Das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig

Alles so schön bunt hier

Auf dem Leipziger Wave-Gotik-Treffen versammeln sich die Anhänger von schwarzer Mode, düsterer Musik und dramatischer Emotionen. Aber Gothic ist längst im Mainstream angekommen.

Was haben der Mittelalter-Hüne in Mönchskutte, das Girlie in knappem Lack-Mini und Netz­strümpfen, der Punk mit rot-schwarz gestreiftem Iro, der Cyber-Goth mit fluoreszieren­dem Kunsthaar und die streng gescheitelte Uniformträgerin gemeinsam?
Sie alle tummelten sich auf dem 18. Wave-Gotik-Treffen. So wenig die illustren Gäste auf den ersten Blick miteinander zu tun haben – in Leipzig treffen sie sich. Längst dominiert auf dem Festival nicht mehr bloß Einheitsschwarz. Von Jahr zu Jahr lässt sich schwerer fassen, wer oder was überhaupt »Gothic« ist. Man darf vermuten, dass sich mittlerweile höchstens die Hälfte der rund 20 000 Besucher selbst als »Gothics« oder »Grufties« bezeichnen würden.
Das Treffen wird immer bunter, wer »dazugehört« und wer nicht, immer weniger fassbar. Pinker Plüsch, blauschillernde Wimpern, zerfetz­te Leopardenstrumpfhosen, weiße Plateaustiefel und beigefarbene Reifröcke durchmischen die traditionell schwarz gekleidete Szene. Auch das Altersspektrum klafft immer weiter auseinander: Während jedes Jahr viele blutjunge Besucher dazukommen, finden sich immer mehr Gäste jenseits der 40 oder sogar 50 ein, die teilweise seit den achtziger Jahren zur Szene ge­hören.
Im Gegensatz zu ähnlichen Szene-Großveranstaltungen wie dem M’era Luna konzentriert sich das Geschehen in Leipzig nicht auf eine ein­zige Bühne, das Angebot umfasst ein umfangreiches kulturelles Rahmenprogramm. Musikalisch differenziert sich das Programm immer mehr aus. Beim ersten Festival im Jahr 1992 wa­ren gerade mal zehn Bands am Start. Mit Szenegrößen wie Love like Blood, Das Ich und The Eternal Afflict wurde ein zwar einflussreicher, aber auch sehr begrenzter Kreis der schwarzen Szene abgebildet. In den Folgejahren wuchs das Festival stetig und dehnte sich auf verschiedene, über ganz Leipzig verteilte Locations aus. Ab Mitte der neunziger Jahre ergänzten Metal- und Mittelalterbands, Neofolk, EBM und Futurepop, Deathrock, Horrorpunk und Psychobilly das musikalische Spektrum. Dazu kam ein immer vielfältigeres Angebot an Lesungen, Filmen, Ausstellungen und natürlich Partys für beinahe jeden Musikgeschmack. Obwohl in diesem Jahr der Übersichtsplan auf drei statt zwei DIN-A4-Seiten abgedruckt war, brauchte man zum Lesen noch immer eine Lupe. Neben knapp 200 Konzerten hatten die Besucher an vier Tagen die Qual der Wahl zwischen dunkel­ro­man­tischer Lyrik in der Absintherie Sixtina, Szenegottesdiensten in der Peterskirche, Mozarts »Re­quiem« im Völkerschlachtdenkmal, einer Füh­­rung über den Südfriedhof oder einem Viktorianischen Picknick.
Angesichts dieses Überangebots, des Massengedränges und der zunehmenden Kommerzialisierung verwundert es nicht, dass sich einige Besucher das Festival in seinem ursprünglichen kleinen Rahmen zurückwünschen. Gothic ist längst keine Subkultur mehr. Viele modische Elemente wurden von anderen Gruppierun­gen übernommen, wie der Emo- oder der Visual-Kei-Szene. Schon in der Bravo können kleine Mädchen heute nachlesen, wie sie sich im »Gothic-Style« schminken können. In vielen Großraumdiskos wird mindestens einmal im Monat eine »schwarze Nacht« veranstaltet, die regelmäßig Hunderte von Besuchern anzieht. Dort tanzen die zum Samstagabend aus dem Umland angekarrten, in Lack und Leder gehüllten Bankangestellten und Arzthelferinnen zu den immer gleichen Hits von ASP, Unheilig, Eisbrecher & Co.
