Die israelische Gewerkschaft Histadrut

Gestreikt wird nicht

Die israelische Gewerkschaft Histadrut hat unter ihrem Vorsitzenden Ofer Eini, der einen neuen Korporatismus vertritt, wieder an Einfluss gewonnen.

Einnehmendes Lächeln ist nicht gerade die Stärke von Ofer Eini. Meist schaut der kleine Mann sehr ernst, als müsse er vor etwas auf der Hut sein. Das könnte daran liegen, dass der Vorsitzende des israelischen Gewerkschaftsdachverbandes His­tadrut gerne solche Sätze sagt: »Die Histadrut ist wieder zu einem zentralen Faktor in Israel geworden. Dazu gehört auch, dass wir alles machen müssen, um Streiks zu verhindern.« Der 51jährige Eini ist stolz darauf, dass seit 2006, als er das Amt des Vorsitzenden des mit 700 000 Mitgliedern stärksten Verbandes in Israel übernahm, die Zahl der Streiktage um 90 Prozent reduziert wurde.
Wenn ein Gewerkschaftsfunktionär so spricht, ist es nicht verwunderlich, dass er so ernst schaut, als müsse er auf der Hut sein. »Die His­tadrut sollte nicht politisch sein«, meint Eini. Dieses Credo will man dem Mitglied der Arbeitspartei schon deswegen nicht glauben, weil er in seiner Eigenschaft als Histadrut-Vorsitzender an den jüngsten Koalitionsverhandlungen beteiligt war. »Als Netanjahu gewählt wurde und es zunächst so aussah, dass er eine extrem rechte Regierung bilden würde, dachte ich, dass es das Beste ist, wenn die Arbeitspartei in die Regierung eintritt. Ich habe mich da an die Seite von Ehud Barak gestellt, und ich habe auch an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen«, berichtet Eini über sein Zusammenwirken mit dem Vorsitzenden der israelischen Arbeitspartei. »Wir haben viele Vorteile für schwächere und ärmere Bevölkerungsgruppen erreicht, zum Beispiel eine allgemeine Rentenerhöhung.«
Es sind solche Erfolge, die Eini trotz aller Kritik, die es in Israel an seinem Verständnis von Gewerkschaftspolitik gibt, im Amt halten. Dass die Gewerkschaft nicht politisch sein dürfe, definiert er so: »Sie soll ihren Einfluss in allen politischen Parteien geltend machen.« Die liberale Zeitung Ha’aretz sieht seiner Strategie, Histadrut-Funktionäre auch in rechten Parteien wie Shas oder Likud zu platzieren, »einen Grund für Einis große Macht«.
Ofer Eini steht für einen neuen Korporatismus, und er ist fest davon überzeugt, dass dieser gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise wichtig ist. »Wir haben einen Runden Tisch mit der Regierung, den Arbeitgebern und der Histadrut gebildet«, sagt er, »um jetzt gegen die Krise vorzugehen und gemeinsam einen Plan auszuarbeiten. Es hat schon 100 000 Entlassungen gegeben. Aber unsere Beziehungen zu den Arbeitgebern sind gut.«

Die Histadrut war früher eine Macht in Israel. Gegründet schon 1920, also fast drei Jahrzehnte vor der Staatsgründung, war es vor allem die Histadrut, die das Gesundheits- und Sozialsystem in Palästina aufbaute. Das hatte nach 1948 Folgen: Die allgemeine Krankenversicherung war an die Histadrut-Mitgliedschaft gekoppelt. So war der Organisationsgrad enorm hoch, die Gewerkschaft hatte etwa zwei Millionen Mitglieder und so enge Beziehungen zur regierenden Arbeitspar­tei, dass Konflikte kaum denkbar waren.
1995 kam es zur Zäsur, zum Teil von Krise und konservativer Politik vorangetrieben, zum Teil auch von Funktionären wie dem damaligen His­tadrut-Vorsitzenden Chaim Ramon. Ramon war bis 1994 Gesundheitsminister der Regierung unter Yitzhak Rabin und hatte sich für eine gesetzliche Krankenversicherung stark gemacht. Die His­tadrut war so angeschlagen, dass sie tatsächlich einen Vorsitzenden Ramon hinnahm. »Die His­tadrut hatte ihre Geiseln verloren«, kommentiert der Gewerkschaftslinke Dani Ben-Simhon in der Zeitschrift Challenge die Zäsur. Die Mitgliederzahl fiel auf 650 000, die sich daraus ergebenden finanziellen Verluste der Histadrut fing Ramon auf, indem er die Firmen und Immobilien der Gewerkschaft veräußerte. »Das war einer der größten Raubzüge des Jahrhunderts«, sagt Yossi Dahan von der linken Forschungseinrichtung Adva Center. »Innerhalb von Tagen oder Wochen wurde ein Unternehmen, das 25 Prozent der Wirtschaft kontrolliert hatte, in den Bankrott getrieben.«
In dieser Phase des Bedeutungsverlusts machte Ofer Eini Karriere; er entstammt einer kleinen Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes. »In den letzten drei Jahren hat Eini eine immense politische und ökonomische Macht angehäuft«, schreibt Ha’aretz. »Die Medien haben ihm den Ruf des ›nationalen Schlichters‹ verliehen. Er ist derjenige, der Israel von den nervenden Streiks erlöst.«

