Deutsche Gesundheitstouristen in der Türkei

Der deutsche Patient

Zahnbehandlungen, Augenlaser-OP, Dauerhafte Haarentfernung. Für diese und ähnliche Leistungen zahlen deutsche Krankenkassen nicht. Viele Menschen fahren deshalb in die Türkei, wo die Technologie gut ist und die Preise günstig sind. Hier boomt seit einigen Jahren der Gesundheitstourismus.

Roman Wolter ist hochzufrieden. Der 32jährige Hotelier aus Mannheim ist bereits zum zweiten Mal für den Zahnarztbesuch in der Türkei. Diesmal wird nur gereinigt und nachgeschaut, ob der Zahnersatz noch gut sitzt. Zahnarzt Dr. Pertev Kökdemir hakt lange in den Zwischenräumen herum und greift kurz zur Feile. Die unvermeidlichen Knirsch- und Schabgeräusche zerren etwas an den Nerven. Doch hier zählt vor allem das Ergebnis. Nichts in Wolters Mund hat sich gelockert oder drückt.
Die Praxis ist mittlerweile auf hochwertige Plomben und Zahnprothesen spezialisiert. »Neunzig Prozent meiner Patienten kommen aus Nordeuropa. Dort zahlen die Kassen die von uns gebotene Qualität nicht mehr«, weiß Kökdemir, Wolter nickt beipflichtend. Trotz Reisekosten hat der Mannheimer als Kassenpatient zwei Drittel der Behandlungskosten gespart, die ihn in Deutschland erwartet hätten.

Die kleine Zahnarztpraxis im modernen Istanbuler Stadtviertel Bostanci ist bestens ausgestattet. Von den modernen zahntechnischen Folterinstrumenten und ihren nervenaufreibenden Geräuschen wird der Patient auf Wunsch bei der Behand­lung durch Fernsehprogramme oder eine DVD abgelenkt.
Im Nebenzimmer liegt ein Patient aus den USA, der aufwendige Implantate bekommt, mit Kopfhö­rern vor einem Flachbildschirm und schaut MTV. Der behandelnde Arzt werkelt routiniert, ohne mit den Armen oder den Instrumenten das Blickfeld zu versperren. Eine erstaunliche handwerkliche Leistung. Im Wartezimmer liegt auf dem geschmackvollen Glastisch eine elitäre Lektüreauswahl. Sie reicht von teuren amerikanischen Kunstzeitschriften über italienische Badezimmer­ausstatterkataloge bis hin zu den unvermeidlichen Gazetten über die europäischen Königshäuser. Türkische Patienten sieht man hier offenbar selten.
»Zahnbehandlungen gehören in der Türkei immer noch zu den Privilegien einer kleinen Schicht«, sagt Kökdemir und weist darauf hin, dass die Durchschnittsbürger sich »mit dem Nötigsten begnügen. Bei einigen sind Goldzähne sogar heute noch eine Wertanlage.« Die türkische Oberschicht wiederum fahre selbst zum Einkaufen, Facelifting und für die technologisch allerneuesten Inlays und Zahnprothesen in die USA. »Unsere Kunden kommen aus der nordeuropäischen Mittelschicht«, sagt Kökdemir, »sie wollen meist komplexe Behandlungen, Porzellaninlays, aufwendige Prothesen. Niemand kommt nur, um eine simple Füllung erneuern zu lassen.«
Im Wartezimmer setzt die kaufmännische Angestellte Yazemin Köster aus Frankfurt zu einer Analyse an. »Wer will denn schon gleich beim herz­lichen Lachen als Kassenpatient geoutet werden?« fragt sie lakonisch. »Die Türkei befindet sich derzeit in einer medizintechnologischen Boomphase. Das Angebot ist groß und die Preise sind noch günstig.«

