Das Wahlprogramm der Linkspartei

Böse Fundis!

Das Wahlprogramm der Linkspartei ist das Produkt linker Sozialdemokraten. Die internen und externen Reaktionen erinnern dagegen vor allem an das, was bei den Grünen vor 1998 passierte.

Seine diebische Freude konnte und wollte Franz Müntefering nicht verbergen. Bestens gelaunt präsentierte der Vorsitzende der SPD am Donnerstag vergangener Woche im Willy-Brandt-Haus das neue Parteimitglied Sylvia-Yvonne Kaufmann. Besser als mit dem Übertritt der 54jährigen Europa-Abgeordneten der »Linken« hätte der Europa-Wahlkampf für seine Partei gar nicht beginnen können. »Historisch ist ein großes Wort, aber wir sind an einer interessanten Ecke«, sagte Müntefering.
Zuerst der Parteiaustritt ihres Berliner Abgeordneten Carl Wechselberg, dann der Wechsel von Kaufmann – für die Linkspartei war die vergangene eine rabenschwarze Woche. Geradezu gierig stürzte sich die politische Konkurrenz auf die prominenten Abtrünnigen, die sich so glänzend als Kronzeugen dafür anboten, jenes linke Sektierertum anzuprangern, das in der Partei angeblich die Oberhand gewonnen hat.

Die »Linke« sei »zu einem Haufen von Sektierern verkommen«, wetterte Kaufmann bei ihrem Auftritt in der SPD-Zentrale. Betroffen sei sie insbesondere von der Tatsache, »dass die Linke die SPD permanent dämonisiert«. »Mit Verbalradikalismus und Fundamentalopposition sind die kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus und der Marktradikalismus in der EU nicht zu brechen und die Herausforderungen der Globalisierung nicht zu bewältigen«, sagte das frühere Mitglied der SED, das keinen Platz mehr auf der Liste für die Europa-Wahl gefunden hatte.
Auch Wechselberg verkündete in diversen Interviews die immer gleiche Botschaft: »Worum es mir geht, ist, dass die Partei unter Oskar Lafontaine in die Nische der Fundamentalopposition gesteuert wird«, sagte der 40jährige der Taz. »Ich halte die Ausrichtung, die vor allem Oskar Lafontaine und die West-Linken bestimmen, für außerordentlich populistisch und sektiererisch«, sagte er dem Tagesspiegel. Auf Spiegel online schrieb Wechselberg, diejenigen, die mit Lafontaine und der Wasg in die Linkspartei kamen, seien »alle Linkssektierer, die der Westen aufzubieten hatte, und zahlreiche alte Gewerkschaftsfunktionäre« gewesen. Nun bestimmten die »Fundis« die politische Gesamtausrichtung der »Linken«.
So würden in dem Programm zur Bundestagswahl »ultralinke« Maximalforderungen erhoben, wie »Hartz IV muss weg« und die »Nato gehört aufgelöst«. Das nehme der Linkspartei »objektiv jede politische Bündnisfähigkeit«, da solche Positionen mit den Grünen und der SPD nicht verhandelbar seien. Die Partei müsse sich grundsätzlich ändern, forderte Wechselberg. »Sie müsste in wenigen Wochen belastbare Fachkonzepte entwickeln, ihre Forderungen abrüsten und die zahllosen Sektierer kaltstellen, die sich auf ihren Wahllisten tummeln.« Das jedoch sei nicht denkbar. Zum Glück, denn damit würde sie sich überflüssig machen.
Die Äußerungen Kaufmanns und Wechselbergs passen bestens ins Bild, das zahlreiche Medien derzeit von der Linkspartei zeichnen. »Linker geht’s nicht«, urteilte die Süddeutsche Zeitung über den Anfang der vergangenen Woche vorgestellten Programmentwurf zur Bundestagswahl. Von »41 DIN A4-Seiten voller sozialpolitischer Versprechungen, gehalten in einem teils offen klassenkämpferischen Ton«, schrieb die Märkische Allgemeine. »Radikal in die Wahl« titelte die Badische Zeitung, und die Zeit sah »Lafontaine in der Fundifalle«. Sogar die Taz schlug kräftig zu. Es handele sich um ein Programm, »das in zentralen Punkten weit über das hinausgeht, was parteiintern bisher als durchsetzbar galt«, konstatierte Felix Lee. »Auch die Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde und nicht mehr wie bisher acht Euro zeigt die deutliche Radikalisierung des Programms.« Das Fazit von Rafael Seligmann in Springers B.Z.: »Die Linke kann nicht aus ihrer ollen Kommunistenhaut.«

