Eric Kandel im Gespräch über kollektives Gedächtnis und Gehirnforschung

»Erinnerung landet nicht im Sperma«

Eric Kandel im Gespräch über kollektives Gedächtnis und Gehirnforschung

Neun Uhr morgens in einem großen Berliner Hotel. Der Mann kommt vom Schwimmen. Er ist in klassischer Wissenschaftler-Manier gekleidet – gedeckte Farben, rote Fliege. Wir kriegen alle was zu trinken. Ob er denn mit dem Film zufrieden sei. Nein, leider nicht so ganz, antwortet Kandel: »Die Arbeit ist sehr gut, aber ich bin nicht sehr gut.« Wenn man sich selbst im Film sehe, dann sei alles ganz anders. »Ich weiß, ich bin ein bisschen hyper.«

Er habe aber nicht gewusst, dass er den ganzen Tag rumgehe und so blöd lache. Dann lacht er charakteristisch. In der Tat, das kommt im Film sehr oft vor. »Ich bin etwas geschockt von mir – wie ich herüberkomme.«

Aber von der wissenschaftlichen Seite sei der Film ganz gut. Dabei hätten sie gar kein Skript gehabt.

Gibt es ein kollektives Gedächtnis?

Die kulturelle Evolution dient parallel zur biolo­gischen Evolution dazu, Wissen und Verhalten von einer Generation auf die nächste zu übertragen. Instinkte werden vererbt, die Kultur aber nicht.
Man hat sich oft gefragt: Wie konnten die Leu­te in Deutschland, die so intelligent waren, so schlecht sein? Die Umgebung lehrt die Menschen zu handeln. Wie also konnten Ärzte im KZ Buchenwald zu Mördern werden, wo sie doch geschworen hatten, Menschenleben zu retten? Die haben gesagt: »Ich habe Leute gerettet. Die Juden waren eine Krankheit.« Das war anerzogen.

Wir haben verschiedene Programme im Gehirn?

Natürlich. Die Befähigung der Menschen zum Guten macht Demokratie wünschenswert. Die Befähigung zum Bösen macht sie notwendig.

Gibt es eine Seele?

Ich glaube, alles ist biologisch. Alles was wir tun, kommt vom Hirn. Das Hirn hat moralische Aspekte, es hat Gedanken über die Zukunft.

Was kommt nach dem Tod?

Nichts. Ich freue mich nicht darauf.

Damit wäre man auf der sicheren Seite – wenn man glaubt, man sei tot, wenn man tot ist.

Wissenschaft kann nur wenig über Religion sagen.

Wird man irgendwann ein Gehirn verpflanzen?

Das wäre nicht wünschenswert! Ich glaube, keiner möchte eine andere Person sein. Das Gedächtnis macht den Charakter des Menschen aus. Allerdings ist es mit Stammzellen möglich.
Wissenschaft sollte absolut frei sein. Aber die Verwendung der Ergebnisse, die muss gesellschaftlich kontrolliert werden. Ein Beispiel: Einem 75jährigen kann man Medikamente geben, wenn sein Gedächtnis schwächer wird. Aber das Gedächtnis von Kindern mit Medikamenten verbessern zu wollen, ist eine Katastrophe. Schon allein, weil es arme Menschen gibt, die sich die Medikamente nicht leisten können wer­den. Wie sollte da Gleichheit herrschen?

Jetzt hätte ich fast vergessen zu fragen, wieso wir überhaupt Dinge vergessen …

Ganz einfach: Es gibt im Hirn sowieso schon verschiedene Mechanismen, Barrieren, die das Erinnern erschweren. Viele Sachen, die Sie lernen, werden Sie wieder vergessen. Es ist sehr schwer, etwas im Langzeitgedächtnis abzuspeichern.

Erinnerung ist nicht vererbbar?

Nein. Erinnerung ist eine Verknüpfung der Nervenzellen. Die landet nicht im Sperma. Keine Angst, eure Kinder werden sich an diese Unterhaltung nicht erinnern.

Wir verabschieden uns. Nach dem Gedächtnis zu suchen, scheint an diesem denkwürdigen Morgen der bessere Weg zu sein – als sich selbst zu vergessen.

»Auf der Suche nach dem Gedächtnis«. D 2008. Regie: Petra Seeger. Start: 25. Juni.