Das Europa-Parlament vor der Wahl

Watson will es wissen

Derzeit trifft eine große Koaliton die meisten Entscheidungen im Europa-Parlament. Nach den Wahlen im Juni könnte sich das ändern.

Graham Watson ist ein nicht nur von seinen Parteifreunden geschätzter Mann. Der Schotte hatte schon so manchen Erfolg, erheiterte aber auch ab und zu die Parlamentarier, wenn er etwa in Debatten Nicolas Sarkozy mit den Liedtexten Carla Brunis parierte oder Angela Merkel mit deutschem Minnesang beglückte. Seit einigen Wochen bereitet der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Europa-Parlament den konservativen und sozialdemokratischen Kollegen allerdings einiges Kopfzerbrechen. Viele fragen sich, was der Chef der drittgrößten Fraktion vorhat. Denn Watson möchte sich für das Amt des Parlamentspräsidenten bewerben. Und offenbar will er noch viel mehr.
Watson hat kaum eine Chance, Parlamentspräsident zu werden. Denn wie fast immer, wenn es um Posten in Brüssel und Strasbourg geht, sind sich die beiden größten Parteienbündnisse bereits einig geworden. Die Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) und jene der Sozialdemokraten (SPE) haben die Posten schon aufgeteilt, obwohl erst im Juni die Abgeordneten gewählt werden. Zweieinhalb Jahre darf die EVP-Fraktion den Parlamentsvorsitz führen, dann folgt die SPE. Das ist europäische Tradition. »Meine Kandidatur soll dem Prozess etwas Leben einhauchen«, erklärte Watson in einem Brief an alle Abgeordneten. In Brüssel wird seine Kandidatur als Kampfansage gegen die Absprachen und Kungeleien der beiden großen Fraktionen betrachtet.
Graham Watson hat bereits im vergangenen Jahr zu erkennen gegeben, dass es ihm nicht nur um ein paar Stimmen bei der Präsidentenwahl geht. »Wir könnten Europa viel wirkungsvoller und effizienter voranbringen, wenn wir im Parlament eine ideologische Mehrheit hätten, die die ideologische Mehrheit im Ministerrat widerspiegelt, wo die Sozialdemokraten derzeit mit weniger Regierungen vertreten sind als die Liberalen«, sagte er im November in einem Interview. Die besten Chancen, die Europa-Wahlen zu gewinnen, habe derzeit das Mitte-Rechts-Lager, ergänzte er damals. Watson will die große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten beenden und eine konservativ-liberale Mehrheit bis zum Jahr 2014 sichern.

Derzeit stellt die EVP zwar die größte Fraktion, mit 284 von insgesamt 785 Sitzen ist sie aber weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Auch zusammen mit den 103 Abgeordneten der Liberalen wird diese Mehrheit nicht erreicht. Schon 2004 war die Bestätigung von José Manuel Barroso, des erklärten Kandidaten der Konservativen, als Kommissionspräsident nur mit Hilfe der Sozialdemokraten möglich. Als Gegenleistung erhielt die SPE damals den Parlamentsvorsitz.
Mit seinem Plädoyer für eine Koalitionsbildung nach inhaltlichen Kriterien hat der Liberale Watson den wunden Punkt der Kampagnen zur Europa-Wahl getroffen. Denn was bekommt der Wähler, wenn er für Konservative, Linke oder Liberale stimmt? Verhilft er Barroso zu einer zweiten Amtszeit als EU-Kommissionspräsident? Oder fördert er eine Politik, die mehr Umweltschutz und eine bessere Kontrolle der Finanzmärkte vorsieht? Weder Personal noch Koalitionen spielen eine große Rolle im Angebot der Parteien, wenn die 736 Abgeordneten in 27 Mitgliedsstaaten gewählt werden. Stattdessen werden nationale Testwahlkämpfe geboten, bei denen es um vieles geht, aber selten um die Themen, die schließlich in Brüssel und Strasbourg zur Debatte stehen werden.

