegels. Das Mädchen an der Kasse warf es vor unseren Augen in den Papierkorb. Ich bezahlte. Und dann wurdest du von einer kleinen, mageren Frau mit Brille und grauen strähnigen Haaren angehalten. »Was bitte ist das da?« fragte sie und zeigte in den geflochtenen Korb. »Oh«, sagtest du, »das habe ich ganz vergessen.« Du hast das junge Mädchen angelächelt. »Sie müssen entschuldigen.« »Entschuldigen reicht nicht«, sagte die Frau, »was ist denn das?« Die Leute guckten. »Was wollen Sie eigentlich? Süßig­keiten natürlich.« »Haben Sie dafür bezahlt?« »Nein, hab ich doch gesagt. Wir haben vergessen, es aufs Band zu legen.« Dein Hals überzog sich bis zur Brust mit roten Flecken. »Jetzt lassen Sie uns doch dafür bezahlen«, sagte ich. »Und Sie sagen, das sind Süßigkeiten?« fragte die Frau. »Ja.« Sie schob ihre Lippen vor und zog sie zu einem unangenehmen Lächeln herunter. »Das ist Diebesgut«, sagte sie, »und mir ist vollkommen egal, was Sie vergessen haben und was nicht, Sie kommen jetzt mit mir mit.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragtest du verwirrt. »Ich will genau das sagen, was ich gesagt habe«, sagte die Frau und schob ihre Brille nach oben. »Sie müssen schon entschuldigen«, sagte ich, »wir lassen jeden Tag im Sommer Tausende von Kronen in Ihrem elenden Geschäft.« Ich regte mich auf. »Und dann wollen Sie meine Frau bestrafen wie ein kleines Kind, weil sie zwei lumpige Tütchen Süßigkeiten vergessen hat!?« Ich fuchtelte ihr mit dem einen Beutel vor der Nase herum. »Hier«, sagte ich, »nehmen Sie Ihr Geld!« Ich schmiss eine Hand voll Münzen auf das Warenband. Das junge Mädchen an der Kasse sah nicht sehr glücklich aus. Das Geld verklemmte sich in dem Schlitz, wo das Band im Kassentisch verschwindet. Ein Deutscher, der gerade dabei war, seine Waren in einen großen Pappkarton zu legen, versuchte die Münzen freizubekommen. Schließlich hielt das Mädchen das Band an. Hinter uns hatte sich eine lange Schlange gebildet, lauter Leute mit vollgepackten Einkaufswagen, die an eine andere Kasse gebeten wurden. Währenddessen sagte die Frau mit der Brille: »Tut mir außerordentlich leid, mein Herr, es geht nicht darum, ob Sie jetzt zahlen wollen, es geht um Diebstahl, dafür haben wir in diesem Geschäft ein bestimmtes Verfahren, und Ihre Frau kommt jetzt mit!« Ihre Hand umschloss fest deinen Arm. Du warst dem Weinen nahe. »Thomas«, flüstertest du. »Nur Ruhe, ich komme mit«, sagte ich und räumte unsere Sachen zusammen. »Damit wir das hinter uns bringen!« rief ich. »Und zwar pronto!« »Ihre Frau wird allein verhört, mein Herr. So sind die Regeln.« »Ich will den Geschäftsführer sprechen!« schrie ich. Du sahst auf den Boden. Sie hatte dich nach wie vor am Arm gepackt und ging jetzt mit dir fort. Du leistetest keinen Widerstand. Ich wandte mich an das Kassenfräulein. »Schaffen Sie mir auf der Stelle den Geschäftsführer von diesem Scheißladen her!