Das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität«

In aller Freundschaft

Das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« sollte die Alternative zu einem »Zentrum gegen Vertreibungen« sein, wie es der Bund der Vertriebenen forderte. Nun wird es wohl eher dessen Beiwerk.

»Ein vor Jahren allem Anschein nach tot geborenes Kind ist ins Leben getreten«, kommentierte die Welt. Am Mittwoch voriger Woche hatten Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) und sein polnischer Amtskollege Bogdan Zdrojewski während einer offiziellen Feierstunde in Berlin eine Absichtserklärung für ein gemeinsames »Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität« unterzeichnet. Ungarn und die Slowakei werden dem Netzwerk ebenfalls angehören, weitere Länder wie Tschechien und Österreich sollen folgen. Die Institution mit Sitz in Warschau soll noch vor der Sommerpause ihre Arbeit aufnehmen. Konkrete Aussagen zur Arbeit des Netzwerks machte Neumann allerdings nicht. Ziel sei es, mit Projekten aus Wissenschaft und Bildung das gegenseitige Vertrauen zu stärken.

Ursprünglich war das Netzwerk als Gegenidee zu einem national ausgerichteten Vertreibungszentrum in Berlin entstanden, wie es der Bund der Vertriebenen (BdV) forderte. Im Februar 2005 – noch unter Rot-grün – hatte die damalige Kulturstaatsministerin Christina Weiss gemeinsam mit ihren Kollegen aus den anderen drei beteiligten Ländern eine relativ konkrete Absichtserklärung verabschiedet, in der Warschau als Sitz des Netzwerks festgelegt wurde. Bereits nach wenigen Monaten wurde das Projekt allerdings von der neuen polnischen Regierung unter Jaroslaw Kaczynski mehr oder weniger offiziell auf Eis gelegt. Der willkommene Anlass: Die neue Regierung in Berlin hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag auf die Errichtung eines »sichtbaren Zeichens gegen Flucht und Vertreibung« geeinigt – also genau jenes Vertreibungszentrum, an dessen Stelle das Netzwerk hätte treten sollen.
Weiss’ Nachfolger Neumann erwähnte am Mittwoch zwar, dass das Netzwerk einige »Durststrecken« habe durchlaufen müssen, doch die Gründe dafür nannte er nicht. Stattdessen lobte er überschwänglich die »freundschaftliche Partnerschaft« zwischen Deutschland und Polen, der auch »Irritationen« nichts anhaben könnten.
Es waren seine Parteifreunde, die wiederholt Irritationen auslösten. Erst im Februar hatten zahlreiche Unionspolitiker gefordert, die BdV-Vorsitzende Erika Steinbach (CDU) müsse einen Sitz im Rat der neu gegründeten Stiftung »Flucht, Vertreibung« erhalten (Jungle World 10/09). Steinbach trat einen taktischen Rückzug an. Der BdV ließ einen Platz im Stiftungsrat unbesetzt, jedoch nur »vorläufig«, wie der Verband mehrfach betonte. Dem Spiegel zufolge hat die Union nun auf Drängen der CSU einen Passus in ihr Bundestagswahlprogramm aufgenommen, der Steinbach zumindest indirekt dazu auffordert, den Sitz doch noch zu besetzen.

