Queer Cinema und Mainstream

Wilde Tiger, nette Jungs

Wie das »Queer Cinema« den Mainstream beeinflusst hat und umgekehrt.

Das »New Queer Cinema« ist längst Geschichte. Mehr als 15 Jahre ist es her, dass dieser Begriff geprägt wurde, nachdem in den Jahren 1991 und 1992 eine bislang nie da gewesene Fülle an formal und inhaltlich radikalen Filmen mit queerem Inhalt die Festivals von Sundance und Toronto bestimmt hatte. Innerhalb von nur zwei Jahren ent­standen die frühen Schlüsselwerke von Gus Van Sant (»My Own Private Idaho«, 1991), Todd Haynes (»Poison«, 1991), Gregg Araki (»The Living End«, 1992) und Bruce LaBruce (»No Skin Off My Ass«, 1991). Neu an dieser Form des queeren Kinos war, dass nicht mehr die Diskriminierung durch eine heteronormative Außenwelt im Mittelpunkt stand – im Gegenteil, diese Außenwelt kam in den meisten Filmen gar nicht mehr vor. Ebenfalls neu und für viele Schwule anfangs schockierend war zudem, dass diese Filme keine heile Parallelwelt mehr konstruierten, sondern auch evil guys innerhalb der eigenen Community zuließen. Wobei einige der Filme sogar die Frage aufwarfen, ob es eine solche, in sich geschlossene Community überhaupt je gegeben hat. »Queer« in Abgrenzung zu »gay« bedeutete hier also erst einmal nicht den totalen Bruch mit sexuellen Identitätszuweisungen, sondern die Diversität, mit der schwule und seltener lesbische Lebensentwürfe in ein neues Licht ge­rückt wurden. Und zwar mit allen nur denkbaren Ambivalenzen und Schattenseiten, von schwulen Skinheads bei Bruce LaBruce bis zu den schwulen Kindermördern Leopold und Loeb in Tim Kalins »Swoon« (1992).
Fast alle Regisseure aus dieser Zeit sind heute noch als Filmemacher aktiv, mit Ausnahme von Bruce LaBruce stehen queere Themen inzwischen jedoch nicht mehr unbedingt im Mittelpunkt ihrer Filme, sondern sind oft nur noch Subtext wie im Fall von Haynes Dylan-Hommage »I’m Not There« (2007): Die ständige Transformation von Identität kann zwar queer interpre­tiert werden, lässt aber auch eine heteronorma­tive Lesart zu. Ähnliches gilt für Gus Van Sants »Paranoid Park« (2007), wo die Kamera zwar ge­nüsslich das Gesicht und den Körper des jungen Protagonisten umkreist, der Film aber kom­plett in einem heterosexuellen Milieu angesiedelt ist. Doch der »Spirit of 1992« lebt weiter in narrativ komplexen, formal experimentellen Filmen junger Regisseure wie Jonathan Caouette (»Tarnation«, 2004) und Cam Archer (»Wild Tigers I Have Known«, 2007), beides Co-Produktionen von Gus Van Sant.
Wie stark Van Sants Stil des langsamen Umkreisens und Sezierens der amerikanischen Vor­städte eine ganze Generation junger Independent-Filmer beeinflusst hat, zeigt auch James Bol­tons »Dream Boy« (2008). Langsam vorbeiziehende Wolken und schöne Kamerafahrten über Alleen hinweg erinnern frappant an Gus Van Sants »Elephant« (2003) und haben auch inhaltlich eine ähnliche Ausrichtung: Idyll wird vor­getäuscht, um im Laufe des Films umso wirksamer damit brechen zu können. Schließlich handelt es sich bei »Dream Boy« um die Story ei­nes schwulen Coming-out in den Südstaaten während der fünfziger Jahre. Der 15jährige Nathan verliebt sich in den zwei Jahre älteren Nachbarsjungen Roy, der die ersten körperlichen Annäherungen sogar erwidert. Vom eigenen Vater seit Jahren sexuell missbraucht, sucht Nathan mehr und mehr Zuflucht bei Roy und des­sen Clique. Als diese jedoch etwas von dem Verhältnis zwischen den beiden Jungs erfährt, kommt es zu einem brutalen Übergriff, der – nur so viel sei verraten – stark an »Boys Don’t Cry« (Kimberly Peirce, 1999) erinnert.
