Homosexuelle in den USA sind von Obama enttäuscht

Das Vermächtnis von Stonewall

Homosexuelle in den USA fühlen sich von Barack Obama verraten. Nachdem er ihnen im Wahlkampf Unterstützung zugesichert hatte, wird ihm nun vorgeworfen, sich nicht genug für die Gleichberechtigung einzusetzen.

Christopher Street 53, Greenwich Village. Die Adresse des Stonewall Inn in New York City markiert seit 40 Jahren nicht nur einen Ort, sondern die Geburtsstunde der US-amerikanischen Schwulen- und Lesbenbewegung. Am 28. Juni 1969 führte die Polizei hier eine Razzia durch, die in die Geschichte eingehen sollte. In den sechziger Jahren wurden immer wieder Razzien im Milieu durchgeführt, Übergriffe auf Club-Besitzer und Gäste waren an der Tagesordnung. Diese zahl­losen polizeilichen Aktionen verliefen in der Regel nach immer gleichem Muster: Die Polizei stürmte die Lokale, um minderjährige Trinker, Schwu­le, Lesben und Transvestiten wahllos zu verhaften. Die Beamten verließen dann die Kneipen und kassierten fast immer ein ordentliches Schmiergeld von den Mafia-Bossen, die das Stone­wall Inn und viele andere Homosexuellen-Bars in New York City betrieben.
So hatte die Razzia in der Nacht zum 28. Juni 1969 relativ unspektakulär begonnen. Doch als die Polizei eine bunte Mischung von Drag Queens, Schwulen und Butch-Lesben in einem Polizei­trans­porter vor dem Lokal einsperrte, ließen sich die Besucher und Besucherinnen nicht wie sonst ver­treiben. Eine große Menge versammelte sich vor dem Lokal, jemand warf vielleicht eine Münze, es folgte eine Flasche, dann flogen die ersten Steine.

Die Polizei war verblüfft. Damit hatten die Beam­ten nicht gerechnet: Die Tunten leisteten zum ersten Mal Widerstand. Fast sechs Tage lang kämpf­ten sie, voll geschminkt und auf ihren High Heels skandierten sie: »Gay Power!« Sie kämpften gegen die Polizei und gegen ein System, in dem sie als »degenerierte« und »pervertierte« Wesen galten, gegen eine Gesellschaft, die sie schließlich als »unamerikanisch« beschimpfte und dämonisierte. In den Straßen um das Stonewall Inn entstand in diesen Tagen das »gay liberation movement«.
Doch es ging nicht immer so erbaulich zu. Die Ge­schichte der Gay Liberation in den USA ist eine Ge­schichte der juristischen Kämpfe und der tödlichen Viren, der hemmungslosen Homophobie, der teilnahmslosen Regierungen und der heftigen Dis­kriminierung. In nicht weniger als 33 Bun­des­staaten können Unternehmer heute noch Angestellte entlassen, wenn sich diese als Homosexuelle outen, und es ist weiterhin möglich, dass einer Mutter ein Kind weggenommen wird, weil sie lesbisch ist. Für vier Jahrzehnte bewegte sich die Gay Liberation in einem niedrigen Tempo, sie erlebte wenige Erfolge und viele Rückschläge.
In diesem Kontext kann man die Stimmung wäh­rend des Wahlkampfs von Barack Obama im vergangenen Jahr als sensationell betrachten. Die Erwartungen von US-amerikanischen Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern an den demokratischen Kandidaten, der den großen Wandel verkündete, waren sehr hoch. Vor allem erweckten die Rufe nach »Change«, die wie ein Mantra in der Kampagne von Barack Obama zu nahezu jedem Thema wiederholt wurden, die Hoffnung, dass nun auch lesbische, schwule, bisexuelle und transgender US-amerikanische Bür­ger und Bürgerinnen davon profitieren werden.
Während seines Wahlkampfs sprach Obama von »gay rights« mit derselben Leidenschaft – und häufig auch mit denselben Worten –, die er in seinen Reden über die Rechte von Schwarzen und Frauen benutzte. Er versprach sogar, eine Regelung, die eines der symbolträchtigsten Beispiele für die Diskriminierung von Homosexuellen in den USA ist, außer Kraft zu setzen: die Richtlinie »Don’t Ask, Don’t Tell« (DADT). Diese Regelung, die vom ehemaligen Präsidenten Bill Clinton verabschiedet wurde und seit 1993 in Kraft ist, verbietet Soldaten und Soldatinnen, sich offen zu ih­rer Homosexualität zu bekennen. Ein weiteres Versprechen in Obamas Wahlkampf betraf die Ab­schaffung des Defence of Marriage Act (Doma), eines Gesetzes der Clinton-Regierung, das keine Anerkennung für die Homo-Ehe auf Bundesebene vorsieht. Als Kandidat appellierte Obama zudem an das »Mitgefühl« von US-amerikanischen Bürgern und Bürgerinnen und an deren Sinn für »gemeinsame gesellschaftliche Pflicht«.

