Lärm in der Großstadt

Lärm ist geil

Die Berliner Partylinke besetzt den öffentlichen Raum – unterstützt von Touristen und Trommlern.

Berlin ist eine laute Stadt. Vor allem in den angesagten Alternativkiezen in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg, wo Ver­kehrs­be­ruhi­gungs­projekte bis heute als Maßnahmen im Kampf gegen Umweltzerstörung und Kommerz verteidigt werden, können die Anwohner kaum mehr eine Nacht durchschlafen. Insbesondere am Wochenende und in den Sommermonaten sorgt hier eine ununterbrochene Abfolge nächtlicher Spontanpartys, Freiluftveranstaltungen und amt­lich genehmigter »Kulturevents« für Dauerberieselung oft weit jenseits der akustischen Schmerzgrenze.
Seit Frühjahr dieses Jahres werden aber auch die Stimmen der genervten Anwohner lauter. Nachdem die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit Genehmigung des Bezirks im Mai ihre Freiluftbühne »Agora« eingeweiht hatte, wo seither bis in die Nacht rezitiert und musiziert wird, hat sich innerhalb weniger Wochen eine Initiative »Contra Ruhestörungen durch die Open-Air-Spielstätte der Volksbühne« formiert, die erreichen konnte, dass dort nach 22 Uhr für das Publikum Kopfhörer ausgeteilt werden.
Für den Görlitzer Park, wo regelmäßig Technopartys stattfinden und Gruppen von Lateinamerikanern sich mit spirituell immunisierten Linken bis in die Morgenstunden in monotonem Permanenztrommeln üben, hat das Ordnungsamt eine eigene Abteilung eingerichtet. Diese kann allerdings nicht viel erreichen, weil die Trommler nach jeder Abmahnung mit Gandhischer Beharrlichkeit aufs Neue auftauchen. Auch die Anwohner der Admiralsbrücke am Landwehrkanal, die in Reiseführern als »Partybrücke« beworben wird, wehren sich gegen die Lärmbelästigung durch Trommler, Gitarristen, Kofferradios und Bierflaschendemolierer. Einige fordern vom Bezirk gar die Aufhebung der Verkehrsberuhigung, um die Lärmtouristen loszuwerden – für Kreuzberger Verhältnisse ein Novum.

Hält nun also, wie die mit Indignation reagierenden Geräuschproduzenten nahe legen, auch in linken Berliner Kiezen das Spießertum Einzug? Die Antwort dürfte den Lärmanwälten nicht gefallen: Es hält tatsächlich Einzug, nur sind die Spießer längst keine Leisetreter mehr, sondern machen selbst am meisten Krach. Keine einzige der Reportagen, die die bürgerliche Presse in den vergangenen Wochen aus den akustischen Epizen­tren der Hauptstadt abgedruckt hat, übte sich in kleingeistiger Empörung. Im Gegenteil: Lärm, da­rin sind sich die Kulturexperten von Taz bis Morgenpost einig, ist geil. »Rom hat seine spanische Treppe, und wir haben unsere Admiralsbrücke«, zitiert der Tagesspiegel zustimmend das Appeasement eines Anwohners, der »seine« Brücke »liebt«, und weist mit Genugtuung darauf hin, dass die vom Stadtrat aufgestellten Schilder mit Ermahnun­gen zu akustischer Rücksicht mit der Aufschrift »Spießer« übermalt worden seien. Die Zeit mokiert sich zwar über die »Eventisierung des Viertels«, beschreibt aber mit geradezu großbürgerlichem Kunstsinn das »babylonische Sprachengewirr« und die Flaschenscherben, die »im Teer zwischen dem Pflaster ein künstlerisches Muster bilden«. Den Vogel schoss das Stadtmagazin Tip ab, das dem Thema ein Spezial widmete, um unterstützt von peinlichem Gestammel des Sängers Campino den Krach als »Kulturfaktor« zu feiern.
Die Sache ist also klar: Lärmbelästigung ist Teil des Mainstreams und aus der frech-fröhlichen Hauptstadt schon aus Gründen gesamtdeutscher Gefühlsertüchtigung nicht mehr wegzudenken. Nicht wer sie ausübt, sondern wer unter ihr leidet, gilt als Spielverderber und wird mit amtlicher und medialer Unterstützung aus der multikulturellen Großfamilie ausgeschlossen.
Natürlich gibt es nach wie vor reaktionäre Meckerer, die jeden Abend darauf warten, wegen nichtiger Anlässe die Notrufnummer wählen zu können. Das wahre Kollektiv der Beleidigten bilden in diesem Kampf aber längst nicht mehr die Biedermänner, sondern die Lärmenden selbst, die ihren einmal akustisch eroberten Raum mit der Patzigkeit autochthoner Grundbesitzer gegen alle Anmutungen der Zivilisation verteidigen.
Urbane Zivilisation hatte seit ihrer Entwicklung im Zuge von Industrialisierung, Landflucht und der Herausbildung städtischer Mittelschichten mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein dop­peltes Gesicht. Sie erzeugte nicht nur ein ungekanntes Ausmaß an Geräuschquellen, liquidierte durch Straßenbeleuchtung und Lichtreklamen fast vollständig die natürliche Dunkelheit der Nacht und machte die Begegnung unterschiedlicher Klassen und Schichten zu einem Massenphänomen, sondern produzierte zugleich neue Formen von Stille sowie neue Rückzugsmöglichkeiten für den Einzelnen.

