Die Proteste im Iran und die Krise des Regimes

Wähler, Wächter, Widerstand

Die Proteste im Iran halten an. Der Herausforderer Mousavi hat sich offen gegen den religiösen Führer gestellt. Unbeschadet kann das Regime diese Krise nicht überstehen.

Niemand kann vorhersagen, wann die Wut so groß wird, dass die Menschen die Angst überwinden. Die meisten Iraner, die nun protestieren, haben wohl Anfang Juni selbst noch nicht geahnt, dass sie so bald »Tod der Diktatur« rufen würden. Mehrere Millionen Menschen haben gegen die Wahlfarce demonstriert, nicht nur in Teheran, auch in anderen Großstädten wie Shiraz und Isfahan waren unüberschaubare Menschenmengen auf den Straßen.
Die Proteste sind friedlich, Angriffe werden jedoch häufig zurückgeschlagen. Besonders verhasst sind die Basijis, Milizionäre, die mit ihren Motorrädern in die Menge preschen und auf alle Umstehenden einschlagen. Viele von ihnen wagten sich zu weit vor, sie wurden verprügelt und ihre Motorräder angezündet. Mehrere Videos belegen jedoch, dass selbst die Basisjis allenfalls mit ein paar Ohrfeigen zu rechnen haben, wenn sie von Demonstranten gefangen genommen werden. Sie werden von besonnenen Protestierenden geschützt, wenn besonders Aufgebrachte zu weit gehen wollen. Gefangene des Regimes können mit solcher Schonung nicht rechnen. 457 sind es nach offiziellen Angaben, 17 Menschen wurden seit dem 12. Juni getötet. Die tatsächlichen Zahlen dürften weit höher liegen.
Die humanitäre Disziplin, der Mut und die Ausdauer der Demonstranten sind umso bemerkenswerter, als die Bewegung keine Führung hat. Dass die Wahlen manipuliert wurden, war der Anlass, nicht aber die Ursache der Proteste. Viele hoffen, dass Mir Hussein Mousavi, der vermutlich die Wahlen gewonnen hat, ihnen mehr Freiheiten gewähren wird, andere sehen in ihm den Mann, der die Ideale der Revolution endlich verwirklichen kann. Ihnen schließen sich die Regimegegner an, die nun die Chance sehen, das System der »Islamischen Republik« zu beseitigen.

Gemeinsam ist allen der Abscheu vor Mahmoud Ahmadinejad. Die Iraner sind wahrlich nicht verwöhnt, was die Qualität ihres politischen Personals betrifft. Doch Ahmadinejad hat ihre Geduld überstrapaziert. Obwohl er in den vier Jahren seiner Präsidentschaft von einem beispiellos hohen Ölpreis profitierte, hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert. Ahmadinejad pries sich für seinen Kampf gegen die Korruption, während er seine Klienten mit Milliardenbeträgen beglückte. Als Munafiq, Heuchler, wird im Koran ein Mann bezeichnet, der fromm tut, aber dreist lügt und nur an der Beute interessiert ist. Viele Iraner nennen Ahmadinejad aber auch schlicht »den Affen«.
Eine erhebliche Zahl einflussreicher Geistlicher und Politiker ist ebenfalls zu der Ansicht gekommen, dass Ahmadinejad untragbar geworden ist. Sie werfen ihm vor allem Misswirtschaft und eine unnötig provokative Außenpolitik vor. Der Präsident bedachte zahlreiche seiner Anhänger unter den Pasdaran (»Revolutionswächtern«) mit hohen Posten. Die Pasdaran waren bereits vor seinem Amtsantritt eine Wirtschaftsmacht, ihre Firmen und Stiftungen kontrollieren nach manchen Schätzungen ein Drittel der iranischen Ökonomie. Der Präsident bedachte seine »Revolutions­wächter« mit Milliardenaufträgen, etwa ein Zehntel der Öleinnahmen beanspruchte er selbst den offiziellen Statistiken zufolge für diesen Zweck.
Viele Feinde Ahmadinejads im Establishment stört weniger, dass auch er korrupt ist, als dass er sie von ihren Pfründen verdrängt. Der Präsident verärgerte die islamistische Bourgeoisie, ebenso wie viele Ayatollahs, die über einträgliche Stiftungen und Unternehmen gebieten. Hashemi Rafsanjani, dem sein Geschäftssinn und sein Gespür für politische Intrigen den Spitznamen »der Hai« eintrug, repräsentiert die Geistlichen und Unternehmer, die sich ausrechnen, dass ihnen nach einer weiteren Amtszeit Ahmadinejads nur noch wenige Pfründen bleiben würden.
Aus ganz anderen Gründen hat die Aussicht, eine weitere Amtszeit Ahmadinejads ertragen zu müssen, offenbar Millionen Iraner von einem Boykott abgehalten. Farideh Farhi, die bereits vorangegangene Wahlen im Iran analysierte, vermutet, dass die Wahlbeteiligung diesmal tatsächlich recht hoch lag. Viele hätten erstmals gewählt, »einfach gegen Ahmadinejad«. Eben dies hätte dessen Mentor, dem religiösen Führer Ali Khamenei, Sorgen bereitet, seine Fraktion habe diesmal das Ergebnis »aus dem Hut gezaubert«, statt mühselig Urnen mit gefälschten Stimmzetteln zu füllen, um »die 20 bis 30 Prozent zusätzlicher Wähler zu demoralisieren«.
Die dreiste Rücksichtlosigkeit, mit der Ali Khamenei den »Wahlsieg« seines Schützlings inszenierte, hat den Widerwillen in der Bevölkerung wie im Establishment immens verstärkt. Nach einem Sieg wird sicherlich der Moment kommen, wo sich die Wege wieder trennen. Obwohl Männer wie Mousavi zahlreiche Verbrechen zu verantworten haben, wäre es derzeit jedoch nicht nur unklug, sondern selbstmörderisch für iranische Säkularisten, sich von den islamistischen Mitkämpfern zu trennen. Wären nicht führende Machthaber an den Protesten beteiligt, würde die Repression noch weit härter ausfallen, überdies ist die säkulare Opposition noch nicht in der Lage, allein einen Sieg zu erkämpfen.
Die Fähigkeit, interne Machtkämpfe durch Verhandlungen und Kompromisse beizulegen, war die vielleicht wichtigste Stärke des Regimes. Dass Khamenei und Ahmadinejad Macht und Pfründe monopolisieren wollen, hat nun zu einer Spaltung geführt. In seiner Freitagpredigt hat Khame­nei sich noch einmal klar für Ahmadinejad ausgesprochen und ultimativ ein Ende der Demonstrationen gefordert. Dennoch hat Mousavi zu weiteren Protesten aufgerufen, damit stellt er sich offen gegen den religiösen Führer. Nur einer von beiden kann diese Konfrontation politisch überleben.