»Ich weiß, dass es unterschiedliche Meinungen zum Thema Homo-Ehe gibt«, sagte er im August vergangenen Jahres in Denver, als er die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten offiziell annahm, »aber wir können uns darüber einigen, dass unsere lesbischen und schwulen Schwestern und Brüder ein Leben ohne Diskriminierung verdienen.« Doch der Tag, an dem Barack Obama Präsident wurde, war bekanntlich ein Tag der Niederlage für die Lesben- und Schwulenbewegung in den USA. An diesem Tag wurde in Kalifornien mit dem Sieg der so genannten Proposition 8 in einem Referendum ein Verfassungszusatz durchgesetzt, der die Ehe ausschließlich als Verbindung von Mann und Frau definiert.
Nicht nur der Sieg der Gegner der Homo-Ehe in Kalifornien, sondern auch weitere Beispiele haben einen heftigen Aktivismus in der Schwulen- und Lesbenbewegung ausgelöst. Anfang Juni lehnte es der Oberste Gerichtshof ab, den Einspruch des ehemaligen Soldaten Dan Choi anzuhören. Choi, einer der wenigen Arabisch sprechenden Linguisten in der gesamten US-Armee, war entlassen worden, weil er gegen die DADT-Richtlinie verstoßen hatte.
Viele Aktivisten und Aktivistinnen der Lesben- und Schwulenbewegung äußern sich wütend über Obamas Zurückhaltung zum Thema Gleichberechtigung für homosexuelle Amerikaner und Amerikanerinnen. John Aravosis, ein schwuler Aktivist in Washington, schreibt in seinem Blog, dass Obama sich bewusst dafür entschieden habe, den Doma zu verteidigen und »sich nicht mehr für unsere Rechte zu interessieren, seine Verspre­chungen nicht einzuhalten und seinen Aussagen zu widersprechen. Er lässt uns um seines eigenen Vorteil willen fallen.«
Obama scheint sich dieser wachsenden Unzufriedenheit bewusst zu sein und unterzeichnete Mitte Juni ein Memorandum, das die Rechte von schwulen und lesbischen Bundesbediensteten stärkt. Doch die Kampagne für die Homo-Ehe hat längst die Züge eines Kulturkampfs angenommen, deshalb lassen sich die Aktivisten und Aktivistinnen nicht mit kleinen Zugeständnissen abspeisen, die weit hinter ihren Erwartungen zurückbleiben. Sie verlangen einen grundlegenden Kurswechsel der Obama-Administration in Sachen Gleichberechtigung von Homosexuellen.
Viele Aktivisten und Aktivistinnen erleben derzeit eine Phase der Ernüchterung in Hinblick auf den von Obama versprochenen Wandel und beginnen zu fürchten, dass der neue Präsident sie einmal mehr enttäuschen wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Ähnliche Hoffnungen hatte man in der Community auch nach der Wahl Bill Clintons 1992. Aber die Regierung Clintons hielt nicht nur seine Wahlversprechen nicht ein, sondern hinterließ den künftigen Generationen von Homosexuellen in den USA auch ein verheerendes Vermächtnis, vor allem die DADT-Regelung und den Doma.
Obama musste als Kandidat auch um die Stimmen der Wähler im »Bibelgürtel« werben, in den ultrakonservativen Bundesstaaten des Mittleren Westens wie Indiana und Nebraska, deren Bewohner in aufgeklärten, linksintellektuellen Krei­sen meist undifferenziert als eine reaktionäre Masse zwischen New York City und Kalifornien be­schrieben werden, die jedoch sehr wichtig waren für Obamas endgültigen Sieg. Doch sogar hier ha­ben sich die Ansichten zu Homosexualität geändert seit der Ära Clintons. In Iowa wurde die Ho­mo-Ehe eingeführt, in Minnesota können Menschen, die eine Geschlechtsumwandlung planen, eine finanzielle Unterstützung beantragen. Selbst wenn der Durchschnittswähler in Utah oder Idaho mit großer Wahrscheinlichkeit Obamas Überzeugung in Sachen Gleichberechtigung von Homosexuellen im Wahlkampf nicht teilte, ist es ebenso wahrscheinlich, dass diese Aussagen ihm sehr viele Stimmen in wichtigeren Bundesstaaten brachten. War das alles also nur Kalkül? Ist Obama wirklich den US-amerikanischen Schwulen und Lesben in den Rücken gefallen, wie viele in der Com­munity ihm derzeit vorwerfen?