Zaungäste der Moderne wie Edgar Allan Poe, Siegfried Kracauer oder Franz Hessel waren für diese Doppelgesichtigkeit des Großstadtlebens empfänglicher als dessen Propagandisten. Kracauer hat die Mischung aus Euphorie und Trauer beschrieben, mit der die Lichtreklamen der Kauf­häuser und Boulevards von den Bürgern wahrgenommen wurden, denen sie noch nicht zur zwei­ten Natur geworden waren. Poe hat zu Beginn seiner Erzählung »The Man in the Crowd« dargestellt, wie die scheinbare soziale Auflösung und das Durcheinander unterschiedlichster Schichten im Alltag der Großstadt einen neuen, mikroskopischen Blick auf den gesellschaftlichen Gehalt von Mode, Gestik und Mimik der Menschen hervorbringt. Und Hessel hat immer wieder die neuen Formen glücklicher Selbstvergessenheit gepriesen, die das urbane Straßengewirr für den Spa­ziergänger bereithält.
Ebenso vermochte der Lärm der Großstadt, der die Nachtruhe des Landes endgültig als Friedhofsruhe erkennbar gemacht hat, neue Formen der Stille und Intimität aus sich hervorzubringen. Als prototypisch hierfür kann das großstädtische Caféhaus gelten, das mit seiner Musik und seinem Stimmengewirr nicht einfach eine zusätzliche Lärmquelle darstellt, sondern mit seinen einzelnen Tischen und Nischen dem zufälligen Publikum, das sich in ihm versammelt, ohne eine Gemeinschaft zu bilden, Stätten der Absonderung eröffnet – Ecken für Liebespaare, Residuen freundlichen Gesprächs und Inseln des Alltags, auf denen es sich auch der Vereinzelte, der niemanden kennt oder kennen will, lesend oder beobachtend bequem machen kann.

Der heutige großstädtische Lärm, den die Sprach­rohre des Berliner Kulturlebens von Tip bis Abend­schau als Standortfaktor loben, hat mit solchem Wechselspiel von Entgrenzung und Distanzierung nichts zu tun. Vielmehr demonstrieren Orte wie die Admiralsbrücke schlagend den Verfall urbaner Öffentlichkeit, die im hippen Berliner Kiez­leben endgültig zur clanförmig organisierten Rücksichtslosigkeit heruntergekommen ist. Das Neue, ja Revolutionäre an der sozialen Entgrenzung, die Orte wie das urbane Caféhaus bewirkt haben, war gerade die Entstehung einer Öffentlichkeit, die dem Einzelnen eine hohes Maß an Bewusstsein für Distanzen und anonyme Verkehrsformen abverlangte.
Gerade weil im großstädtischen Alltag alle ei­n­ander gleich sind – in diesem Fortschritt besteht die viel berufene urbane »Entfremdung« –, ist es auch weit eher als in emotional aufgeladenen Gemeinschaften jedem möglich, zu sein, wie er möchte, ohne durch provinzielle oder partykulturelle Zumutungen belästigt zu werden. Die Kreuz­berger »Schönwetterlocation« dagegen ist, wie der Tagesspiegel einen Anwohner zitiert, »eine Wohl­fühlecke«: Hier arbeiten die »Männer in Orange«, die Überstunden machen, um den Abfall der Open-Air-Bewohner wegzuschaffen, harmonisch zusammen mit resignierten Restaurantbesitzern, die dem Straßenpublikum ihre Toiletten zur Verfügung stellen, um nicht als Faschisten beschimpft zu werden, und mit Obdachlosen, die als soziokulturelle Farbtupfer gern gesehen sind und sich von den Resten nähren.
Nur äußerlich handelt es sich bei solchen Orten um Teile einer urbanen Öffentlichkeit, in Wahrheit gehören sie längst den partikularen Zufallsgemeinschaften, die sie sich in einer Art akustischer Landnahme angeeignet haben, um Schluss mit einer Zivilisation zu machen, in der die Einzelnen ein Recht darauf haben, in Ruhe gelassen zu werden. Lärm an solchen Orten ist nicht mehr freie Äußerung ungebundenen Lebens, sondern ganz einfach das Recht des Stärkeren.