Es muss sich um eine Form von Wahrnehmungsstörung handeln. Bisweilen dieselben Autoren, die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise den Marktradikalismus anprangern und die Republik auf dem Weg nach links wähnen, halten nun bereits zehn Euro Mindestlohn und eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 500 Euro für »Fundamentalismus«, »Radikalopposition« und »Sektierertum«. Dabei stammen auch Forderungen wie die nach der 35-Stunden-Woche, nach einem Investitionsprogramm von 100 Milliarden Euro, einem Verbot von Hedgefonds, einer Millionärssteuer oder nach der Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf jene 53 Prozent, wie er noch zu Zeiten Helmut Kohls galt, nicht gerade aus dem programmatischen Fundus der Weltrevolution. Und besonders originell sind sie schon gar nicht.
Das gilt auch für so manch antikapitalistische Rhetorik, die diesmal indes erst nach langen Verhandlungen auf Drängen des linken Flügels wieder ihre Aufnahme gefunden hat. »Bei der Lyrik kommt der neue Entwurf den Kritikern entgegen«, räumte die stellvertretende Parteivorsitzende Halina Wawzyniak ein. »Es steckt jetzt deutlich mehr Klassenkampf im Wahlprogramm.« Anders als im ersten Entwurf fand der Begriff »demokratischer Sozialismus« ebenfalls wieder sein traditionelles Plätzchen – wie in allen Wahlprogrammen der Partei seit 1990. So ist denn auch das Programm, das endgültig im Juni verabschiedet werden soll, insgesamt ein klassisch linkssozialdemokratisches Produkt. Die Forderung etwa nach einem garantierten Grundeinkommen für alle, für das undogmatische und libertäre Linke bei den Grünen und in der Linkspartei streiten, sucht man hingegen vergebens.