Das Problem liegt hier nicht nur in den Politik Obamas, sondern auch in einer fehlenden einheit­lichen legislativen Praxis. Denn Obama könnte zum Beispiel die DADT-Regelung mittels eines Erlasses aufheben. Der nächste Präsident aber könnte die Richtlinie wieder für gültig erklären. Statt eines Dekrets des Präsidenten wäre daher eine dauerhafte Strategie des Kongresses notwen­dig. Ähnlich stehen die Dinge im Fall der Homo-Ehe. Selbst wenn der Doma aufgehoben würde, gäbe es keine Garantie, dass eine gleichgeschlechtliche Ehe, die in Iowa geschlossen wird, in Florida anerkannt würde. Auch in diesem Fall wird klar, dass eine rechtlich bindende Lösung nicht vom Präsidenten, sondern nur vom Kongress kommen kann.
Aber genau hier liegt das Problem. Den Präsidenten zu überzeugen, in einer kontroversen Angelegenheit zu intervenieren, ist eine Sache, die Mehrheit der 535 Kongressabgeordneten von der Richtigkeit einer Gesetzgebung zu überzeugen, die bindend für alle US-Bürger und -Bürgerinnen wäre, ist wesentlich komplizierter. Die Demokraten haben in beiden Kammern des Parlaments die Mehrheit, doch die Kongressabgeordneten sind nicht an Weisungen der Parteiführung gebun­den. In beiden Parteien gibt es eine große Bandbreite der Ansichten zu gesellschaftlichen Fragen, und wichtiger als ein Wunsch des Präsidenten ist für die Abgeordneten die zu erwartende Reaktion ihrer Wähler.
Eine ausreichende Mehrheit im Kongress zu ge­winnen, um die DADT-Regelung oder den Doma aufzuheben, wird nicht einfach sein. Aber es ist nicht unmöglich. Das Beispiel Stonewall zeigt Aktivisten und Aktivistinnen heute noch: Nachsicht gegenüber der staatlichen Unterdrückung stellt für Homosexuelle keine Option dar. Genauso wenig kann man sich darauf verlassen – wie es allerdings viele Aktivisten und Aktivistinnen in der Schwulen- und Lesbenbewegung in den vergangenen Jahrzehnten getan haben –, dass eine Veränderung einfach von oben verordnet wird.
Die nationale Lobby für die Rechte von Schwulen und Lesben scheint mit Aktionen wie dem Fundraising in Los Angeles und Washington D.C. jenes Grundverständnis verloren zu haben, das sexuelle Dissidenten vor 40 Jahren dazu brachte, auf den Straßen des Greenwich Village sechs Tage lang gegen ihre Unterdrückung und Diskriminierung zu kämpfen. Obwohl sich seitdem viel getan hat, bleibt die gesellschaftliche Anerkennung von Homosexuellen ein Ziel, für das weiter gekämpft werden muss. Dafür ist es notwendig, politischen Druck auszuüben, auf lokaler wie auf nationaler Ebene. Doch eine zu starke Beteiligung an der Politik des Establishments birgt die Gefahr, in einem Zustand der Erwartung zu erstarren. Unabhängig davon, ob Obama seine Wahlversprechen einhalten will oder nicht, kann er den Wandel allein nicht vollbringen. Das Beispiel Stonewall zeigt uns auch 40 Jahre danach, dass der entscheidende Anstoß nur von un­ten kommen kann.

Der Amerikanist Jason Narlock forscht am King’s College London in der interdisziplinären Forschungsgruppe »Queer @ King’s« über queere Politik in Kalifornien.

Aus dem Englischen von Federica Matteoni