Christian Engström im Gespräch über den Erfolg der Piratenpartei bei den Europa-Wahlen

»Der Preis von Ideen ist eigentlich gleich null«

Die Piratenpartei will das Urheberrecht reformieren und sich für die Grundrechte im Internet einsetzen. In Schweden kam sie bei den Europa-Wahlen auf 7,1 Prozent und erhielt damit einen Sitz im Europäischen Parlament. Der schwedische Informatiker Christian Engström wird ihr erster Europa-Abgeordneter.

Sind Internet- und Copyright-Fragen heute das, was die Ökologie in den achtziger Jahren war – ein von allen Parteien vergessenes Thema, das deswegen eine neue, eigene Partei braucht?

Ja, aber ich würde nicht von Copyright-Fragen sprechen, sondern von Netzpolitik, von Informationspolitik – Urheberrecht ist nur ein Aspekt. Viel wichtiger sind die Menschenrechte – die Menschenrechte im Internet. Wenn man die Erklärung der Menschenrechte ansieht, liest man dort von Redefreiheit und Informationsfreiheit, die besagt, dass es allen Menschen möglich sein muss, sich Informationen zu beschaffen, und dass sie die Behörden daran nicht hindern dürfen. Das so genannte Hadopi-Gesetz in Frankreich berührt etwa die Informationsfreiheit, es berührt auch den Artikel 6, der besagt, das jeder Mensch das Recht zu einem fairen Gerichtsverfahren vor einem ordentlichen Gericht hat. Das Hadopi-Gesetz will es großen Unternehmen überlassen, Menschen ihren Internetzugang zu entziehen. Artikel 8 sagt außerdem, dass man das Recht auf Privat­sphäre und Postgeheimnis hat. Das gilt auch für elektronische Korrespondenz. Weil heute fast alle Korrespondenz elektronisch ist, ist das nicht gerade unwichtig.

Aber auch wenn Sie generell von informationellen Menschenrechten sprechen – ist es nicht trotzdem erstaunlich, dass sich Ihre jungen Wähler heute mehr für Informationspolitik interessieren als etwa für den Klimawandel, die Wirtschaftskrise, zunehmen­de Armut?

Nein, das ist nicht erstaunlich, denn Informationsfreiheiten sind fundamentale Menschenrechte. Wenn sie uns genommen werden, steht die Demokratie auf sehr wackligem Boden. Auch den jungen Leuten in den achtziger Jahren, die Ökologie als politisches Problem erkannten, wird man damals vorgeworfen haben, dass es wichtigere Probleme gebe. Heute sieht man, dass sie Recht hatten. Ich glaube da passiert heute genau dasselbe – nur mit einer an­deren Problemstellung.

In Schweden erhielt Ihre Partei 7,1 Prozent, jetzt sitzen Sie im Europa-Parlament. Was werden Sie dort als erstes tun?

Allgemein sind wir an drei Gebieten interessiert: Erstens sind das die Bürgerrechte, das zweite Ziel ist, die Rechte an geistigem Eigentum zu reformieren, und das dritte ist, die Europäische Union zu demokratisieren. Diesen Herbst werden wir sehen, was auf uns zukommt – eine Sache wird sicher das so genannte Telekom-Paket sein, das viele der vorhin genannten Freiheiten berührt. Aber wir wissen nicht, was diesen Herbst alles passieren wird. Wir haben ge­sehen, dass ständig neue Gesetze geplant werden, die die Freiheit von Information und Kommunikation bedrohen.

Neben dem Einsatz für Bürgerrechte ist Ihre Partei vor allem dafür bekannt, dass sie sich für die Liberalisierung des Urheberrechts einsetzt. So wollen Sie die Dauer des Kopierverbots von bisher 70 Jahren auf fünf Jahre senken.

Genauer ist das Werk noch 70 Jahre lang nach dem Tod des Autors urheberrechtlich geschützt. Das sind insgesamt also oft rund 120 Jahre. Dabei ist es wichtig, sich den Zweck des Urheberrechts vor Augen zu halten. Das Urheberrecht soll es Investoren ermöglichen, Geld in etwas zu investieren, indem eine rechtliche Grundlage für die Erwartung geschaffen wird, dieses Geld zurückzubekommen. Aber kein ­Investor auf der Welt rechnet mit einer Rückzahlungszeit von 120 Jahren! Niemand denkt sich, gut, die ersten 100 Jahre werde ich mit meinen geistigen Bemühungen nichts verdienen, aber dann werden sich meine Anstrengungen auszahlen. Das ist nirgends so, schon gar nicht im kulturellen Bereich, wo die Dinge so schnell­lebig sind.