Mousavis Chance stehen so schlecht nicht. Zwar ist nicht sicher, ob sein wichtigster Partner Rafsanjani tatsächlich in der »heiligen Stadt« Qom Verbündete unter den Geistlichen sucht und den von ihm geleiteten Expertenrat zusammenrufen will, der allein den religiösen Führer nach den Regeln der Verfassung legal entmachten kann. Doch weiterhin mangelt es Khamenei an prominenten Fürsprechern unter den Geistlichen. Der einflussreiche Ayatollah Hussein Ali Montazeri, Khameneis potenzieller Nachfolger als religiöser Führer, hat sich offen mit der Opposition solidarisiert.
Die Unsicherheit der Fraktion Khameneis ist unverkennbar. Mousavi wird als Verräter und Terrorist beschimpft, doch offenbar wagt man nicht, ihn zu verhaften. Der Wächterrat hatte eine exemplarische Überprüfung in einzelnen Wahldistrikten angekündigt, am Sonntag stellte er Unregelmäßigkeiten fest, in 50 Städten habe die Zahl der abgegebenen Stimmen die der Wähler übertroffen. Am Montag dementierte Abbas Ali Kadhodeai, der Sprecher des Wächterrats, die Aussagen vom Vortag. Es handele sich nicht um Unregelmäßigkeiten, sondern um ein »normales Phänomen«, da die Iraner in jedem Ort des Landes wählen dürfen. Doch seltsamerweise scheinen die drei Millionen Stimmen, um die es geht, anderswo nicht zu fehlen. Am Dienstag hieß es dann, man habe »keinen bedeutenden Betrug« festgestellt. Für gewöhnlich lügt das Regime geschickter, entweder steht der Wächterrat unter so großem Druck, dass Patzer unvermeidlich sind, oder Khamenei hat sogar die Loyalität einiger von ihm ausgesuchter Mitglieder verloren.
Überdies gibt es Anzeichen dafür, dass sich Khamenei nicht auf den Gehorsam des Repressionsapparats verlassen kann. Dass hohe Offiziere verhaftet wurden, ist bislang nur ein unbestätigtes Gerücht. Doch zahlreiche Iraner berichten, dass die reguläre Polizei sich zurückhält und manche Polizisten sogar Sympathien für die Proteste erkennen lassen. Die Parallelarmee der Pasdaran wurde aufgebaut, weil die Ayatollahs den unter dem Schah ausgebildeten Offizieren nicht trauten. In der regulären Armee gibt es traditionell Vorbehalte gegen die »Revolutionswächter« und ihre Privilegien. Den Angaben der meisten Miliärexperten zufolge gibt es nur etwa 125 000 »Revolutionswächter«, die Mannschaftsstärke des regulären Militärs hingegen wird auf 350 000 geschätzt. Etwa zwei Drittel der Soldaten sind Wehrpflichtige. Werden sie auf ihre Mitschüler, Kommilitonen und Verwandten schießen? Ayatollah Montazeri warnte Polizisten und Soldaten, dass »der Empfang von Befehlen sie vor Gott nicht entschuldigt«, eine recht deutliche Aufforderung, den Gehorsam zu verweigern, wenn Massaker angeordnet werden.
Die Protestbewegung hat sich nicht einschüchtern lassen. Am Samstag ist es dem Regime gelungen, größere Demonstrationen im Zentrum Teherans zu verhindern. Es kam zu heftigen Straßenkämpfen, die Basiji und die Spezialeinheiten der Polizei waren in mehreren Fällen gezwungen, sich zurückzuziehen, vermutlich weil sie sich über große Teile des Stadtgebiets verteilen mussten. Am Sonntag und am Montag bildeten sich wieder Demonstrationszüge mit Zehntausenden Teilnehmern.
Der nächste notwendige Schritt ist der Generalstreik. Einen informellen Ausstand gibt es bereits, denn die meisten Demonstranten hätten eigentlich arbeiten sollen. Die Arbeiter der Autofabrik Khodro wollen nun »in jeder Schicht die Arbeit für eine halbe Stunde unterbrechen, um gegen die Unterdrückung der Studenten, Arbeiter, Frauen und der Verfassung zu protestieren«.

