Der Film »Ricky« von François Ozon

Das Rätsel des fliegenden Babys

Immer knapp unterhalb der Kinderzimmerdecke: François Ozon hat mit »Ricky« seinen surrealsten Film gedreht.

Wenn ein Film von François Ozon wie ein Sozialdrama beginnt, gibt es allen Grund, misstrauisch zu werden. Der französische Regisseur liebt es, mit Zitaten, Referenzen, Genres und visuellen Stilen zu jonglieren – und zwar jenseits von postmoderner Ironie oder purem Virtuosentum. Das Schöne an Ozons Aneignungen ist vielmehr der affirmative Bezug zu den angeeigneten filmischen Vorlagen, aus denen aufrichtige Vernarrtheit und Liebe spricht, wobei der Zuschauer eingeladen wird, an diesem Begehren teilzuhaben.
In seinem vorherigen und ganz und gar unvergesslichen Film »Angel« beispielsweise, einer rauschhaften Mischung aus Vincente-Minnelli-Ästhetik und Referenzen zu heutiger Pop- und Celebritykultur, brachte Ozon die romantisch-verkitschte Phantasie seiner weiblichen Hauptfigur unmittelbar auf die Leinwand und setzte sie an die Stelle der objektiven Realität.
»Ricky«, die Verfilmung der Kurzgeschichte »Moth« von Rose Tremain, wirkt auf den ersten Blick wie ein Reflex auf all den Kitsch, Pomp und Glamour des vorherigen Films, auf eine Erwartungshaltung, die Ozon nicht zuletzt mit einer schwulen Ästhetik in Verbindung bringt. Was könnte also überraschender sein als das sozialrealistische Genre mit seinen tristen Alltags­szenarien, den kleinen Lebensentwürfen, dem vielen Grau, das uns in »Ricky« begegnet?
Zunächst ebnet Ozon den Weg für ein klassisches Sozialdrama, mit allen Ingredienzien, die scheinbar dazugehören: eine allein erziehende Mutter, das Sozialamt, der Fabrikjob, die Wohnung in einer anonymen Hochhaussiedlung. Katie (Alexandra Lamy) und ihre Tochter Lisa (Mélusine Mayance) sind die Protagonisten dieses Settings, das ein bisschen zu simpel und stereotyp wirkt, um die Aufmerksamkeit dauerhaft auf das Sozialrealistische zu lenken. So nimmt man eher wahr, was die Konventionen des Genres stört: die sehnsuchtsvolle Filmmusik etwa (vom Komponisten Philippe Rombi, der auch für »Angel« den dramatisch verzuckerten Soundtrack geschrieben hat) oder die Kamera, die für die Routine und Enge des Alltags ungewöhnlich großzügige und beschauliche Bilder findet.
Schon kurz nach der Exposition lernt Katie einen neuen Arbeitskollegen kennen, Paco (Sergi López). Nach dem schnellen Sex folgt ein Abendessen, eine Szene später zieht Paco, von der Tochter zunächst misstrauisch beobachtet, in den Frauenhaushalt ein, und Katie ist schwanger. Die Geschichte zwischen den beiden ist ­effizient und fast etwas ungeduldig erzählt, ganz so, als könne Ozon es kaum erwarten, endlich zum Kern seines Films vorzudringen: Ricky. Der neugeborene Sohn ist der Prototyp eines Babys, blauäugig und speckig, ein richtiges Barock-Engelchen. Ozons Hinweise auf das sich anbahnende Wunder, das Baby, das fliegen kann, sind nicht gerade subtil, wollen das aber offensichtlich auch gar nicht sein: das Feenkostüm Lisas für den Karneval, die Flügel des Grillhähnchens auf dem Teller, der Blick aus dem Fenster auf vorbeiziehende Vogelschwärme, die Wölkchentapete im Kinderzimmer.
