Die Rolle der Frauen bei den Protesten

Freiheit ist keine Metapher

Seit der Einführung der Zwangsverschleierung im Jahr 1979 gehört die Unterdrückung der Frauen zum ideologischen Kern der Islamischen Republik. Ihnen bleibt gar keine andere Wahl, als sich bei den Protesten in die erste Reihe zu stellen.

Man sagt, dass Eugène Delacroix’ Gemälde »Die Freiheit führt das Volk«, in dem eine Frau die Massen gegen die restaurierte französische Mo­narchie in die Schlacht führt, den Freiheitskampf schlechthin symbolisiere. Fundamentale gesellschaftliche Auseinandersetzungen sind immer auch Auseinandersetzungen um den Körper der Frau. Weil dieser Körper in islamisch geprägten Ländern nicht nur in Worten, sondern tatsächlich verschleiert wird, ist seine Rolle dort umso explosiver. Die Tabuisierung weiblicher Körperlichkeit und Sexualität hat dazu geführt, dass jeder öffentliche Auftritt von Frauen in diesen Gesellschaften zum Politikum wird.
Für den Islam markiert der »Hijab«, das islamische Kopftuch, die Frau als göttliches Zeichen. Für die säkularen Kräfte in den islamischen Ländern repräsentierte das Kopftuch dagegen seit dem 19. Jahrhundert die Verhüllung der ökonomi­schen, politischen und kulturellen Armut und Rückständigkeit dieser Länder. In seinem be­rühm­ten Stück »Kafaneh Siah« schrieb der iranische Dichter Mirzadeh Eshghi vor 100 Jahren, der Hijab der Frau sei wie ein Leichentuch. So­lange die Frauen im Iran den Hijab trügen, werde die Wahr­heit nie ans Licht kommen.

Die Bilder der jungen Neda Agha-Sultan, die von den Milizen des Regimes getötet wurde, gingen um die Welt. Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass es gerade diese Bilder waren, die Tausende von Menschen und sogar westliche Politiker zur Solidarisierung mit dem Aufstand gegen das iranische Regime bewegt haben. »Neda« heißt auf deutsch »Aufruf« oder »Appell«. Ihr Tod wurde zu einem Appell an die Welt. Man nennt Neda die »Jeanne d’Arc des Iran«. Damit bekommt ihr Tod eine symbolische Dimension.
Die Avantgarderolle der Frauen im Kampf gegen den Druck, den die islamische Religion auf die Gesellschaften des Orients ausübt, ist jedoch höchst konkret. Bereits mitte des 19. Jahrhunderts legte Tahereh Qurrat al-’Ayn – eine Führerin der Bab-Bewegung, aus der sich die Bahai-Religion entwickelte – den Schleier ab und wurde dafür von den Herrschern der Kadscharen-Dynastie hingerichtet.
150 Jahre später sprengte die Künstlerin Parvaneh Hamidi die so genannte Berliner Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung mit einer einfachen Performance. Im Jahr 2000 trafen sich im »Haus der Kulturen der Welt« Vertreter der Grünen und deren ideologischen Umfelds mit Reformislamisten des iranischen Regimes, um ein gutes Klima für den bevorstehenden Deutschland-Besuch des iranischen Staatspräsidenten Khatami zu schaffen. Hamidi legte sich im Konferenzsaal ein Kopftuch an und zog sich bis auf den Bikini aus. Ihre Aktion war symbolisch gemeint: Die Islamisten hätten den Frauen ihre Kleider weggenommen und ihnen stattdessen ein Kopftuch gegeben.
Hamidis Protest löste nicht nur Empörung bei den Islamisten, sondern auch Verwirrung bei vielen iranischen Oppositionellen aus. Die einen warfen ihr »unmoralisches Verhalten« vor, die anderen bewunderten ihren persönlichen Mut. Aber niemand war in der Lage zu erklären, warum Hamidis Aktion ein derartiges Erdbeben auf der Konferenz ausgelöst hatte. Parvaneh Hamidi hat mit ihrer Performance das Zentrum der islamischen Ideologie, die gewaltsame Zu­richtung der Frauen zum göttlichen Zeichen, ans Licht gebracht und damit den blinden Fleck des Geredes über Reformen entschleiert.

