Erdogans »Selbstkritik« und die türkische Kurdenpolitik

Erdogans Überraschung

Der türkische Regierungschef verblüffte die Öffentlichkeit mit einer Bemerkung über den Umgang des türkischen Staates mit nicht-muslimischen Minderheiten, den er als »faschistisch« bezeichnete. Viele in der Türkei sehen darin eine »Selbstkritik«, die vor allem für die Kurdenpolitik Folgen haben könnte.

Kaum beginnt in der Türkei eine ernsthafte Diskussion um eine Demilitarisierung des vor allem von Kurden bewohnten Südostens, kommt es erneut zu Detonationen. In der Nacht zum 28. Mai befand sich ein Tross türkischer Soldaten auf dem Weg zu einer Militäroperation gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In der Nähe der Ortschaft Cukurca explodierte am Straßenrand ein Sprengsatz, als ein mit Soldaten beladenes Fahrzeug vorbeifuhr. Bei der Explosion wurden sechs türkische Soldaten getötet, weitere acht Soldaten wurden bei dem Anschlag nahe der irakischen Grenze verletzt. Die Sicherheitskräfte vermuten die verbotene PKK hinter der Aktion.

Der Anschlag ereignete sich am Ende einer Woche voller erhitzter Debatten, die Regierungschef Recep Tayyip Erdogan ausgelöst hatte, mit einer Bemerkung, die viele überraschte. In der Türkei seien lange Zeit die Mitglieder nicht-muslimischer Minderheiten aus dem Land gejagt worden, und dies sei »das Ergebnis einer faschistischen Haltung«. Erdogans Bemerkung fiel im Rahmen ­einer Debatte über die Räumung von Landminen an der Grenze zu Syrien. Dazu gibt es einen Gesetzentwurf, den die nationalistische Opposition vehement ablehnt.
Die türkische Regierung steckt derzeit in einem Dilemma. Die Türkei hat sich im Jahr 2003 verpflichtet, die Minen bis 2014 zu räumen. Seither ist allerdings wenig passiert, und nun sind Zeit und Geld knapp geworden. Die vorgesehene internationale Ausschreibung des Auftrags sieht vor, dass das ausgewählte Unternehmen nach der Minenräumung das Recht hat, die betroffenen Landstriche entlang der fast 900 Kilometer langen Grenze 44 Jahre lang für die Biolandwirtschaft zu nutzen. Nach Presseberichten haben vor allem Firmen aus Israel gute Chancen, den Auftrag zu erhalten – und dagegen wehrt sich die nationalistische Opposition. »Die Juden überwachen demnächst die türkische Grenze«, lautete ihr Vorwurf. Erdogan überraschte daraufhin mit für ihn ungewöhnlichen Tönen und wies diese Einwände als »kleingeistig« zurück. Man dürfe nicht ausländische Investoren zurückweisen, weil sie Juden seien, sagte er. Die Vertreibung von Menschen aus ethnischen Gründen sei in der Vergangenheit ein großer Fehler gewesen, über den man angesichts des angerichteten Unheils heute nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen könne. Nicht nur die Opposition war sprachlos, auch viele Vertreter von nicht-muslimischen Minderheiten und Intellektuelle, die die türkische Minderheitenpolitik bereits lange öffentlich kritisieren, waren überrascht. Sie reagierten aber hoffnungsvoll auf den Vorstoß des Premiers.
Eine offene Debatte über Minderheitenfragen wird in der Türkei weiterhin von der Justiz behindert. Dennoch wird sie von zahlreichen Publikationen vorangetrieben, welche die heiklen Fragen deutlich benennen. Der Politologe Baskın Oran etwa nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Vertreibung von mehreren zehntausend Griechen, Armeniern und Juden geht, die in den vergangenen Jahrzehnten die Türkei nach Pogromen und staatlichem Druck verlassen mussten. Er publiziert regelmäßig in liberalen Blättern wie der Tageszeitung Radikal aus dem Verlagshaus Dogan, in dem auch die Boulevardzeitung Hürriyet erscheint. In diesem Jahr erinnerten mehrere Journalisten und Kulturvereine gemeinsam an die Ermordung und Vertreibung der armenischen Minderheit am Anfang des 20. Jahrhunderts und an den Höhepunkt der staatlichen Vertreibungspolitik gegen religiöse Minderheiten: die antigriechischen Pogrome im September 1955. Hunderte Geschäfte von Christen wurden damals in Istanbul geplündert und mindestens elf Menschen starben. Als Folge verließen viele Istanbuler Griechen die Türkei. Ende der fünfziger Jahre gab es noch rund 100 000 Griechen in der Stadt, heute sind es noch 2 000 bis 3 000. Auch viele Juden wanderten in die USA und nach Israel aus.