Aber werden Menschen immer noch genauso viel Geld und Mühen in Werke investieren, wenn diese nur fünf Jahre ihnen gehören?

Ja, natürlich. Die meisten Kinofilme, die vor fünf Jahren gemacht wurden, kann man sich heute im Fernsehen ansehen, und zwar im Programm der billigen Fernsehsender, die nur sehr altes Zeug senden. Oder man kann sie als DVD in der Wühlkiste an der Supermarktkasse kaufen. Natürlich gibt es Ausnahmen. »Vom Winde verweht« oder »Der Herr der Ringe« wird immer toll laufen, aber die haben das in ihre Produktion investierte Geld doch schon lange eingespielt! Fünf Jahre sind wirklich genug.

Was für positive Effekte erwarten Sie von der drastischen Verkürzung des Urheberrechtsschutzes – außer dass man fünf Jahre alte Kinohits nicht mehr an der Supermarkt­kasse finden wird, sondern sie kostenlos herunterladen darf?

Der größte Nachteil der jetzigen Regelung ist, dass der allergrößte Teil der Kultur des 20. Jahrhunderts nicht genutzt und verbreitet werden darf, weil dies schlicht illegal wäre – denn entweder gehören diese Kulturgüter einigen großen Unternehmen, oder aber niemand weiß, wem die Rechte an ihnen gehören. Vielleicht ist der Autor seit 60 Jahren tot, hatte vielleicht aber eine Tochter, die noch am Leben ist – oder auch nicht, wer weiß das schon? Deshalb gibt es jede Menge interessante Sachen, die sich niemand zu nutzen traut: interessantes Footage-Material und vieles mehr. Das, was wir für unser kollektives kulturelles Erbe halten, ist überhaupt kein kollektives Erbe, weil es ­illegal ist, es zu nutzen.

Sie wollen dafür sorgen, dass man sich in Zukunft für private Zwecke Kopien von allen Kulturgütern besorgen darf. Damit wäre Filesharing komplett legal.

Das ist das zweite wichtige Element unseres Vorschlags zur Urheberrechtsreform: dass sich jeder – wie ich betone, für nicht-kommerzielle Zwecke! – Kopien machen darf.

Davor fürchten sich nicht nur die großen Konzerne der Kulturindustrie, sondern auch viele kleine Urheber von literarischen und journalistischen Texten, von Musik, Filmen oder auch von Software.
Denen möchte ich zwei Dinge sagen: Das eine ist, dass sie sich komplett irren. Wenn man sich Statistiken über Einkommen im kulturellen Bereich ansieht, geht aus diesen hervor, dass diese in den letzten zehn Jahren konstant waren oder gestiegen sind. Filesharing ist doch nichts Neues, das wir einführen wollen. Das gibt es, und zwar im großen Ausmaß – spätestens seit 1999 die Tauschbörse Napster aufgemacht hat. Unsere Gesellschaft hat zehn Jahre Erfahrung mit Filesharing. Wir müssen nicht raten, was das für die Produzenten kultureller Güter bedeutet, wir wissen es schon. Das ist die eine Antwort. Die andere Antwort ist Folgendes: Es ist schade, wenn es manche Unternehmen schwer haben, Geld zu verdienen. Aber bürgerliche Freiheit ist wichtiger.

Wenn man sich die Geschichte ansieht, hat es aber den Anschein, als wäre die Erfindung des Urheberrechts nicht gerade unwichtig für die Entwicklung kultureller Güter gewesen. Das Urheberrecht hat die Kunst von den Interessen der adligen und klerikalen Mäzene befreit und damit die bürgerliche, so genannte autonome Kunst ermöglicht.

Nein. Gibt es irgendwelche Studien, die das beweisen?

Das sagen jedenfalls Literatur- und Kunsthistoriker.

Ich habe aber noch nie einen Beweis für diese These gesehen.