«, schrie ich. Das Mädchen sah verängstigt aus. Sie drückte die Klingel. Ich konnte weder dich noch die dünne Frau sehen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis der Filialleiter kam. Ich erregte mich in der Zwischenzeit noch mehr darüber, dass die Frau bemüht war, dich weitestmöglich zu demütigen, indem sie mich mit »Herr« ansprach und dich wie ein kleines Kind behandelte. Der Filialleiter erwies sich als ein gutmütig aussehender Mittdreißiger. Empört erklärte ich ihm die Situation. Der Filialleiter duckte sich. »Für die Arbeit des Ladendetektivs bin ich leider nicht zuständig. Die Vorgehensweise bei Diebstahl ist in allen unseren Filialen gleich.« »Es ist kein Diebstahl!«, schrie ich und hätte den armen Kerl fast am Kragen gepackt. »Führen Sie mich sofort zu meiner Frau!« »Es tut mir leid«, sagte der Filialleiter und lächelte entschuldigend. »Ich darf das nicht.« Wütend schleuderte ich die Süßigkeiten auf den Boden und drängte mich durch die Kasse. Ich lief durch die Gemüseabteilung und riss die Metalltür zur Schlachterei auf. Zwei Männer mit blutverschmierten Schürzen sahen mich überrascht an. Sie waren damit beschäftigt, Hackfleisch zu verpacken. »Wo ist das Büro?« Der eine Schlachter kam auf mich zu. »Kommt drauf an, welches Büro.« Als ich es ihm erklärt hatte, schüttelte er den Kopf. »Sorry. Da kann ich leider nichts machen.« Ich knallte die Hand auf den Tisch und rannte zu einer Tür an der hintersten Wand des Raums. Aber die führte zum Parkplatz. Ich lief ins Geschäft zurück. Ganz hinten, hinter den Weinregalen, fand ich eine Tür. Sie war abgeschlossen. Ich fing an dagegenzuhämmern. Ich rief deinen Namen. Die Leute guckten erschrocken. Mit rasselnden Schlüsseln am Gürtel stapfte ein Wachmann auf mich zu. Und weil ich ihm nicht folgen wollte, packte er mich und zerrte mich durch das Geschäft. Ich schrie und brüllte. Er war stark. Er hievte mich auf die Straße. »Vielen Dank und auf Wiedersehen«, sagte er. »Ist das klar?« Ich trat gegen ein geparktes Auto. »Ihr kommt mir nicht so einfach davon«, zischte ich, »das gibt eine Anzeige, die sich gewaschen hat!« Er sah mich arrogant an. »Ist wohl leider Ihre Frau, die hier angezeigt wird. Und tschüs!« Ich trat auf ihn zu, und er schubste mich, fast wäre ich über den Bordstein gestolpert. Er zog seine Hose hoch, dass die Schlüssel klirrten, und ging in den Supermarkt zurück. Ich war außer Atem. Ich schwitzte. Ein muskulöser junger Mann tippte mir auf die Schulter. »Sag mal, hab ich das hier grade richtig gesehn, dass du gegen meinen Wagen getreten hast, he? Ich finde, das solltest du lieber bleiben lassen.« Hinter ihm bauten sich noch zwei andere auf. Ein langer, schlaksiger Typ und ein dunkelhaariger Fettsack. »Was meint ihr, Jungs? Darf so einer einfach gegen den Benz treten?« »Jetzt hör mal auf, Mann, ist doch gar nichts passiert«, sagte ich und wollte gehen. Aber der Fettsack drehte mir den Arm auf den Rücken. »Macht mal eben fünfhundert Piepen, du.« Und als sich die andern dicht um mich stellten und fragten, ob sie die Knete selber suchen sollten oder ob ich erst mal ein paar in die Eier wollte, gab ich auf. Mit meiner freien Hand zog ich ein paar zerknüllte Scheine aus der Tasche. Und der lange Schlaks grinste zufrieden, als er sie annahm und entdeckte, dass es siebenhundert waren. »Danke, mein Lieber, ich glaube, das geht in Ordnung so.« Der Fettsack stieß mich weg, und diesmal fiel ich der Länge nach hin.