Die Statistiken bestätigen diesen Trend. Eine halbe Million Menschen bevorzugt jährlich die Türkei für ihren Gesundheitstourismus. Wie viele Patienten aus Deutschland kommen, ist bislang noch nicht genau festzustellen. In mehreren deutschen Großstädten gibt es aber bereits »Medic-Agenten«, die den Gesundheitstourismus organisieren. Zum bevorzugten Angebot gehören neben Zahnbehandlungen vor allem die Laserchirurgie in der Augenheilkunde, die Plastische Chirurgie, Haar­transplantationen, Invitro-Fertilitätsbehandlungen, Herz-und Gefäßchirurgie sowie verschiedene Wellness-Angebote von Hotels an der Südküste mit einem eigenen Stab von Ärzten, die auf Fitness spezialisiert sind.
Die Anbieter locken mit niedrigen Preisen. Fast alle Behandlungen kosten 50 bis 75 Prozent weniger als in Deutschland. Natürlich setzte in deutschen Landen längst das warnende Geschrei über die zu befürchtenden Risiken ein. Bereits vor zwei Jahren erschien im Focus eine Reportage, in der die Betroffenen über ihre schlimmen Erfahrungen mit ausländischen Ärzten klagten. Das Risiko sei hoch, behauptete das Blatt, ohne aber mehr als Einzelmeinungen zu Wort kommen zu lassen. Ärzte mahnten zur Vorsicht, war im Artikel zu lesen, es sei nicht alles Gold, was ausländische Kollegen den Besuchern aus Deutschland empfehlen würden. Und dann folgten die Horror-Meldungen: Ein mit Salzlösung gefülltes, zugeknotetes Kondom habe der Kölner Chirurg Michael König bei einer Patientin entdeckt, die sich in Tschechien die Brust hatte vergrößern lassen. Der Chirurg Werner Mang von der Bodenseeklinik berichtete von einer deutschen Frau, der in Thailand Badeschwämme als Brustimplantate eingesetzt wurden. Bezeichnend, dass vor allem an der Belebung der eigenen Praxen interessierte deutsche Ärzte hier so sachkundig über die Arbeitswirklichkeit der Kollegen im Ausland Bescheid wissen.
Zitat Focus: »Das Hauptrisiko in ausländischen Kliniken sehen deutsche Mediziner offenbar in Hygienemängeln. ›Dort gibt es gute Operateure. Auch die Klinikausstattung ist oft gut. Aber dann wird teilweise ohne Handschuhe und die notwendige OP-Schutzkleidung operiert, in Räumen mit rissigen Böden – da könnte man auch am Küchentisch werkeln‹, sagte Thomas Neuhann, Präsident des Verbands der Spezialkliniken Deutschlands für Augenlaser.« Und Jürgen Weitkamp, Präsident der Bundeszahnärztekammer und Vertreter des Interessenverbandes der deutschen Zahnärzte, mahnte: »Auch wenn in der Werbung ›nach deutschem Standard‹ steht: Niemand kann kontrollieren, was das konkret bedeutet.«
Das ist nicht ganz falsch. Was allerdings für kostenbewusste Patienten fehlt, ist ein Vergleich der in Deutschland vorangetriebenen Beschwerden von Patienten gegen Pfuschbehandlungen. »Klagen von Deutschen über die Behandlung im Ausland hören wir nicht häufiger als von ausländischen Patienten, die in Deutschland einen Arzt aufsuchen«, wird zumindest Mareke Kortmann vom Europäischen Verbraucherzentrum in Kiel im Focus zitiert, das Beschwerden auf EU-Ebene annimmt.
Die Kollegen in Istanbul können über die Visionen der deutschen Ärztelobby hinsichtlich ihres Hygienestandards nur staunen. Längst bieten die meisten Garantien für ihre Behandlungen an und akzeptieren Deutschland auch als Gerichtsort, damit Patienten im Fall der Fälle von zuhause gegen sie klagen können. Ein großes türkisches Unternehmen, das Augenlaserbehandlungen anbietet, hat mittlerweile neben der Türkei auch Zweigstellen in Deutschland. Bei Komplikationen in Folge der Laserbehandlung werden Patienten dort kostenlos nachbehandelt. »Ein Risiko birgt jede Operation«, so der Augenarzt Dr. Gürkan Çelikkol von der Istanbuler Klinik »Ey­star«, »auch in Deutschland.« Çelikkol fing bereits vor zehn Jahren an, mit zwei befreundeten Ärzten eine Fachklinik für Laserchirurgie aufzubauen. Sie investierten vor allem in die neuesten Technologien aus Deutschland, Japan und den USA. Als kleine ambulante Praxis setzen die Augenärzte bis heute auf Qualität statt Quantität. Mehr als acht Patienten werden pro Tag nicht aufgenommen. Die Patienten kommen zu 90 Prozent aus dem Ausland, zu 80 Prozent aus dem deutschsprachigen Raum. Türkische Kunden stammen aus der gehobenen Mittelschicht. Die Mehrheit der Durchschnittsverdiener würde niemals das Geld für eine solche Luxusoperation ausgeben.