Hier kehrt sie also wieder, die homophobe Außenwelt mit all ihrer Gier, das »Abartige« zu vernichten. Von der Emanzipation des New Queer Cinema mag zwar formal noch etwas übrig geblieben sein, inhaltlich ist dieser um Toleranz bemühte Film mitsamt der darin gezeigten Last des Schweigens »Brokeback Mountain« jedoch viel näher als »Poison« oder »My Own Pri­vate Idaho«. Obwohl »Dream Boy« das Gefühl vermittelt, dass es den Befreiungsschlag des New Queer Cinema nie gegeben habe, ist der Film jedoch keineswegs reaktionär. Er wiederholt auch nicht den Fehler von »Boys Don’t Cry«, Homophobie ins White-Trash-Milieu auszulagern und so auf eine reine Schicht- oder Bildungsfrage zu reduzieren. »Dream Boy« spielt zwar in den fünfziger Jahren, richtet sich aber eindeutig an die Gegenwart und korrigiert die einstige Selbst­sicherheit des New Queer Cinema, die Außenwelt ausblenden zu können. Das war zwar ein strategisch wichtiger Schritt, um Autonomie zu erlangen und den ständigen Legitimationszwang zu überwinden – er ignorierte allerdings die gesellschaftliche Wirklichkeit. So erreichte das New Queer Cinema letztlich nur ein intellek­tuelles Spezialpublikum und brachte wider Willen sein dialektisches Gegenstück hervor, das schwule Feel-Good-Movie, in dem die homophobe Außenwelt ebenfalls ausgeblendet, genauer gesagt von permanenter Partylaune überblendet wird. Inmitten dieser längst stark ausdifferenzierten schwulen Filmlandschaft, die von Avantgarde-Filmen wie »Wild Tigers I Have Known« bis zu Soaps wie »Queer As Folk« reicht, richten sich Filme wie »Brokeback Moun­tain« und »Dream Boy« ausdrücklich auch an ein heterosexuelles Publikum. Gerade deshalb können sie Homophobie gar nicht ausblenden.
Das gilt auch für das gerade auf DVD erschienene Debüt »XXY« (2007) der argentinischen Regisseurin Lucia Puenzo. Die auf Normativität bestehende Außenwelt ist hier von Anfang an präsent, nämlich in Gestalt eines Schönheitschirurgen, der zu einer befreundeten Familie nach Uruguay reist, um über die Operation der 15jährigen Alex zu beratschlagen, die kein »reines« Mädchen ist, sondern beide Geschlech­ter besitzt. Die Regisseurin nutzt das Motiv der Intersexualität, um weit über herkömmliche queere Filme hinaus klarzumachen, dass es auch ein Recht auf offene sexuelle Identität gibt, die weder an ein binäres Geschlechtermodell noch an Zuweisungen wie »schwul/lesbisch« oder »bi« gebunden sein muss. Alex selbst will sich nicht festlegen, will weder Mann noch Frau sein, sondern genau jenes Dazwischen, das im pragmatischen Weltbild des Chirurgen keinen Platz findet. Für ihre Umwelt stellt Intersexualität eine Krankheit dar, für Alex ist sie eine Bereicherung. So gesehen liest sich »XXY« auch als Ratschlag an das queere Kino, es sich weder in cineastischen Nischen bequem zu machen noch starren schwul-lesbischen Identitätsmodellen zu erliegen.

Dream Boy. DVD, Pro-Fun Media XXY. DVD, Kool Film/Good Movies