Aber wenn man etwa Texte schreibt – und man davon ausgeht, dass Bücher auf Papier sowieso bald Vergangenheit sein werden –, wie soll man etwa ein Jahr oder mehrere Jahre seines Lebens in ein literarisches Werk investieren, wenn es niemanden gibt, der das bezahlt, sondern sich jeder das Werk kostenlos aus dem Internet auf sein Lesegerät lädt?

Wer keine Bücher schreiben will, muss ja keine Bücher schreiben.

Es geht doch nicht um den Willen, sondern darum, ob man die ökonomische Möglichkeit hat, ein Buch zu schreiben, auch wenn man nicht geerbt hat.

Wir haben doch gesehen, dass es gegenwärtig eine absolute Explosion der Textproduktion gibt (lacht). Außerdem war das ganz genau das Argument, das Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam, als öffentliche Bibliotheken eingeführt wurden. Die Autoren behaupteten damals, niemand würde mehr ihre Bücher kaufen, wenn man sie ausleihen und umsonst lesen könne, und deshalb würden auch keine Bücher mehr geschrieben. Wir können zurückblicken und sehen: Es wurden nach 1850 Bücher geschrieben.

Die Piratenpartei behauptet, das immaterielle Güter ganz anders als materielle Güter seien, da ihr »realer Wert« in ihrem Austausch bestehe, richtig?

Ja, richtig.

Was soll »realer Wert« denn bedeuten? Ganz egal, ob es um materielle oder immaterielle Güter geht – ihren Preis erhalten viele Güter jedenfalls erst durch künstliche Verknappung. Es ist doch normal, Dinge zu verknappen, um sie teurer verkaufen zu können. Auch das Öl ist ja nicht einfach teuer, weil es nicht mehr viel davon gibt, sondern weil die Opec die Produktion reguliert. Bei den immateriellen Gütern sorgt eben das Urheberrecht für diese Verknappung.

Ja, das ist wahr. Aber geistiges Eigentum ist im Unterschied zu materiellen Dingen nicht exklusiv. Wenn ich mir einen Song anhöre, bedeutet das eben nicht, dass außer mir niemand anderes diesen Song zur selben Zeit anhören kann. Wenn ich in einem Sessel sitze, kann zur gleichen Zeit niemand anderes in diesem Sessel sitzen. So etwas gibt es nicht bei geistigem Eigentum. Deshalb ist der eigentliche Preis von Ideen gleich Null – jedenfalls aus strikt ökonomischer Sicht und innerhalb der Gesellschaft, wie sie unserer Meinung nach sein sollte.

Sie sind selbst Programmierer. Wenn Sie rückblickend Ihre Karriere betrachten – hätten Sie in der Gesellschaft, die Sie sich wünschen, auf dieselbe Art und Weise Geld verdienen können?

Ja. Das wäre überhaupt kein Problem. Ich arbeitete in einer Firma, die spezielle Software programmiert, um phonetische Vergleiche von Markennamen vorzunehmen. Unsere Kunden waren Patentinstitute – ironischerweise, wie ich sagen muss –, aber nichts davon wäre in irgendeiner Weise vom Urheberrecht und unseren geplanten Reformen betroffen.

Aber ist nicht die Idee der Markennamen an Kopierverbote gebunden? Wenn man einfach Ideen klauen dürfte, hätte sich ein Geschäftsmodell doch erledigt, das anhand des Klanges überprüft, ob ein Markenname eine illegale Nachahmung eines anderen ist.

Nein, das hat mit Urheberrecht nichts zu tun. Das Markenrecht ist vom Urheberrecht strikt getrennt, und unsere Partei sieht nicht vor, irgend­etwas am Markenrecht zu ändern. Wir sind gegen Markenpiraterie, auch wenn es sicherlich Schlimmeres gibt als nachgemachte Rolex-Uhren.

Aber steckt hinter einer Rolex nicht auch nur eine Idee – ein bestimmtes Design, ein bestimmter Mechanismus? Geht es da nicht um den Schutz von Ideen? Und das hat auch nichts mit dem Patentrecht zu tun, das Sie abschaffen wollen?

Nein, denn das vordringliche Ziel von Marken ist Verbraucherschutz. Wenn ich einen Softdrink kaufe, der mir schmeckt, und auf der Dose steht Coca-Cola, dann weiß ich, dass ich wieder eine Coca-Cola kaufen sollte. Wenn mir das Getränk nicht schmeckt, kann ich mich über Coca-Cola ärgern. Das ist Verbraucherschutz.