Schon bald wirkt das neue Glück gefährdet, die Eltern sind gestresst und überfordert, die gerade erst etablierte Kleinfamilienidylle scheint bedroht. Daneben gibt es noch eine weitere thematische Spur: Lisas Einsamkeit, die Gefährdung ihrer Position angesichts des neuen Vaters und Bruders. Ozon streut im Zehn-Minuten-Takt verschiedene Fährten in alle nur möglichen Richtungen. Als man Paco mit einer anderen Frau im Gespräch beobachtet, sieht man ein Liebes- und Eifersuchtsdrama heranziehen, und als Ricky plötzlich Beulen am Rücken hat, eine Missbrauchsgeschichte. All diese kleinen Wendungen und Sackgassen wirken wie Vorboten für den Genrewechsel. Denn bald wachsen aus dem Baby­rücken sichtbar kleine Flügel – der Film macht einen ganz kurzen Abstecher ins Horrorgenre (David Cronenbergs »The Fly«) –, doch als Ricky schließlich putzig vor der Wölkchentapete des Kinderzimmers herumflattert, sind wir schließlich im Bereich des Phantastischen angelangt. Oder aber im Bereich des totalen Quatschs.
Zunächst sieht es so aus, als würde Ozon die sozialrealistische Spur des Films konsequent weiterverfolgen. Paco verlässt die Familie, und Katie muss plötzlich die beiden Kinder alleine großziehen. Die erste Filmszene zeigt sie völlig aufgelöst und verzweifelt beim Sozialamt, sie bittet sogar darum, ihr Kind abgeben zu können. Doch durch die Herausforderung, die das flugbegabte Kind für die kleine Familie darstellt – vor allem die kleine Wohnung setzt Rickys zunehmendem Flugdrang enge Grenzen –, entwickelt sich zwischen Mutter und Tochter auch eine enge und sehr schöne Komplizenschaft. Katie betrachtet die anatomische Veränderung ihres Sohns nach erstem Befremden mit wissenschaftlichem Interesse und gesundem Pragmatismus: Mit Lisas Hilfe baut sie ihm ein Flugkostüm, kauft Fahrradhelm und Vogelbücher und misst beim Tiefkühlhähnchen nach, wie sich das Körpergewicht zur Flügellänge verhält. Das ist alles eigentlich schon albern genug, doch Ozon dreht noch ein bisschen mehr auf. Bei einem gemeinsamen Ausflug in den Supermarkt driftet der Film dann endgültig ins Genre der Fantasykomödie ab. Während Ricky an der Decke herumsaust – wie eine Motte fliegt er gegen das Licht –, rennen Mutter und Tochter mit ihrem Einkaufswagen hysterisch hinterher, das Kind wird schließlich mühsam wieder eingefangen. Ein Kunde fragt den Verkäufer: »Wo bekomme ich das ferngesteuerte Baby?«
Nach der heiteren Klamottenkiste folgt ein kurzer Exkurs, der die Mechanismen der heutigen Mediengesellschaft streift. Ricky wird zum Medienereignis, und die Eltern entschließen sich schließlich zu einem finanziellen Deal mit der Presse. Am Ende legt sich der Film nochmal in die Kurve und steuert zu auf eine mystische und etwas fragwürdige Abhandlung über das heilige Wunder der Mutterschaft. Wie schon in seinen früheren Filmen, etwa in »Unter dem Sand« oder »Swimmingpool«, vermischt Ozon hier die Ebenen von Wirklichkeit und Phantasie. Das Bild des fliegenden Babys zu entschlüsseln, fällt aber nicht leicht. Eine mögliche Deutung wäre die, dass Katie eine Fehlgeburt hatte und Ricky nur in der Phantasie der Mutter existiert (der Sohn fliegt eines Tages davon und kommt nicht mehr wieder). Vielleicht aber ist Ricky auch ein behindertes Kind. Die Assoziationsräume, die Ozon in diesem Film eröffnet, sind allerdings nicht weit genug, zu dominant und ablenkend sind die flatterhaften, kapriziösen und mitunter etwas selbstgefälligen Genre-Spielereien. Auch das Ineinanderfließen von sozialrealistischen und phantastischen Elementen führt am Ende zu nichts. Oder anders gesagt: Der Zuschauer wird eingeladen, eine mehrschichtige Geschichte zu durchqueren, und just in dem Moment, wo er sich in der filmischen Konstruktion aufgehoben fühlt, wird er wieder ausgeladen. Ozons Aneignungskino hat in »Ricky« erstmals etwas Enervierendes, es erscheint als reiner Selbstzweck.

Ricky. Regie: François Ozon. Darsteller: Alexandra Lamy, Sergi López. Kinostart: 14. Mai