60 Jahre BRD

Niemand muss Deutschland lieben

Sechzig Jahre Bundesrepublik – nur für die üblichen Opportunisten ein Anlass, Freude zu heucheln. Aber unterscheidet sich dieses Land noch von einem beliebigen anderen kapitalistischen Staat des Westens?

In der Bundesrepublik Deutschland zu sitzen, ist keine Akklamation mit dem Hintern. Im Gegenteil besteht der große Vorzug dieses Landes darin, dass es weder einen Grund noch einen Zwang gibt, es zu lieben. Die es zu lieben vorgeben, sind Opportunisten, Populisten und Zukurzgekommene. Die Opportunisten und die Populisten meinen es nicht ernst mit dieser Liebe; die ersten machen sich mit den Mächtigen, die letzten machen sich mit dem Mob gemein. Die Zukurzgekommenen aber sitzen einem Trugschluss auf. Sie glauben, dass es sich für sie auszahlen müsste, Deutsche zu sein, und dass in einer Nation die Letzten die Ersten sein werden. Never ever.
Die Übrigen ziehen ihren intellektuellen und politischen Vorteil daraus, dass einer die BRD nicht lieben muss und einen bislang auch niemand dazu verpflichtet, am 3. Oktober zu flaggen. Nach Milderung der Berufsverbote ist es manchen Orts sogar möglich, in den Staatsdienst einzutreten, ohne mit diesem Staat im mindesten übereinzustimmen. Das betrifft vor allem die Republikfeinde von links; für die Republikfeinde von rechts verhielt es sich eh von Anfang an so. Im August 1950 waren 70 Prozent der Staats- und Landes­beamten frühere Funktionäre des NS-Systems, der Auswärtige Dienst war fast vollständig mit alten Nazis besetzt. Schwer vorzustellen ist, dass diese Leute wussten, was eine Demokratie sein soll; die Weimarer Republik hatten sie verachtet, die Berliner Diktatur frenetisch begrüßt. Den Dienst am neuen Staat verrichtete man contre cœur.

Wenn es einen Skandal gibt, der vor Augen führt, was für ein Staat das war, dann ist es der Fall Schneider/Schwerte. Hans Ernst Schneider wurde zu Hans Schwerte, der Abteilungsleiter Heinrich Himmlers zum linksliberalen Rektor der Universität Aachen. Als er überführt war, fragte er, was die ganze Aufregung solle, er habe sich doch selbst entnazifiziert. Vermutlich hatte er es sich bloß zu schwer gemacht, als er seinem schlechten Gewissen folgte und sich tarnte. Es lohnte sich aber, kein schlechtes Gewissen zu haben. Millionen seiner Sorte durchliefen ohne Probleme die Entnazifizierung, die, seit sie in deutschen Händen lag, nichts als eine »Mitläuferfabrik« (Lutz Niethammer) war. Tausende haben sogar von ihrer Nazi-Karriere profitiert.
Thomas Harlan hat gesagt, in der BRD hätten die Nazis eine noch größere Macht ausgeübt als zur Hitlerzeit. »Es gab mehr Nationalsozialisten an der Macht in der Bundesrepublik, als es Nationalsozialisten an der Macht unter Hitler gab, mehr nationalsozialistische Diplomaten, mehr nationalsozialistische Richter, mehr nationalsozialistische Polizeibeamte, mehr Verbrecher.« (»Das Gesicht deines Feindes«, Frankfurt/M. 2007) Das führte dazu, dass alte Nazis über alte Nazis zu Gericht saßen und sie – was Wunder – frei sprachen. Das führte auch zu einer beispiellosen Verschleppung von Verfahren, zu einer erneuten Ausgrenzung der Opfer und dazu, dass gerade in der Exekutive, bei der Polizei, in der Armee, aber auch an den Schulen und Universitäten der alte Geist herrschte.