Peter und Renate Riester sitzen etwas blass im Wartezimmer. Sie haben sich nach langem Zögern und Internet-Recherchen für eine Behandlung in Istanbul entschlossen. Neben der Laserbehandlung konnten sie gleichzeitig eine fünftägige Städtereise buchen. Das Hotel liegt wie die Augenklinik direkt am zentralen Taksimplatz im modernen Geschäftsviertel Beyoglu. Die attraktiven Ausgehmeilen für den Abend liegen nur fünf Minuten Fußweg entfernt. Doch daran denkt das Paar jetzt vor der Operation nicht. Birol Çayli serviert Tee. Er hat die Riesters am Morgen vom Hotel abgeholt. Er ist in Deutschland aufgewachsen und arbeitet als Übersetzer und als Betreuer nervöser, ausländischer Patienten in der Augenklinik. »Man sieht immer diese bangen Fragezeichen in den Augen der Patienten. Sie wissen eigentlich noch nicht, was sie erwartet. Meine Aufgabe ist, die Leute zu beruhigen und ihnen den Behandlungsverlauf zu erklären.«
In der kleinen Augenklinik setzt man auf »sanften Medizintourismus« in Konkurrenz zu den großen Massenabfertigungskliniken, in denen die Ärzte die Laseroperationen wie am Fließband absolvieren. Der gleiche Arzt macht Voruntersuchung und OP. Ein Aquarium plätschert vor sich hin, Reise- und Szeneführer liegen auf dem Wartezimmertisch, die Wartenden sitzen und fangen bald an, sich zu unterhalten. Ein Schweizer Seniorenpärchen ist besonders bewandert in der gesundheitstouristischen Szene. Neben den Augen- seien auch die dermatologischen Laserbehandlungen in der Türkei sehr gut und günstig, erzählen sie: das Entfernen von lästigen Besenreisern an den Beinen oder dauerhafte Epilation zum Beispiel. »Haartransplantationen sind der letzte Schrei, in der Schweiz sind sie wegen des großen Arbeitsaufwandes unbezahlbar.«
Die Riesters hören kaum zu. Birol Cayli geleitet den angespannten Peter zur Voruntersuchung. Es steht eine Reihe von Voruntersuchungen an: Augendruck, Feuchtigkeitsgehalt der Netzhaut und vieles mehr. Nicht immer ist eine OP angebracht. Das gehört zu den Risiken des Medizintourismus. Bei einer Nichteignung hat der Patient Pech gehabt.
Der Sektor ist aufgrund der Entwicklungen im europäischen Gesundheitswesen im Auftrieb, immer mehr Reiseveranstalter bieten »Reisepakete« an. Der globalisierte Patient orientiert sich also brav an dem in Amerika entwickelten Konzept »Wellness und Selbstverantwortung«.
In den siebziger Jahren – als die Kosten im amerikanischen Gesundheitswesen gewaltig stiegen – entwickelten Donald B. Ardell und John Travis im Auftrag der amerikanischen Regierung neue »ganzheitliche« Gesundheitsmodelle, die auf Prävention und »Eigenverantwortung« des Einzelnen für seine Gesundheit aufbauten. »Wellness« wurde dabei als einen Zustand von »Wohlbefinden und Zufriedenheit« beschrieben, der aus folgenden Faktoren bestehe: Selbstverantwortung, Ernährungsbewusstsein, körperliche Fitness, Stressmanagement und Umweltsensibilität. Dies hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Gesellschaft geprägt, die auf der einen Seite mit Problemen wie Fettleibigkeit und Essstörungen zu kämpfen hat, auf der anderen aber auch medizinisch alle Möglichkeiten bereit hält für diejenigen, die es sich leisten können. Dieser Trend hat sich weltweit durchgesetzt.