Lange Zeit waren diese Ereignisse in der Türkei in der offiziellen Politik tabu. Dass Erdogan nun als Ministerpräsident die Vertreibungspolitik öffentlich verurteilt, wurde von vielen Zeitungen als »historische Selbstkritik« gewürdigt. Selbst regierungskritische Akademiker wie Oran erklärten nun, sie seien »stolz« auf den Regierungschef. Vertreter der christlichen und jüdischen Minderheiten sprachen von einem »mutigen Schritt«. Dabei geriet der Anlass – die Minendiskussion und die damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen – schnell in den Hintergrund. Dass die »Selbstkritik« des Premierministers gerade jetzt erfolgt, ist dabei vermutlich kein Zufall.
Denn die Debatte betrifft derzeit vor allem den seit mehr als zwei Jahrzehnten virulenten Kon­flikt des türkischen Staates mit der kurdischen Minderheit. Erdogan lässt seit einigen Wochen erkennen, dass es ihm um eine generelle Kurskorrektur im Umgang mit den Rechten der kurdischen Minderheit geht. Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül bezeichneten die derzeitige Situation als »historische Chance«, die es zu nutzen gelte. Nach den bisherigen Plänen sollen die Kurden das Recht bekommen, ihren Kindern kurdische Namen zu geben, kurdische unabhängige Medien sollen mehr Rechte und Freiheiten erhalten. Gleichzeitig erwägt die türkische Regierung, die Einzelhaft des vor zehn Jahren zum Tode verurteilten und dann zu einer Gefängnisstrafe begnadigten Chefs der PKK, Abdullah Öcalan, aufzuheben. Parallel dazu ließ die PKK-Führung Verhandlungsbereitschaft erkennen. Aus den Kandilli-Bergen, dem Sitz des militanten Flügels, hieß es, die PKK wolle keine Unabhängigkeit der Kurden in der Türkei, nur die lokale Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung solle gestärkt werden. Die PKK verkündete eine Waffenruhe bis zum 1. Juni. »Wir nehmen das sehr ernst. Auf die eine oder andere Art haben alle Beteiligten erklärt, dass Krieg und Gewalt die Probleme nicht lösen werden«, so der Vorsitzende der legalen pro-kurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP), Ahmet Türk.
Als Höhepunkt des sich anbahnenden Konsenses unternahm auch der Vorsitzende der Repu­bli­kanischen Volkspartei, Deniz Baykal, vergangene Woche eine Reise in die Grenzregionen des türkischen Südostens und signalisierte erstmalig seine Bereitschaft, die Kurden-Frage als politisches Problem zu akzeptieren. Die früher eher sozialdemokratisch orientierte Partei vertritt seit Baykals Übernahme der Parteiführung 2002 immer stärker nationalistische Positionen und bildet mit der ultranationalistischen Nationalen Bewegungspartei (MHP) die Opposition im Parlament. Die DTP blieb bislang immer Außenseiterin, mehrere Parteifunktionäre wurden in den vergangenen Wochen verhaftet und wegen separatistischer Aktivitäten angeklagt. Der klare Wahlerfolg der DTP in den kurdischen Provinzen bei den Kommunalwahlen Ende März scheint jedoch ein gewisses Umdenken ausgelöst zu haben. Umso schlimmer ist die erneute Unterbrechung der Debatte durch die noch vor Ende des ausgerufenen Waffenstillstands explodierten Sprengsätze im Grenzgebiet. Der Vorsitzende der DTP, Ahmet Türk, erklärte am Donnerstag voriger Woche, wer am Frieden interessiert sei, müsse endlich den Finger vom Abzug nehmen. Er meinte damit sowohl die andauernden Operationen des türkischen Militärs als auch der PKK.