Khomeinis Dekret über den Schleierzwang in öffentlichen Gebäuden im März 1979 war die erste Maßnahme, die den spezifisch islamischen Charakter des neuen Regimes definierte. Und die unmittelbar darauf folgenden Massenproteste iranischer Frauen gegen dieses Dekret waren der erste Aufschrei gegen den Islamismus an der Macht. Mit der Einführung der Zwangsverschleierung in den folgenden Jahren schaffte es die Islamische Republik, die pluralen Formen der Weiblichkeit moderner Frauen auf eine einzige Dichotomie zu reduzieren: den Gegensatz zwischen der »Ba-Hijab«-Frau, die den Schleier züchtig gemäß den islamischen Vorschriften trägt, und der »Bad-Hijab«-Frau, die den Schleier schlecht trägt, Haare zeigt oder zu enge Kleidung trägt. Diese zentrale Dichotomie definiert alle anderen phantasmatischen ideologischen Gegensätze, die das islamische Regime vorgibt, am weiblichen Körper: gut – böse, göttlich – weltlich, Tugend – Sünde, östliches Prinzip – westliches Prinzip, Tradition – Moderne.
Im »schlechten« Tragen des Schleiers sehen viele iranische Feministinnen eine Form des Widerstands. Die Bad-Hijab-Frau ist jedoch der notwendige Antipode der Ba-Hijab-Frau. Denn sie verkörpert den inneren Feind, ohne den die Islamische Republik ihre Expansion gegen die äußeren Feinde nicht ideologisch vermitteln könnte. Initiativen wie die Kampagne »Eine Million Unterschriften für die Frauenrechte« waren von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil sie nie ein Wort gegen die Zwangsverschleierung verloren haben, weil sie für Gesetzesreformen innerhalb des durch die Sharia bestimmten gesetzlichen Rahmens der iranischen Verfassung warben und deshalb auch zur Teilnahme an der Wahlfarce vom 12. Juni aufriefen.
Den iranischen Frauen bleibt um ihrer Selbstbehauptung willen gar keine andere Wahl, als sich im Kampf gegen das iranische Regime in die erste Reihe zu stellen: Jeder kennt die Bilder der jungen Frau, die schwer bewaffneten Uniformier­ten furchtlos gegen die Beine tritt. Und während westliche Medien die Aufständischen im Iran immer noch als »Mousavi-Anhänger« titulieren, wurde eine Demonstrantin mit einem Plakat mit folgendem Satz fotografiert: »Ich habe nicht gewählt und bin nicht gekommen, um mein Votum zurückzunehmen. Ich bin gekommen, mein Land zurückzuerobern«. Auch Neda war nach Medienberichten keine Mousavi-Anhängerin, bekundete aber, sie würde auf die Straße gehen, selbst wenn ihr drohen würde, eine Kugel »ins Herz« zu bekommen. Offenbar wurde sie in einer Seitenstraße durch einen gezielten Schuss ermordet.

Den iranischen Frauen mangelt es also keineswegs an Mut. Es mangelt im Iran und im Exil an Intellektuellen, die den Protesten nicht nur Recht geben, sondern auch dazu beitragen, die Wahrheit theoretisch zu erhellen, deren Suche dort von der Praxis ausgedrückt wird. Es fehlt eine Sprache der Kritik und der Poesie, die Schritt hält mit den ungeheuerlichen Vorgängen im Iran. Die große iranische Dichterin Forugh Farrochsad schreibt in einem Gedicht: »Behalte den Flug im Gedächtnis! Der Vogel ist sterblich.« Vielen Iranern mögen wie mir spontan diese Sätze ins Gedächtnis gekommen sein, als sie das Bild der toten Neda sahen.
Auf den zweiten Blick treffen diese Zeilen die Situation jedoch nicht. Der Flug der Freiheit ist keine Metapher und kein Traum. Die Bilder vom Kampf der Frauen im Iran sind nicht symbolisch. Sie zeigen den Einbruch des Realen in die über 30 Jahre sorgfältig aufgebaute mediale Kulisse der Islamischen Republik Iran. Der säkulare Wi­derstand gegen den iranischen Gottesstaat begann mit den Frauendemonstrationen gegen die Zwangsverschleierung im März 1979. Der Fall der Islamischen Republik Iran wird besiegelt sein, wenn die Frauen auf den Straßen Irans massenweise den Schleier ablegen, der nicht nur ein Symbol, sondern das wichtigste Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument der Mullahs ist.