Die Hoffnung, dass es diesmal anders werden könnte, hat diverse Parteistrategen auf den Plan gerufen. Die Europäische Volkspartei, die christdemokratische und konservative Parteien vereint, kann eine Art Spitzenkandidaten präsentieren, den Kommissionspräsidenten Barroso. Der ehemalige Premierminister von Portugal hat seit seinem Amtsantritt 2004 mehr als alle seine Vorgänger versucht, sich auf eine rechtsliberale Mehrheit im Europa-Parlament zu stützen. Doch meist konnte auch Barroso auf den Konsens mit den Sozialdemokraten nicht verzichten.
Der SPE fehlt ein gemeinsamer Kandidat, dies sei »nicht durchsetzbar« gewesen, bestätigt ein Sozialdemokrat aus der Fraktionsführung. Derartige Pläne seien durchkreuzt worden von sozialdemokratischen Regierungschefs wie Gordon Brown oder José Luis Zapatero, die sich früh für eine zweite Amtszeit Barrosos ausgesprochen hatten.
Auch angesichts zumeist dürftiger Umfragewerte haben sich die Sozialdemokraten daher ein Minimalziel gesetzt. Eine linke Sperrminorität wolle man bei den Europa-Wahlen erreichen, lautet die Parole aus der SPE-Führung um den deutschen Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz. Dafür müssen auch die Grünen und die linkssozialistische Fraktion sowie einige Liberale gewonnen werden. Eine bunte Koalition, die zumindest einmal schon erfolgreich und medienwirksam zusammenkam. Als der frisch gekürte Barroso 2004 sein Kommissionsteam vorstellte, versagte ihm die Mehrheit der Abgeordneten die Unterstützung und setzte den Austausch mehrerer umstrittener Personen wie etwa des italienischen Kommissars Rocco Buttiglione durch.
Wenn die Staats- und Regierungschefs der EU kurz nach den Wahlen darüber beraten, wer für die nächsten fünf Jahre an der Spitze der Kommission stehen soll, hoffen die Sozialdemokraten im Europa-Parlament darauf, mit einer ähnlichen Mehrheit wie 2004 eine zweite Amtszeit Barrosos verhindern zu können. Zu groß ist der Zorn auf seine wirtschaftsliberale Politik, die er gemeinsam mit Charlie McCreevy betreibt, dem Kommissar für den Binnenmarkt. Deshalb will die SPE »den Mitverursachern der Wirtschaftskrise« unter keinen Umständen zu einer Verlängerung ihres Mandats verhelfen.

Der Kompromisskandidat könnte ein Liberaler sein. Das zumindest wird in der sozialdemokratischen Führung erwogen, der klar ist, dass es für einen der ihren auf keinen Fall reichen wird. Hier kommt wieder der liberale Fraktionsvorsitzende Graham Watson ins Spiel. Denn die Umfragen von Anfang Mai sprechen nicht dafür, dass es nach dem 7. Juni eine konservativ-liberale Mehrheit geben wird.
Die EVP muss danach mit einem Rückgang von 37 auf 34 Prozent der Stimmen rechnen, während die Liberalen stagnieren und die Sozialdemokraten 28 Prozent erwarten können. Auch die Linke dürfte zulegen. Erschwerend kommt für die Konservativen hinzu, dass die britischen Tories endgültig ihren Austritt aus der EVP-Fraktion nach der Wahl angekündigt haben. Sie wollen gemeinsam mit tschechischen Konservativen eine europaskeptische Fraktion gründen.
Wenn Watsons Liberale eine große Koalition verhindern wollen, hätten sie gemeinsam mit Sozialdemokraten, Grünen und Linken wahrscheinlich eine absolute Mehrheit. In demselben Interview, in dem er von der neuen rechtsliberalen Mehrheit träumte, betonte Watson im November auch die Gemeinsamkeiten mit den linken Fraktionen etwa in Umweltfragen oder in der Außenpolitik. Hier habe man häufig zusammen abgestimmt. Auch wenn es am Ende für den Posten des Parlamentspräsidenten nicht reicht, könnte Graham Watson doch eine nicht minder interessante Rolle zukommen. Denn seine Fraktion könnte entscheiden, wer künftig die EU-Kommmission führt.