Das neue Album der Band Oi Va Voi

Global Shtetl

Rock, Klezmer, Ethnopop, Weltmusik, Digital Folk. Egal, welche Genreschublade man aufzieht, die britisch-jüdische Band Oi Va Voi passt nirgendwo rein.

Die Musiker von Oi Va Voi – Jiddisch für »meine Güte!« – haben sich auf der Universität von Oxford kennen gelernt und festgestellt, dass sie alle aus jüdischen Familien stammen. Das brachte sie dazu, auf ihrem 2002 im Eigenverlag erschienenen Debüt »Digital Folklore« auch jüdische Elemente in ihre Musik zu integrieren. Dennoch würden sich Oi Va Voi nicht als jüdische Band bezeichnen, da sie identitären Zuschreibungen misstrauen. »Wir sind keine orthodoxen Juden«, erklärt Sänger und Klarinettist Steve Levi, »denn wir alle stammen aus weltlichen Familien, in denen jüdische Kultur zwar hochgehalten wird, Religion allerdings keine große Rolle spielt. Wir versuchen mit unserer Musik, jüdische Tradition als einen Teil unter vielen Einflüssen zu behandeln und damit zu zeigen, dass die jüdische Kultur immer schon universal gewesen ist, durch die Diaspora universal sein musste.«
Das drückte sich auf ihren ersten Alben in einer unglaublichen Stilmischung aus, der manchmal etwas artistisch Bemühtes anhaftete: Dub­step, Ska, Reggae, Punk- und Triphop-Elemente fusionierten mit Klezmer und osteuropäischer Folklore. Folk und urbaner Club-Sound wurden gleichrangig behandelt, eine Entwicklung, die Yuriy Gurzhy auf dem 2006 von ihm mitherausgegebenen »Trikont«-Sampler ­»Shtetl Superstars« sogar als neue Bewegung zusammenfasst. Er spricht von einer »neuen Generation, die nach dem Klezmer-Revival gekommen ist«. Ihr gehe es nicht mehr um die Wiederentdeckung oder Bewahrung einer authentischen jüdischen Musik, sondern darum, jüdische Musiktradition als ganz normale Form von Pop zu benutzen, zu verfremden und je nach Belieben mit nichtjüdischen Musiktraditionen zu mischen. Doch was heißt in diesem Zusammenhang schon »jüdisch« und »nichtjüdisch«?
Bereits 1992 hat John Zorn in seinem Manifest »Radical Jewish Culture« darauf hingewiesen, dass ein Großteil der musikalischen Innovationen des 20. Jahrhunderts von jüdischen Musikern ausgegangen ist. Ganz gleich ob die Ramones, Burt Bacharach oder Marc Bolan von T. Rex: Viele Musiker haben ihre jüdische Herkunft deshalb nicht thematisiert, weil sie Angst vor Diskriminierung hatten. Steve Levi sieht darin einen wesentlichen Unterschied zu seiner Generation: »Es gibt eine weit verzweigte jüdische Musik­geschichte, von der wir oft gar nicht wissen, dass sie jüdisch ist. Das gilt für Avantgardisten wie Steve Reich, aber auch für den Pop, denn viele kommerzielle Songschreiber am Broadway waren Juden. Die andere Innovation haben wir den Afroamerikanern zu verdanken. Alle relevante moderne Musik ist also jüdisch oder schwarz (lacht). Wir selbst leugnen unsere jüdischen Wurzeln nicht, das geht ja gar nicht, sie treten offen in unserer Musik zu Tage. Aber wir wollen nicht, dass sie als Exoten-Bonus behandelt werden. Sie sind vielmehr ein Bestandteil unter vielen anderen, zu dem man sich ebenso offen bekennen kann, wie das die Afroamerikaner mit ihrer Musiktradition machen.«
Den Crossover-Stil, der den Sampler »Shtetl Superstars« bestimmt, auf dem Oi Va Voi ebenfalls zu hören sind, hat die Band inzwischen fallengelassen. Ihr aktuelles Album »Travelling The Face Of The Globe« besteht fast durchweg aus stringen­tem, melodiösem Pop, behutsam mit folkloristischen Elementen angereichert. Bereits der CD-Titel deutet an, dass die Band auf der Suche nach einem universalen Folk ist, der Begriffen wie »Heimat« und »Nation« misstraut, ohne dabei auf einen kruden Weltmusik-Mix zu setzen. »Folk­lore, die vor Landesgrenzen halt macht oder sich über Regio­nalismus definiert, ist mir suspekt«, erklärt Levi. »Vor allem die jüdische Geschichte lehrt, dass Folk einer ständigen Wanderbewegung ausgesetzt ist und sich Musiktraditionen dadurch ständig durchmischen. So gesehen kann man sogar sagen, dass Popmusik zur Folklore des 20. und 21. Jahrhunderts geworden ist.«
Eine Fangemeinde haben Oi Va Voi auch in Israel, wo das Zusammenspiel von Pop und jüdischer Folklore Steve Levi zufolge eher untypisch ist: »Viele junge israelische Bands spielen lupenreinen HipHop, Punk, Heavy Metal, Ska, was auch immer – aber sie vermeiden jeden Zusammenhang mit ihrer jüdischen Herkunft.« In diesem Kontext spricht Levi davon, mit Oi Va Voi so etwas wie »jüdische Normalität« herstellen zu wollen, ein Ausdruck, der erst einmal stutzig macht. Kann es diese »Normalität« nach dem Holocaust noch geben, und was meint dies angesichts der Tatsache, dass Oi Va Voi expli­zit keine politische Musik spielen wollen? »Uns geht es um mehr Selbstbewusstsein. Und dies ist erst erreicht, wenn jüdische Musik wieder ganz normaler Bestandteil von Pop ist, sich weder verstecken noch rechtfertigen, aber auch nicht ständig in Betroffenheit üben muss. Viele Leute haben eine starre Erwartung an jüdische Musik, sie erwarten diesen melancholischen Opfer-Ton. Wir dagegen behandeln alltägliche Themen von heute, ohne uns in eine Rolle pressen zu lassen. Was dieses Selbstbewusstsein anbelangt, können jüdische Musiker von HipHop noch einiges lernen. Sie sollten bloß nicht anfangen, HipHop eins zu eins zu adaptieren.«
Oi Va Voi mögen keine explizit politischen Songs spielen, dennoch formuliert die Band mit ihrem Auftreten und ihrem Sound ein politisches Anliegen. Die Erfahrung der Diaspora schwingt in ihrer Musik mit, doch sie scheint als Chance und nicht als Verlust angesehen zu werden. Entwurzelung wird hier nicht negativ bewertet, sondern als zentrale Voraussetzung für die Weiterentwicklung von Musik betrachtet. Oi Va Vois musikalischer Ansatz ist dezidiert internationalistisch und urban. In ihrer Herkunftsstadt London ist die Band dennoch eine Ausnahme. »Eine jüdische Musikszene, die diesen Namen verdient, gar eine Klezmer-Szene hat London nicht hervorgebracht«, schrieb Daniel Bax in der Zeit. Insofern ist es nur konsequent, dass Oi Va Voi ihr offizielles Debüt »Laughter Through Tears« 2003 auf »Outcaste Records« veröffentlich­ten, einem auf Asian Underground spezialisierten Label. Es markiert eine Lücke und versteht sich zugleich als jüdische Antwort auf Bands wie Fun-Da-Mental und Asian Dub Foundation.

Oi Va Voi: Travelling The Face Of The Globe. Oi Va Voi Rec./Alive