Ein Blick auf die Lage des türkischen Gesundheitssystems verdeutlicht das soziale Gefälle in der medizinischen Versorgung. Wer es sich leisten kann, wird im boomenden privaten Gesundheitswesen erstklassig behandelt. Der Rest ist auf die oft unzureichende staatliche Versorgung angewiesen. Auf einen Arzt kommen in der Türkei im Schnitt über 700 Patienten. Damit versorgt ein Mediziner in der Republik nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation deutlich mehr Menschen als in anderen Ländern. In ländlichen Gegenden der Türkei ist das Verhältnis oft sogar noch schlechter. Das gilt auch für die Versorgung mit Krankenhausbetten. Während im Durchschnitt ein Bett für 400 Patienten zur Verfügung steht, ist die Versorgung in Teilen Anatoliens schlechter, in den Industriezentren rund um das Marmarameer dagegen deutlich besser. Denn im Raum Istanbul ebenso wie in Ankara, Antalya oder Izmir ergänzen immer mehr private Kliniken die Versorgung durch die Krankenhäuser des Gesundheitsministeriums und der Armee.
Allein 2007 verdoppelte sich die Zahl der Privatkliniken in der Türkei nach Angaben der Bundes­agentur für Außenwirtschaft (BFAI) auf 365 Häuser. Wie der bis Ende des Jahres beantragte Bau von 252 weiteren Hospitälern zeigt, ist ein Ende dieser Entwicklung nicht in Sicht. Die privaten Kliniken bieten von Herzoperationen bis hin zu Kernspintomographien medizinische Dienstleistungen auf einem in westlichen Ländern üblichen Niveau an. Dabei setzen sie modernste Technologie ein. Nach Schätzungen der BFAI beläuft sich der Markt für Medizintechnik in der Türkei vor allem aufgrund der Nachfrage privater Klinikbetreiber auf mindestens drei Milliarden Dollar im Jahr – Tendenz steigend.
In den Privatkliniken nehmen neben Patienten aus Europa auch immer mehr Gäste aus dem arabischen Raum und den Golfstaaten die Dienste türkischer Kliniken in Anspruch. 2009 wird eine halbe Million Medizintouristen erwartet. Auf die Kunden aus dem Ausland sind die privaten Krankenhäuser angewiesen, wenn sie ihre Kosten decken und Gewinne erwirtschaften wollen. Das hat für den türkischen Patienten Nachteile in der medizinischen Versorgung. Denn mit der Reform der Sozialversicherung im Februar vergangenen Jahres hat das türkische Gesundheitsministerium die Erstattung von Behandlungskosten in Privatkliniken auf einen Betrag begrenzt, der nur noch maximal 30 Prozent über den Kosten der entsprechenden Behandlung in einem staatlichen Hospital liegen darf. Viele Maßnahmen können mit diesem Budget nicht auf dem steigenden Niveau der privaten Häuser erbracht werden.
Der Medizintourist lebt weitgehend unbehelligt von dieser Realität, denn die auf Ausländer zugeschnittenen Praxen liegen entweder in großen Medizinkomplexen, weitab von den staatlichen Polikliniken, oder es handelt sich um kleine Praxen in schönen Wohnvierteln auf der asiatischen Seite oder in der Innenstadt von Istanbul.
Peter und Renate Riester genießen am Tag nach der OP die Aussicht auf den Taksimplatz. Sie schauen aus den großen Jugendstilfenstern einer geschmackvoll eingerichteten Altbauetage, in der sich das Wartezimmer befindet. Ein Stockwerk höher liegt eine Hightech-Poliklinik mit den neuesten Finessen der Augenlasertechnik. Die OP verläuft schnell und komplikationslos. Beide haben ihre Brillen in den dafür vorgesehenen Spende­glaskasten gelegt. Einer der türkischen Ärzte fährt regelmäßig zu augenärztlichen Einsätzen nach Somalia. Dort werden die Brillen dringend gebraucht.