Vieles in der gegenwärtigen Diskussion über die Entwicklung der Linkspartei erinnert frappierend an die Auseinandersetzungen bei den Grünen von Mitte der achtziger Jahre bis zu ihrer erstmaligen Regierungsbeteiligung auf Bundes­ebene 1998. Sogar die Terminologie ist die gleiche: Schon wieder werden die einen, denen es um die Anpassung an die herrschenden Verhältnisse geht, als »Realpolitiker« hofiert, und die anderen, die für deren Veränderung eintreten, als »Fundamentalisten« diffamiert. Dass es jedoch ausgerechnet jene »Fundis« aus der Wasg gewesen sind, die die morsche Ostpartei PDS überhaupt in der alten Bundesrepublik attraktiv gemacht haben, wird dabei gerne ausgeblendet.
Zwar sind mit der Wasg auch eine ganze Menge politische Wirrköpfe in die Partei gespült worden. Aber das ändert nichts daran, dass die Partei zu Zeiten, als die Ost-»Pragmatiker« noch die PDS dominierten und jemand wie Sylvia-Yvonne Kaufmann als stellvertretende Parteivorsitzende deren Geschicke mit lenkte, froh sein konnte, wenn sie bei Landtagswahlen im Westen überhaupt mehr als ein Prozent der Stimmen ergatterte.
Gleichwohl ist absehbar, dass auch bei der Links­partei auf längere Sicht hin die »Realos« obsiegen werden. Für Verbitterung sorgt bei ihnen allerdings, dass dieser Entwicklungsprozess durch die Vereinigung mit der Wasg stark abgebremst worden ist. Das erklärt auch ihre heftigen Attacken gegen Lafontaine, dessen Machtbewusstsein sie offenkundig unterschätzt haben. Dass einige der Anpassungswilligen die Geduld verloren und sich deswegen dazu entschieden haben, ganz individuell den Weg zur Sozialdemokratie zu beschreiten, ist ebenfalls kein neues Phänomen. Man denke an etliche Beispiele aus der Vergangenheit der Grünen, von der Mitgründerin der Hamburger Gal, Thea Bock, bis hin zu Otto Schily.
Klar ist, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis die Linkspartei auf Bundesebene mitregiert, mindestens noch eine weitere Legislaturperiode. Das liegt nicht an den sozialen und wirtschaftspolitischen Forderungen der Partei, über die sich manch »Realpolitiker« empört. Die konkrete Höhe des Hartz-IV-Satzes oder eines Mindestlohns wären für Koalitionspartner verhandelbare Größen. Doch ein Punkt in Lafontaines Wahlprogramm wäre unter den gegenwärtigen Bedingungen völlig inkompatibel mit einer Regierungsbeteiligung: die Außen- und Sicherheitspolitik. Solange »Die Linke« Auslandseinsätze der Bundeswehr strikt ablehnt, wird die SPD unter keinen Umständen mit ihr koalieren.
Auch die Grünen mussten zuerst ihren Frieden mit dem Krieg machen, um für regierungstauglich befunden zu werden. Schon auf dem Münsteraner Parteitag 2000 hatte die damalige PDS-Führung versucht, an der prinzipiellen Ablehnung aller militärischen Kampfeinsätze auch mit UN-Mandat zu rütteln. Damals war es übrigens ausgerechnet Sylvia-Yvonne Kaufmann, die mit einer emotionalen Rede mit tränenerstickter Stimme maßgeblich dazu beitrug, dies zu verhindern. Vielleicht nimmt Frank-Walter Steinmeier sie ja demnächst einmal mit zu einem Besuch bei der Truppe in Afghanistan.

»Der Krieg ist für uns ja oder nein«, sagte Lafontaine bei der Vorstellung des Programmentwurfs. Ohne einen sofortigen Truppenabzug aus Afghanistan und die Beendigung aller anderen Auslandsmandate der Bundeswehr gebe es keine Regierungsperspektive mit den Linken. Was das konkret bedeutet, hat Thorsten Denkler in der Süddeutschen Zeitung präzise auf den Punkt gebracht: »Wer also die Linke wählt, wählt Opposition.« Nur: Ist jede Opposition schon »sektiererisch«?
Wer sich das Thema Friedenspolitik im Entwurf einmal genauer anschaut und mit früheren Programmen vergleicht, wird im Übrigen feststellen, dass das Gerede von einer vermeintlichen »Radikalisierung« absurd ist. Die Aussage der Partei zur Nato, die jetzt für so große Aufregung sorgt, hat sich über all die Jahre kaum verändert. »Wir bleiben bei unserer Ablehnung der Nato«, heißt es beispielsweise im Bundestagswahlprogramm der PDS von 1998. »Wir halten ihre Auflösung parallel zum Ausbau kollektiver und nichtmilitärischer Sicherheitsstrukturen für zeitgemäß.« Vier Jahre später ist zu lesen: »Wir wollen, dass das Militärbündnis Nato aufgelöst und durch kollektive Sicherheitsstrukturen im Rahmen der Uno und ihrer Regionalorganisationen, wie der OSZE, ersetzt wird.« Jetzt will die Linkspartei »die Nato ersetzen durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands«. Eine bemerkenswerte Kontinuität.
Im Jahr 2002 warb die Partei übrigens außerdem noch mit der Aussage: »Ein Deutschland ohne Bundeswehr sowie eine Welt ohne Krieg sind und bleiben Ziel der Politik der PDS.« Heute soll nur noch der Verteidigungsetat verkleinert werden. Eine Radikalisierung sieht anders aus.