Dass bestimmte Segmente von Gothic mainstreamtauglich geworden sind, ist nichts Neues. Man denke nur an den immensen Erfolg von biederen, auf Teenies ausgerichteten Vampir-Filmen und -Büchern wie »Twilight« oder den Halloween-Hype der vergangenen Jahre. Da überrascht es nicht, dass sich mittlerweile viele Gothic-Bands von der Originalität ihrer Arrangements und ihrer Texte nicht wesentlich vom deutschen Schlager unterscheiden. Hinter der Böse-Buben-Attitüde und krachigen Tönen verbergen sich oft plump-kitschige Zeilen wie: »Das Leben ist mehr als wir sehen/Schatten die an uns vorüberziehen/weinen wir aus Trauer und Schmerz/spüren wir das Leben tief im Herz« (Unheilig) oder werden Todessehnsucht und Friedhofsromantik in holprigem Schulenglisch wiedergekäut: »We are the creatures of the night/We want your blood/We’re the seduction of evil/Want to conquer the world« (Blutengel).
Auch das ist Gothic, so sehr es manche bedauern mögen. Dass sich Gothic aber nicht darin erschöpft, belegt die erfreuliche musikalische Vielfalt auf dem Leipziger Festival. Die über­aus gut besuchten Auftritte von gruftie-untypischen Bands wie dem Elektropop-Duo Die Per­len oder den Indie-Pop-Shoegazern ­iLiKETRAiNS beweisen, dass Gothic weitaus durchlässiger ist, als oft angenommen. Erfrischend auch die Horrorpunk-Band Scary Bitches, die sich in ihren Songs über gängige Gruftie-Klischees lustig macht: »You look like a vampire ready for the slaughter/Are you our child or Dracula’s daughter?/You don’t do nothing to respect our wishes/You’ll end up looking like the Scary Bitches.«
Die schwarze Szene ist mittlerweile so stark angewachsen, dass sie in mehrere Lager zerfällt und sich eine Vielzahl an Unterkategorien herausgebildet hat. Während sich die Mainstream-Grufties vornehmlich auf dem Agra-Messe­gelände konzentrieren, meiden andere Festival-Besucher diese Massenkonzerte und das zugehörige Schaulaufen gänzlich. Berührungs- und Überschneidungspunkte gibt es jedoch immer wieder, etwa wenn Current 93 oder Peter Murphy zum Mitternachtsspezial in der Agra-Halle auftreten.
Am Rande des offiziellen Programms sind von Jahr zu Jahr mehr Veranstaltungen hinzugekommen, die neue Spielarten in das Programm einbringen oder einfach von der Anwesenheit einer internationalen schwarzen Szene profitieren.. Im Jahr 2007 startete beispielsweise die Glitter + Trauma-Party, die sich an alle »schwul-les-bi-schen gothic girls, indie boys, sissy punks und trans rocker« wendet und auch eigene Live Acts bietet. Die derzeitige Vielfalt der Musik­rich­tungen und kulturellen Angebote trägt sowohl dazu bei, mehr und mehr nicht explizit schwarze Besucher anzuziehen, als auch, den harten Kern der Szene für neue Einflüsse zu öffnen. Solange Bands eingeladen werden, die sich vermutlich nie hätten träumen lassen, einmal auf einem Gothic-Festival zu spielen, und dann auch noch vom Publikum dankbar angenommen werden, laufen das Festival und seine Besucher jedenfalls nicht Gefahr, einer selbstreferenziellen Nabelschau zu erliegen.
Der Sänger von iLiKETRAiNS warf zwischen zwei Songs in leicht verschüchtertem Tonfall die Frage in den Raum: »Hier soll nachher eine Fetisch-Party stattfinden? Ich war noch nie auf so was … « Am Ende spielten iLiKETRAiNS mehrere Zugaben und versicherten, sie würden noch »auf ein, zwei Bier« bleiben.