Derzeit kursieren mehrere allgemeine Streikaufrufe. Mousavi rief zum Streik auf für den Fall, dass er verhaftet werden sollte. Montazeri forderte die Iraner auf, vom 24. Juni an drei »Trauertage« zu befolgen, faktisch ist das ein Aufruf zum Generalstreik. Einen weiteren Streikaufruf verbreiteten Studenten über Facebook, doch die Universitäten sind ohnehin geschlossen, obwohl Prüfungen anstehen. Die Busfahrer Teherans, die in den vergangenen Jahren mehrmals illegal streikten, nennen den 26. Juni, den internationalen Solidaritätstag zur Unterstützung der iranischen Arbeiter (siehe Seite 5) als Termin. In ihrer Erklärung schreibt die illegale Gewerkschaft: »Die Tatsache, dass die Forderungen einer großen Mehrheit der iranischen Gesellschaft weit über gewerkschaftliche Belange hinausgehen, ist für alle offensichtlich, und in den vergangenen Jahren haben wir betont, dass jegliches Gerede über soziale Freiheiten und Arbeiterrechte eine Farce ist, solange das Prinzip der Freiheit, sich zu organisieren und zu wählen, nicht verwirklicht worden ist.«
Innerhalb von nur einer Woche ist im Iran eine vorrevolutionäre Situation entstanden. Viele Linke im Westen vermissen nun die ideologische Klarheit. Tatsächlich marschieren derzeit Anhänger Mousavis, die von einer Verwirklichung der islamistischen Ideale träumen, neben säkularen Demokraten, Khomeinisten neben Kommunisten. Doch fast jede revolutionäre Massenbewegung beginnt mit einem solchen Durcheinander und sehr gemäßigten Forderungen, die den Rahmen der herrschenden Staatsdoktrin nicht sprengen. Zu Beginn einer Revolution wissen die meisten Revolutionäre noch gar nicht, dass sie welche sind. Die Französische Revolution begann mit dem Ballhausschwur, in dem die Delegierten noch gelobten, »die wahren Prinzipien der Monarchie« zu erhalten. Die russische Revolution im Jahr 1905 begann mit einer Demonstration, die dem Zaren ein Bittgesuch übergeben wollte.
Ob die iranische Bewegung eine revolutionäre Entwicklung nehmen wird, kann derzeit niemand sagen. Dass sich im Iran nun Frauen im Chador mit Milizionären prügeln, zeigt jedoch, wie groß die Desillusionierung der Bevölkerung und wie tief die Krise des Regimes ist. Unbeschadet wird die »Islamische Republik« die Revolte nicht überstehen, selbst wenn Khamenei sich noch einmal behaupten kann. Sollte Mousavi siegen, bliebe das islamistische System zunächst erhalten. Doch müsste er, schon um sich zu schützen, den Einfluss der Pasdaran zurückdrängen, und die Menschen, die auf den Straßen gekämpft haben, würden eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen nicht hinnehmen. Viele ältere Iraner fühlen sich aber bereits an die Revolution der Jahre 1978/79 erinnert, die keineswegs eine rein islamistische Angelegenheit war. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Iraner ihre Herrscher und den Rest der Welt überraschen.