Erster Teil der Serie »Berlin Beatet Bestes«

Rock City, Shock City

Berlin Beatet Bestes – Folge 1: Firma 33, Berlin (1979), und Chou Bananah Group, Rock City (1980)

Wie viele Leute kaufe ich gerne Platten in Trödelläden und auf Flohmärkten. Genauer ge­sagt, ausschließlich Singles. Die Single ist in meinen Augen das beste Format für Popmusik: Der Hit ist drauf, und daneben ist kein Platz für Füllmaterial. Außerdem haben es viele Gruppen nie bis zu einer LP gebracht. Es gibt also viel zu entdecken an den Rändern der Popmusik.
Berlin-Songs gibt es unzählige, aber in den frü­hen achtziger Jahren waren die zwei bekanntesten und erfolgreichsten »Berlin« von der britischen New-Wave-Gruppe Fischer Z (1981) und »Berlin« von Ideal (1980). Die fröhliche und selbst­ironische Berlin-Hymne von Ideal erschien zunächst als Single im Mai 1980 und fand sich später auch auf ihrer ersten LP, veröffentlicht im November desselben Jahres. Bereits im Sommer 1981 hatte das Album Platz 3 der deutschen Charts erreicht, und Ideal wurden zu einem der Aushängeschilder der Neuen Deutschen Welle. An meiner Schule gab es damals nieman­den, der Ideal nicht mochte:
Graue Häuser, ein Junkie im Tran,/es riecht nach Oliven und Majoran./Zum Kanal an Ruinen vorbei,/da hinten das Büro der Partei./Auf dem Gehweg Hundekot,/ich trink Kaffee im Morgenrot./Später dann in die alte Fabrik,/die mit dem Ost-West-Überblick./Zweiter Stock, vierter Hinterhof,/neben mir wohnt ein Philosoph./Fenster auf, ich hör Türkenmelodien,/ich fühl mich gut, ich steh auf Berlin!
Wir fühl’n uns gut, wir stehn auf Berlin!
Der Song »Berlin« von der Gruppe Firma 33 hatte nicht dasselbe Glück, aus nahe liegenden Gründen: Der Song ist nicht so eingängig, es ist kein Punk, kein New Wave (naja, fast), und am wichtigsten: Er zeichnet ein ganz anderes Bild von Berlin in den Siebzigern und Achtzigern – ein trauriges. Obwohl privat gepresst, zeigt das Cover immerhin ein Foto von Jim Rakete. Aber auch das half nicht, die Platte floppte. Der Song taucht heute nicht einmal in der langen Wikipedia-Liste der Berlin-Songs auf.
In den siebziger und achtziger Jahren zogen viele junge Leute, die versuchten, dem Militärdienst zu entgehen, oder auch einfach nur um ein Boheme-Leben zu führen, nach Berlin in besetzte Häuser. Trotzdem kamen offensichtlich nicht alle mit ihrer neuen Großstadtumgebung klar. Das ist der Inhalt dieses Songs:
Berlin, ich fress jeden Tag deinen Plastik-Fraß./Berlin, deine Luft ist der Duft von Abgas./Berlin, du kotzt mich an./Ich frag mich, wie ich in deinem Dreck noch leben kann./Berlin, nachts bis du stinkend blau und vollgefixt./Wie viel Kinder sind’s, die du zum Spielen in die Scheiße schickst?/Berlin, du kotzt mich an.
Und so weiter und so fort. Der Song endet ver­söhnlich (Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ohne dich leben kann), aber da ist der Grund­tenor bereits angeschlagen. Es bleibt ein wütendes und aggressives Lied. Keine Berlin-Hymne. Die Mehrzahl der Berlin-Songs dieser Zeit (inklusive der Stücke von Fischer Z und Ideal) feierten die Stadt entweder komplett oder romantisierten vorsichtig ihren pittoresken Verfall. Dieses Ambiente war es schließlich auch, das David Bowie und Iggy Pop damals in die Stadt gezogen hatte. Firma 33 sind in ihrem »Berlin« sehr viel kritischer, aber vielleicht ist der Song gerade deshalb ein wenig genauer in der Be­schreibung der Atmosphäre von West-Berlin vor dem Mauerfall.
Eine andere Perspektive auf Berlin bietet die Privatpressung der Chou Bananah Group von 1980. Das Collage-Cover sieht aus wie das einer Punk-Platte. Es ist aber keine. Die Musik, wie der überwiegende Teil der Rockmusik der späten siebziger und achtziger Jahre, ist weder Punk noch New Wave noch Hardrock. Es ist alles zusammen und nichts pur. Nicht das Material, aus dem Kult-Gruppen gemacht sind. Trotzdem sticht der Text von »Rock City« hervor:
Ich geh durch die Straßen/meiner Stadt Berlin/und mich zieht’s wie immer/zu den Kneipen hin./Rock City, Shock City, here I come./Ich seh auch die Schatten,/seh schwarze/Wolken ziehn./Ich seh’ deine Kinder,/voll mit Heroin./Ich seh’ auch die Dealer,/die in den Ecken lauern,/du kannst darauf warten,/du wirst bald wieder trauern.
Das klingt ein wenig so, als ob hier ein geborener Berliner sprechen würde. Musikalisch und textlich ist dies ein einfacher, kurzer Song, aber die Art, wie hier an das Thema herangegangen wird, ist entscheidend. Es klingt nach ech­ter, mitfühlender Trauer über das Schicksal der jungen drogenabhängigen Berliner. Jedenfalls nicht nach dem Zynismus, den die meisten jungen Leute zeigten, die auf der Suche nach Aben­teuer und einer neuen Identität in die Stadt gekommen waren. Die fanden Drogen gut.
Selbst im Deutsch-Kurs meiner Hamburger Schule lasen wir 1978 die Stern-Serie »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« von Christiane F. Da war ich gerade 12 Jahre alt. Einige der Darstellungen waren ziemlich drastisch und unsere junge Deutschlehrerin wollte uns damit sicherlich vor den Gefahren des Drogenkonsums warnen. Trotzdem turnte das Buch eine meiner Mitschülerinnen erst recht auf den Junkielifestyle an. Abgefuckt zu sein, erschien damals einfach so cool.

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic-Strip »Bigbeatland« und sammle leidenschaftlich Platten, hauptsächlich Singles aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich auf Flohmärkten gefunden habe und die selten mehr als zwei Euro gekostet haben.