Ein zweiter Wahlaufruf der Union sorgt derzeit ebenfalls für Verstimmungen im deutsch-polnischen Verhältnis: In einem Aufruf zur Europa-Wahl fordern CDU und CSU die »Verwirklichung des Rechts auf die Heimat auch der deutschen Vertriebenen«. Weiter heißt es: »Vertreibungen jeder Art müssen international geächtet und verletzte Rechte anerkannt werden.« Mit keinem Wort wird freilich der historische Kontext erwähnt, der von Deutschland begonnene Krieg. Mit solchen Aussagen werden polnische Befürchtungen hinsichtlich einer Umdeutung der Geschich­te in Deutschland genährt. Die Zeitung Dziennik Polski kommentierte lapidar: »Die Deutschen wollen Opfer sein.«
Der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und ehemalige Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski polterte, die Union verfolge mit dem »Recht auf Heimat« territoriale Forderungen gegenüber Polen. Prompt bezeichnete CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt diese Aussage als »unerträgliche Einmischung eines Ewig-Gestrigen«. Dobrindts Wortwahl zeigt: Dass ein polnischer Parteivorsitzender sich zum Europa-Wahlprogramm einer großen deutschen Partei äußert, ist bei der Union offenbar nicht vorgesehen. Generell wird Kritik aus Polen am deutschen Vertreibungsdiskurs hierzulande meist als Überempfindlichkeit abgetan oder ihr wird – wie im Falle Kaczynskis – politisches Kalkül unterstellt. Der Vorwurf an Kaczynski, sich im Wahlkampf mit »antideutscher Rhetorik« profilieren zu wollen, kommt auch von der in Polen regierenden Bürgerplattform (PO), etwa von ihrem Fraktionsvorsitzenden im Sejm, Zbigniew Chlebowski. Dessen Parteifreund Sebastian Karpiniuk meinte gar, Jaroslaw Kaczynski sei »das männliche, polnische Gegenstück zu Erika Steinbach«.
Auch von polnischer Seite wird also derzeit die Verständigung mit Deutschland betont. Selbst die konservative Rzeczpospolita titelte vorige Woche: »Polen vertraut den Deutschen wieder.« Minister Zdrojewski sprach in seiner Rede am Mittwoch davon, dass »das Unmögliche möglich geworden« sei, und betonte das gemeinsame Ziel der Verständigung. Auf etwaige Unstimmigkeiten, etwa den Streit um das »sichtbare Zeichen«, hinzuweisen, vermied auch er tunlichst. Später darauf angesprochen, antwortete Zdrojewski, das Netzwerk und das »sichtbare Zeichen« seien zwei verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun hätten. Dass sich das Netzwerk überhaupt mit dem Thema Vertreibungen (ob von Deutschen oder anderen) beschäftigen werde, sei eher unwahrscheinlich, so der Minister der Rzeczpospolita zufolge. Dem müssten auch Polen und Tschechien zustimmen, was er nicht sehe.

Das europäische Netzwerk ist also von einer Alternative zu einem deutschen »Zentrum gegen Vertreibungen« zu dessen rhetorischem Beiwerk verkommen. Im völligen Widerspruch zum rein deutschen Charakter des »sichtbaren Zeichens« betonte Neumann in seiner Rede am Mittwoch die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit im Bereich der Erinnerung. So lobte er ausdrücklich die Ausstellung »Wir Berliner!« – eine Kooperation des Berliner Stadtmuseums und des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Dessen Direktor, Robert Traba, erläuterte, die Ausstellung habe mit Absicht den engen Rahmen nationaler Geschichtswahrnehmungen sprengen wollen, denn Dialog sei das Wesen von Geschichte. Damit wandte sich Traba implizit auch gegen die Konzeption des geplanten Vertreibungszen­trums in Berlin.

Das Lob der beiden Minister galt auch der am selben Tag im Deutschen Historischen Museum (DHM) von ihnen eröffneten Ausstellung »Deutsche und Polen – 1.9.39 – Abgründe und Hoffnungen«. Der unglücklich gewählte Titel spielt nicht etwa auf die in Deutschland seinerzeit weit verbreiteten Großmachtphantasien an, sondern beschreibt dem DHM zufolge den »oft steinigen Weg zu einer Annäherung von Deutschen und Polen nach 1945«. Tatsächlich versucht die Ausstellung, dem Publikum die historische Dimension der Zerschlagung Polens durch Preußen im 18. Jahrhundert und die Dimension der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs begreifbar zu machen. An der Konzeption waren auch polnische Historiker beteiligt. Wie im deutschen Erinnerungsjargon üblich, mündet die Darstellung jedoch in das Narrativ einer »konfliktreichen«, aber doch gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte.

Am 9. Juni findet in der Humboldt-Universität in Berlin eine Podiumsdiskussion über die deutsche Geschichts­politik zum Thema Vertreibungen statt. Zu den Gästen gehört auch Robert Traba. Siehe http://agi.blogsport.de