Die meisten Ihrer Wähler sind junge Männer, die wohl vor allem durch das Urteil gegen Piratebay auf Ihre Partei stießen.

Nein, nicht notwendigerweise. Der Piratebay-Prozess war enorm hilfreich, unserem Anliegen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber wie die meisten Aktiven in unserer Partei halte ich persönlich Filesharing für nicht so wichtig. Uns geht es um den Schutz persönlicher Daten und Freiheiten. Zu behaupten, unsere Wähler seien einfach junge Leute, die gerne Dinge herunterladen, hieße, unsere Wähler zu unterschätzen.

Mit 49 Jahren gehören Sie eigentlich nicht mehr zur Generation der Betreiber von Piratebay, die sich ja gerne als freche Youngsters inszenieren. Identifizieren Sie sich mit Piratebay?

Ja, ich bin total fasziniert, was diese Jungs vollbracht haben. Piratebay ist eine phantastische Suchmaschine, sie macht die Kultur der ganzen Welt für jeden zugänglich, der einen Internetanschluss besitzt. Alles ist nur einen Mausklick entfernt. Piratebay ist wie die berühmte Bibliothek von Alexandria, nur millionenfach besser.

Peter Sunde von Piratebay betont, ihr Projekt sei politisch weder rechts noch links. In der Tat hat Piratebay Unterstützer von Linken, die Filesharing für Kommunismus halten, aber es gibt bei Piratebay mit Carl Lundström auch einen Prominenten aus der extremen Rechten – wie geht das zusammen?

Piratebay und unsere Partei sind komplett getrennte Organisationen. Aber auch wir sind auf der politischen Rechts-Links-Skala neutral. Wir haben alle möglichen Anhänger – Neoliberale genauso wie Linksradikale. Was wir gemeinsam haben? Wahrscheinlich, dass wir Freiheit mögen. Wir denken, dass Offenheit, Pluralismus, kreatives Chaos und größtmögliche Freiheit phantastische Dinge sind. Das ist unsere Ideologie.

Sie haben sich früher in Schweden in der ­liberalen Volkspartei engagiert.

Ja, ich halte mich selbst für einen Liberalen, aber leider ist die liberale Volkspartei nicht mehr ­liberal.

Liberale sind ja normalerweise nicht so liberal, wenn es um Eigentum geht. Liberale Parteien sind etwa nicht dafür bekannt, dass sie Hausbesetzer unterstützen. Mein Vermieter etwa hat das Haus, in dem ich wohne, geerbt, und er investiert seit 20 Jahren nichts mehr. Trotzdem muss ich Miete zahlen. Ist das nicht ähnlich, wie wenn jemand die Urheberrechte eines Pophits von seinem Vater erbt und er dafür auch weiterhin Geld verlangen darf?

Nein, das sehen wir nicht so. Denn diese Dinge regelt das Mietrecht, und damit kennen sich die etablierten Parteien besser aus als wir. Wir kümmern uns um Informationspolitik. Das ist, was wir zur politischen Debatte beisteuern möchten.

Sie haben angekündigt, dass Sie sich im Europa-Parlament einer größeren Fraktion anschließen werden, um ihre Anliegen besser vertreten zu können. Wissen Sie schon, welche das sein wird?

Nein, aber wir sind dabei, das zu entscheiden – die beiden Hauptkandidaten sind die grüne oder die liberale Fraktion.

Da die Piratenpartei nur Aussagen zur Informationspolitik macht – woher sollen die Wähler wissen, wie Sie im Parlament abstimmen, wenn es um andere Dinge geht? Etwa um die Rechte von Flüchtlingen oder Agrarsubventionen?

Wir werden mit der Fraktion abstimmen, mit der wir zusammenarbeiten werden – wir fragen die Abgeordneten dieser Fraktion, die sich auf dieses Gebiet spezialisiert haben.

In manchen Fällen dürfte es einen Unterschied machen, ob Sie mit den Grünen oder den Liberalen koalieren.

Ja, natürlich. Menschen, die sich etwa stark für Landwirtschaftsfragen interessieren – für die sind wir nicht die richtige Partei. Aber für Menschen, die denken, dass der Schutz der Voraussetzungen für Demokratie wichtiger ist, sind wir die richtige Wahl.