Ich hatte mir die Haut am Knie abgeschürft, es blutete. Eine Frau fragte mich, ob ich Hilfe brauchte. Die Sonne blendete mich. Ich merkte, dass mich eine kleine Gruppe von Leuten umringte. Ich richtete mich auf und humpelte weg. Ein junges Mädchen, an dem ich vorbeikam, mur­melte: »Guckt euch den an, der ist doch stockbesoffen.« Im Laden stand der Filialleiter und wartete auf mich. »Ich muss Sie bitten, das Geschäft unverzüglich zu verlassen. Die Kunden werden langsam unruhig. Wir können dafür keine Verantwortung übernehmen.« Verantwortung! Ich schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen. Demonstrativ zog ich mein Telefon aus der Tasche und rief die Ortspolizei an. »Polizei!« fauchte ich, um ihn nicht im Zweifel zu lassen. Ein unverschämter Beamter berichtete mir, dass sie bereits mit dem Ladendetektiv gesprochen hätten, der den Diebstahl angezeigt habe. Meine Frau würde in den nächsten Tagen von ihnen hören. Ich solle nicht so sicher sein, dass sie mit einer Geldbuße davonkomme, es könne durchaus zu einer Strafanzeige kommen, wie er sagte. Der Filialleiter berührte mich sanft am Arm. »Nun regen Sie sich doch nicht auf, es wird sich schon wieder einrenken.« Mit kräftigem Schwung riss ich meinen Arm an mich. Dabei stieß ich eine Pyramide von Dosen um, Hühnchen mit Spargel. Die Dosen stürzten um und zogen sich gegenseitig mit, es war ein ungeheures Getöse. Sie rollten in alle Richtungen. Meine Hand pochte vor Schmerz. Ein kleines Mädchen stolperte über eine Dose und fing an zu heulen. Ihr Vater kam herbeigestürzt. »Verdammt noch mal, was machst du da, du Irrer?!« Er stand dicht vor mir, hob seine Hand, als wollte er mich schlagen, besann sich aber eines anderen, als das Mädchen ihn am Hosenbein zog. »Scheißkerl, Mann«, fauchte er und stierte mich böse an. Dann nahm er das Kind auf den Arm, zeigte mir den Mittelfinger und latschte in seinen Plastiksandalen von dannen. Die Leute glotz­ten mich kopfschüttelnd an. Einige fingen an, die Dosen aufzusammeln. Der Filialleiter packte mich an der Schulter. »Jetzt reicht’s aber«, sagte er verbissen, »jetzt gehen Sie.« Er gab mir einen Stoß. »Und lassen Sie sich nicht einfallen, noch mal wiederzukommen.«
Und plötzlich standest du vor mir, blass und verweint. Vielleicht hattest du schon lange da gestanden. Im Hintergrund konnte ich das strenge, triumphierende Gesicht der Dünnen erkennen. »Raus jetzt!« Der Filialleiter hob die Stimme. Deine Hand glitt in meine. Wir müssen wie geprügelte Hunde ausgesehen haben. Dann fingen wir langsam an zu gehen, und als wir auf den Parkplatz kamen, brachst du schluchzend zusammen. Ich legte meinen Arm um dich. Die Luft flimmerte vor Hitze. Wir hatten unseren Einkauf vergessen und gingen nicht zurück, um ihn zu holen. Ein blauer Mercedes dröhnte hupend an uns vorbei, durch die offenen Fenster grölten sie lachend zu mir herüber. Ich sah dich an, und einen Augenblick lang dachte ich, ich könne dich nicht wiedererkennen. Dein Gesicht erinnerte mich an einen zerschlissenen, zertretenen Ball, der am Rand einer großen grünen Wiese vergessen worden war. Zerfetzt, grau und hohl. Ich ließ dich stehen und setzte mich ins Auto. Ich hatte auf einmal keine Lust mehr, dich zu berühren. Ein paar Sekunden später bist du schniefend auf die Hinterbank geklettert. Ich gab Gas, und als wir aus der Stadt kamen, hörte ich dich ein paar mal aufstöhnen, weil ich viel zu schnell fuhr.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Naja Marie Aidt: Süßigkeiten. Erzählungen. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 206 Seiten, 8 Euro. Das Buch ist so­eben erschienen.