Die Ethik der Nation

Forderungen nach Rationierung im Gesundheitswesen sind Forderungen nach dem Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum.

Wörter wie »Beitragsbemessungsgrenze« sind Schlaftabletten in Buchstabenform. Ihre Dosis ist im Gesundheitswesen so hoch, dass einem beim Versuch, dieses zu verstehen, die Augen zufallen. Wer sich hier auskennt, verfolgt meist eine der Interessen jener korporatistischen Institutionen, die sich GKV abkürzen oder Kassenärztliche Vereinigung heißen. Der Wirrwarr der selbstverwalteten Organe des Gesundheitssystems, das einst aus der die Arbeiterschaft befriedenden Bismarckschen Sozialgesetzgebung hervorging und das auch heute noch, wie Norbert Blüm sagte, »Konflikte dezentralisiert« und durch die »Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine Quelle der partnerschaftlichen Kultur« sein soll, ist krank, hat aber lange Zeit medizinischen Fortschritt gebracht, so dass sich nur wenige kritischer Geister mit ihm beschäftigten.
Jetzt aber wird dies dringlich: Bei der Diskussion über die medizinischen Leistungen, die nicht länger allen gewährt werden sollen, geht es nicht mehr um Homöopathie, sondern um das Hüftgelenk für die Großmutter oder die Krebstherapie, die ihr Leben vielleicht um drei Monate verlängert. Wer meint, man solle der Oma die Hüftoperation oder gar drei Monate qualvollen Lebens ersparen, ist geistig schon dort, wo die Ärzte, die die aktuelle Debatte anstießen, gerne die öffentliche Meinung sähen: Dort, wo das Kollektiv entscheidet, was für das Individuum »medizinisch notwendig« ist.
Die Debatte ist nicht neu. Im Oktober 2006 lud der Nationale Ethikrat zur Jahrestagung unter dem Motto »Gesundheit für alle – wie lange noch?«, um über »Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen« zu sinnieren. Denn »das deutsche Gesundheitssystem wird an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gelangen«, das war die Prämisse und ist es immer noch. Wege, die auch einer »alternden Gesellschaft« medizinischen Fortschritt ermöglichen, indem man etwa den gesellschaftlichen Reichtum so einsetzt, dass alle optimale medizinische Versorgung erhalten, fallen offenbar aus dem Rahmen dessen, was der deutsche Ethikrat für machbar hält – ganz so, als wäre ein Ethikrat für das Machbare zuständig.
Wenn es um »Rationierung« geht, ist kein Zufall, dass die Ethik des nationalen Kollektivs mit dessen Pragmatik zusammenfällt. Das Gesundheitswesen ist Teil der Infrastruktur, die nicht allein Individuen beglückt, sondern zur Reproduktion des Kapitals und damit des Ganzen dient – so wie Kläranlagen oder Universitäten. Und wie das Bildungssystem kann man auch das Gesundheitswesen in Zeiten wie diesen, in denen kein Mangel an gesunden human ressources herrscht, etwas herunterfahren. Denn die brauchbareren Subjekte glauben ohnehin an Gesundheit durch Selbstdisziplinierung und lachen über die, die noch gesetzlich krankenversichert sind. Denen hingegen, deren Lebenserwartung sozial bedingt bis zu zehn Jahre niedriger liegt, weitere Jahre zu gönnen, widerspricht der volkswirtschaftlichen Rationalität. Und was im Sinne des Volkes und dessen Wirtschaft ist, kann auch im Sinne eines nationalen Ethikrats nicht verwerflich sein. Wo sich die Apologeten der Sach- und Sparzwänge mit den Ethikern der Nation einig sind, sieht es für die Individuen finster aus.