Die Ärzte und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens

Bloß keine Abstriche machen

Die Ärzteschaft versucht mit allen Mitteln, ihr betriebswirtschaftliches Interesse durch­zusetzen. Zugleich beklagen die Ärzte die »Ökonomisierung« des Gesundheitswesens.

Eigentlich haben die niedergelassenen Ärzte keinen Grund zur Klage. Nachdem sie gegen Ende des Jahres 2008 in Deutschland einen Honorarzuwachs von rund 3,5 Milliarden Euro erstritten haben, stehen ihnen dieses Jahr circa 30,5 Milliarden Euro aus dem Topf der Gesetzlichen Krankenkassen zur Verfügung. Bezahlt wird dieser Be­trag weitgehend durch die Krankenkassenbeiträge der abhängig Beschäftigten. Zusätzlich zu diesem Honorarzuwachs konnten ihre politischen Vertretungen, die Kassenärztlichen Vereinigungen, eine Honorarreform durchsetzen, von der sich die Ärzte mehr Transparenz bei der Vergütung der Leistungen versprechen. Die Reform erlaubt ihnen, ihre Honorare nicht länger in Punkten, sondern in absoluten Euro-Beträgen über die Gesetzlichen Krankenkassen zu berechnen.
Darüber hinaus hatten die Ärzte auf eine andere Verteilung der Gelder zwischen den verschiedenen Facharztgruppen gehofft. Auch dies konnten sie teilweise erreichen. Zusammen mit den Umverteilungskomponenten des im Januar 2009 eingeführten Gesundheitsfonds hat das zur Folge, dass die Einkommen der Ärzte in den neuen Bundesländern, die 20 Jahre lang durchschnittlich zehn Prozent weniger als ihre Kollegen im Wes­ten verdienten, stärker ansteigen als die der westdeutschen Ärzte. Deren Gewinne dagegen – vor allem die der Ärzte im reichen Süden – werden dieses Jahr wegen ihrer starken Einkommens­zuwächse im Jahr 2008 in geringerem Ausmaß ansteigen – »nur« unter zehn Prozent. Sie bekom­men also weniger mehr.

Dies ist der Hintergrund der »Protestaktionen« seit Beginn dieses Jahres, an denen sich vor allem Ärzte aus Bayern und Baden-Württemberg be­teiligen: Niedergelassene Kassenärzte verweigern Kassenleistungen – was sie nach dem Sozialgesetzbuch V nicht dürfen – und fordern private Ho­norare für Kassenleistungen von gesetzlich Kran­kenversicherten (zum Teil sogar im Voraus), was ebenfalls illegal ist. Sie drohen mit Praxisschließungen oder schließen ihre Praxen in konzertier­ten Aktionen tage- oder gar wochenweise. Die »viel zu niedrigen Kassenhonorare« ließen ihnen keine andere Wahl, so die Verlautbarungen, die man seit Anfang des Jahres von den Standesvertretern hört. Kritiker, die es auch unter den Ärzten gibt, bezeichnen dies als »Geiselnahme der Pa­tienten« zur Durchsetzung der betriebswirt­schaft­lichen Interessen von Kleinkapitalisten.
Diese Interessen hat nun der Präsident der Bun­desärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, anlässlich des Deutschen Ärztetags medienwirksam mit einem gesundheitspolitischen Vorschlag auf den Punkt gebracht. Angesichts des von ihm attestierten »chronischen Geldmangels« im Gesund­heits­wesen, das immerhin das drittteuerste der Welt ist, schlägt er eine »Priorisierung von Leistungen« vor. Das heißt, dass in Zukunft nur noch die »nötigsten« medizinischen Leistungen von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden sollen. Alle anderen Leistungen sollen pri­vat direkt an den Arzt bezahlt oder über private Zusatzversicherungen abgedeckt werden. Was zu den nötigsten Leistungen gehört, soll ein »Gesundheitsrat« entscheiden, in dem natürlich auch die Ärztevertreter eine Stimme haben sollen.

Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Leonhard Hansen, schlägt in der gleichen Absicht eine drastische Ausweitung der Praxisgebühren vor. Eine Maßnahme, die arme Bevölkerungsschichten überproportional belasten würde. Zusätzlich hat der Ärztetag dieses Jahr einen Antrag verabschiedet, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, das Kosten­er­stattungsprinzip flächendeckend in der Gesetzlichen Krankenversicherung einzuführen. Das wür­de bedeuten, dass jeder Patient zunächst eine Rechnung von seinem Arzt bekommen würde. Die müsste er dann seinem Arzt überweisen und das Geld anschließend von seiner Krankenkasse zurückfordern. Die Ärzte versprechen sich davon weniger Bürokratie. Sie bekämen ihr Geld direkt, und mit den Kassen müssten sich die Patienten herumschlagen. Offenbar hoffen die Ärzte, dadurch auch an mehr Geld zu kommen, weil sie sich bei ihren Abrechnungen dann an der Vergütung für Privatleistungen orientieren könnten.

Die Forderung nach allgemeiner Kostenerstattung, die von der konservativen, sich selbst »frei« nennenden Ärzteschaft schon lange gestellt wird, zeigt zum einen die soziale Blindheit der gut verdienenden deutschen Ärzteschaft, die sich nicht vorstellen kann, was diese für einen Hartz-IV-Empfänger oder für Niedriglohnarbeiter bedeuten würde. Zum anderen zeugt sie von der Unverfrorenheit einer Berufsgruppe, die meint, sie kön­ne ihr betriebswirtschaftliches Interesse absolut setzen, obwohl sie im Unterschied zu anderen Klein­kapitalisten durch die Pflichtversicherungen der Beschäftigten bezahlt wird und damit über ein privilegiertes, staatlich garantiertes Geschäftsmodell verfügt.
Formulierungen des Ärztetags wie jene, »dass das Gesundheitswesen keine Gesundheitswirtschaft ist, dass Ärzte keine Kaufleute und Patienten keine Kunden sind« und »wieder der kranke Mensch« im »Mittelpunkt eines funktionierenden Gesundheitswesens« stehen müsse, verschleiern den Hintergrund der Forderung.
Diesmal war das Eigeninteresse hinter dem stets vorgeschobenen Wohl der Patienten jedoch zu offensichtlich. Die Forderung nach allgemeiner Kostenerstattung stieß auf derart breiten Pro­test, dass sie der Ärztetag zwei Tage später wieder zurücknehmen musste. Der Ärztetag habe noch einmal nachgedacht, verkündete Hoppe. Vielen armen Menschen oder Behinderten, die in schwie­rigen Verhältnissen lebten, könne man eine solche Vorleistung nicht zumuten.
Die gesundheitspolitisch größere und umfassendere Zumutung, die Forderung nach Priorisierung medizinischer Leistungen, ist dagegen vom Ärztetag durchgewunken worden. Diese bedeutet, dass die Ärzte angesichts ihrer realistischen Einschätzung, dass das Budget der Gesetzlichen Krankenkassen angesichts der Wirtschaftskrise in Zukunft nicht mehr wie gewohnt wachsen wird, für das gleiche Geld in Zukunft weniger Leis­tungen anbieten wollen. Leistungen, die sie künftig nicht mehr als reguläre Kassenleistung behan­deln wollen, möchten sie zusätzlich privat abrechnen – oder aber über eine private Versiche­rung abgedeckt wissen, die die gesetzlich Versicherten zusätzlich abschließen sollen. Dies würde den Ärzten ermöglichen, noch mehr Leistungen als bislang nach dem für sie lukrativeren Abrechnungs- und Vergütungsmodus der privaten Kassen abzurechnen.

Die Forderungen der Ärzte gehen dabei interessanterweise mit einer ideologischen Kritik der Ökonomisierung des Gesundheitswesens einher, die sich an den Zeiten orientiert, in denen es den Ärzten angeblich nur um das Wohl des Patienten ging. Faktisch handelte es sich beim Modell, dem die Ärzte heute hinterher trauern, um ein nach ihren betriebswirtschaftlichen Interessen politisch installiertes Gesundheitswesen. Dieses, so jubelte das Deutsche Ärzteblatt 2005, habe den Kassenärzten über Jahrzehnte hinweg »das Monopol bei der ambulanten medizinischen Versorgung« garantiert und »aufgrund seiner Honorarbestimmungen die Voraussetzungen für den in der Folge zu verzeichnenden überdurchschnittlichen Einkommenszuwachs« geschaffen. Das sind die Zeiten, in denen es angeblich noch keine Ökonomisierung des Gesundheitswesens gab, nach denen sich die Mehrheit der deutschen Ärzte zurücksehnt.