Ofer Eini beherrscht den Apparat perfekt, und das verschafft ihm Einfluss. Zum Beispiel setzte er durch, dass, wenn Gehälter nicht überwiesen wer­den, dies als ein kriminelles Vergehen gewertet wird und Kündigungen wegen Krankheit untersagt sind. Auch ein Gesetz über Mindestlöhne wurde verabschiedet.
Bei einer Rekordarbeitslosigkeit in Israel von 7,8 Prozent sind das bemerkenswerte Erfolge. Eini ist es auch gelungen, die Mitgliederzahl von 650 000 auf 700 000 zu steigern. »Wenn ich das nächste Mal in Berlin bin, hoffe ich, dass ich einer Organisation mit über einer Million Mitgliedern vorstehe«, sagt er.
Einen Grund für das überraschende Wiedererstarken der Histadrut sehen Gewerkschaftslinke wie Dani Ben Simhon darin, dass sie sich ein wenig vom zionistischen Selbstverständnis gelöst hat. Früher war die Histadrut fast nur für jüdische Arbeiter und Angestellte attraktiv, aber mitt­ler­weile kämpft sie auch verstärkt für die Rechte von palästinensischen Arbeitern und auch von Migranten. Dieser gewerkschaftliche Kampf offenbart sich bei genauerem Hinschauen zwar oft eher als Verhandeln, Vermitteln und Taktieren, aber Ofer Eini berichtet von Erfolgen. Die israelische und die palästinensische Bauarbeitergewerkschaft haben beispielsweise eine Qualifizierungsmaßnahme für zunächst 30 palästinensische Arbeiter angeboten. »Die israelischen Bauunternehmer haben zugesagt, dass die, die da ausgebildet werden, auch eine Anstellung finden werden«, sagt Eini. Viele Palästinenser können nun leichter ihre Arbeitsstellen in Israel erreichen: »Die Transportarbeitergewerkschaften haben eine so genann­te Warme Linie vereinbart. Das bedeutet, dass an den Checkpoints Hotlines eingerichtet werden, damit die Arbeiter sie schneller passieren können.«
Das Ansehen der von Eini geführten Histadrut wuchs vor anderthalb Jahren enorm an. Da hatte die palästinensische Autonomieverwaltung Zehn­tausenden Arbeitnehmern keine Gehälter mehr gezahlt. »Die Histadrut rief daraufhin den allgemeinen Arbeitskampf aus«, berichtet Eini. »Es gab einen Streik, und zwar so lange, bis die Arbei­ter ihren Lohn bekamen.« Selbst im Fall des von ihm so wenig gewünschten Streiks blieb Eini der Mittler zwischen allen Fronten. »In wenigen Fällen konnten die lokalen Behörden aufgrund juris­tischer Probleme das Geld nicht zahlen«, erzählt er. »Da hat die Histadrut es vorgestreckt.«
Drei Jahre ist Ofer Eini im Amt, und er ist der Mei­nung, dass seine Erfolge nicht trotz, sondern gerade wegen der Krise erreicht wurden. »Meine Weltanschauung ist: Die industriellen Beziehungen müssen im Dialog verbessert werden. Unsere Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern hat zu guten Ergebnissen geführt. Die Arbeitgeber haben ihren Teil gut gemacht.« Auch nach diesem Satz lächelt Ofer Eini nicht.