Und es ist bloß eine von der Linken genährte Legende, in der DDR wäre all das völlig anders gewesen. Selbst im ersten SED-Zentralkomitee saßen mehr alte NSDAP- als alte SPD-Mitglieder, insgesamt 27 Personen, darunter einflussreiche Funktionäre des gerade überwundenen Faschismus. Ein langjähriger Chefredakteur des Neuen Deutschland, ein Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus, ein linientreuer Leiter des Zentralinstituts für Philosophie – alles frühere Mitglieder der Nazi-Partei.
Staaten gründen sich weder auf Moral noch auf Politik, sondern auf Macht und Funktion. All diese Funktionäre waren Teil eines verbrecherischen Staates und wurden Teil zweier sehr viel weniger verbrecherischer Staaten. Es ist ganz gleichgültig, an was sie geglaubt haben. Sie alle wurden Rädchen in Maschinen, die erheblich weniger Leichen produziert haben. Und war nicht derselbe Theodor Maunz, der dem Nationalsozialismus juristisch Feuerschutz gab und ein Unterstützer von Neonazis blieb, auch Mitautor des Grundgesetzes?
Das Grundgesetz führte Verbesserungen ein, die fast ausschließlich von süddeutschen Konservativen durchgesetzt worden sind. Es schwächte den Präsidenten und stärkte den Föderalismus. Beides geschah mit ausdrücklicher Billigung der US-amerikanischen und der französischen Alliierten und gegen den erbitterten Widerstand der SPD (und auch der KP, die aber Jahre vor ihrem Verbot schon keinen Rückhalt mehr hatte). Die SPD wehrte sich gegen ein »Grundgesetz mit alliiertem Inhalt« und meinte damit die Schwächung des Nationalstaates. Als sie dann selbst an die Macht kam, hat sie ihn wieder aufzubauen gesucht.
Dagegen wirkte sie wenigstens korrigierend ein, als Konrad Adenauer die Wiederbewaffnung durchsetzte. Bereits im November 1950 bereitete das »Amt Blank« die Bundeswehr vor. Ein von Adenauer einberufenes Gremium alter Wehrmachtsoffiziere forderte die »Einstellung jeder Diffamierung des deutschen Soldaten (einschließlich der im Rahmen der Wehrmacht seinerzeit eingesetzten Waffen-SS)«.
Der Widerstand von SPD, DGB und evangelischer Kirche gegen die Wiederbewaffnung formulierte sich bezeichnenderweise nationalstaatlich und schlug sich 1955 in einem »Deutschen Manifest« nieder: »Aus ernster Sorge um die Wiedervereinigung Deutschlands sind wir überzeugt, dass jetzt die Stunde gekommen ist, Volk und Regierung in feierlicher Form zu entschlossenem Widerstand gegen die sich immer stärker abzeichnenden Tendenzen einer endgültigen Zerreißung unseres Volkes aufzurufen.«
Hier eine atlantisch orientierte Militarisierung, da ein national aufgepeppter Pazifismus, man hätte nicht wählen wollen, durfte auch nicht. Die Armee kam sowieso. Und lange bevor sie wieder auf der ganzen Welt aufmarschieren durfte, war sie, wie die deutsche Schule und das deutsche Büro, ein wirksames Instrument der ideologischen Reproduktion. Die Ideologie blieb, im Westen wie im Osten, autoritär.

Deutsche Ideologie wurde jedoch im Westen immer stärker von der kapitalistischen überformt. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als am Schicksal des Grundgesetzes selbst, das zwar noch in seiner heutigen Fassung sozialpartnerschaftliche, ja sozialistische Elemente enthält (Artikel 3, 14, 15, 20), die aber kaum je zum Tragen gekommen sind. Das Eigentum verpflichtet nicht, und auch wenn eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist, wird sie, wie gerade gesehen, höchstens zum Wohle der Wirtschaft durchgeführt.
Georg Fülberth hat Recht damit, dass Deutschland seine nationalstaatlichen Eigenschaften heute nur mehr als eine Provinz des großen kapitalistischen Empire bewahre. (»Finis Germaniae«, Köln 2007) Deutschsein ist Folklore. Aber trifft auch zu, dass deshalb die »deutsche Geschichte in ihrer bisherigen Form für beendet erklärt werden« kann? Das wäre allzu schön, setzte aber doch voraus, sich die Geschichtsvergessenheit des Kapitalismus zu Eigen zu machen. Fülberth selbst schreibt, dass die Regionalisierung des Nationalstaats die nationalistischen Stimmungen sogar be­fördert. Und diejenigen, die für solche Stimmungen nicht empfänglich sind, können doch schwerlich vergessen, dass sie über deutsche Straßen wie über einen Teppich von Asche laufen.