Die Besetzung des Flughafengeländes Berlin-Tempelhof

Spazierengehen mit Enterhaken

Wie besetzt man ein ehemaliges Flug­hafen­gelände? Das fragten sich 5000 Demons­tranten am Wochenende in Berlin. Gar nicht, lautete die Antwort der Polizei.

Acht Kilometer Zaun, gesäumt mit Nato-Stacheldraht und bewacht von 1 800 höchst motivierten Beamten, galt es zu überwinden. Unter dem Motto »Have you ever squatted an airport?« sollte der stillgelegte Flughafen Berlin-Tempelhof am Samstag mit »kreativen Aktionen« eingenommen und für alle geöffnet werden – aus Protest gegen die um sich greifende »Gentrification« in Berlin. So hatten es einige der Organisatoren auf einer Pressekonferenz vor der geplanten Besetzung dargestellt.
Mit den »kreativen Aktionen« hapert es allerdings am Tag des Vorhabens. Auf dem Platz der Luftbrücke befindet sich eine der insgesamt drei Sammelstellen, an denen die Verantwortlichen des »Squat-Tempelhof«-Teams Informationen an die Sympathisanten weitergaben. Noch sitzen die Anwesenden vor dem Flughafengelände und warten auf ein Zeichen, dass die Besetzung beginnt. Viele haben in ihren Rucksäcken Teppiche mitgebracht und wollen mit diesen den Zaun überwinden.

Gegen drei Uhr tauchen immer mehr Demons­tran­ten auf, die schwarze Kleidung und Sonnenbrillen tragen. Weil es am Platz der Luftbrücke sehr ruhig zugeht, steigen etwa 30 von ihnen in einen Bus der Linie 104, der direkt am Zaun entlangfährt. An der Haltestelle Columbiadamm Ecke Frie­senstraße ist die Fahrt vorbei: Die Straße ist gesperrt. Einige Meter weiter wirft ein junger Mann einen an einem roten Seil befestigten Enterhaken. Dieser verfängt sich im Nato-Zaun, der Mann spannt den Draht damit nach unten. Beim zweiten Versuch verbiegt er einen Stahlpfosten so, dass die Polizei einschreitet: 20 Grad Neigung – das ist zu viel für die Beamten. Der Mann mit dem En­terhaken kann noch rechtzeitig im Gestrüpp an der Grenze zur Hasenheide verschwinden, einem Park im Bezirk Neukölln. Seine Bewunderer in den schwarzen Kapuzenpullis und mit den schicken, schwarzen Sonnenbrillen zollen dem Mann ihren Respekt, indem sie Pflastersteine auf die Po­lizisten werfen. Diese greifen zu ihren Knüppeln oder Tonfas und treiben die Steinewerfer auseinander.
Auch drei älteren Herren haben sich mit grünen Pappschildern vor dem Zaun eingefunden. Sie fordern Gärten. »Hier in den angrenzenden Bezirken gibt es doch so wenig Gärten, in denen man selbst was anpflanzen kann«, sagt der Wortführer der Truppe. Er trägt an seiner Jacke einen Button mit der mittlerweile veralteten Forderung: »Schließt Tempelhof!« Seine zwei Mitstreiter plau­dern lieber weiter über Alltägliches.
Friedlich geht es auf dem Parkplatz vor dem Platz der Luftbrücke zu. Dort parkt ein Eisverkäufer mit seinem VW-Bus, sofort bilden die Kunden eine Schlange. Auch der 100 Meter entfernte Supermarkt macht einen guten Umsatz. Gegen halb fünf wird das Bier in den Regalen langsam knapp. Die meisten Demonstranten haben es sich bequem gemacht, und zwar überall, wo sie wollen. Eine Betreiberin der Info- und Sammelstelle versucht auf Geheiß der Polizei, mit einer Durchsage die Menge an einem Platz zu versammeln. Das klappt nicht so ganz, weil die Frau »eine Aldi-Version von einem Megafon hat«, wie es ein Polizist amüsiert ausdrückt – es ist einfach zu leise.
Ein Mann im Seniorenalter und mit einer Frisur, die an die von Albert Einstein erinnert, steht am Platz der Luftbrücke und brüllt unentwegt in die Richtung der Polizeifahrzeuge den Kampfruf: »Ich will doch nur spazieren!« Viele der von den Veranstaltern geschätzten 5 000 Demonstranten folgen dem Schlachtruf des Senioren und laufen zwischen der Hasenheide und dem Platz der Luftbrücke hin und her, trinken dabei Bier und springen ab und zu gegen den Zaun.

Davon ist die Polizei zwar nicht begeistert, aber die Beamten sind auch nicht sonderlich beunruhigt. »Es ist heute unmöglich, auf das Gelände zu kommen. Über den Zaun schafft es garantiert keiner«, verkündet gelassen und stolz ein braungebrannter Beamter mit strahlendem Gesicht. Anscheinend haben es sich die Behörden zum Ziel gemacht, eine Besetzung unter allen Umständen zu verhindern. Dazu greift ein Polizist sogar zur Pistole: Der Zivilbeamte hat am Zaun einen Mann festgenommen, der einen Bolzenschneider mit sich führt. Als zwei andere Demonstranten herbeilaufen, hält er sich die bei­den vom Hals, indem er die Waffe zieht. Ein Passant, der die seiner Aussage zufolge doch sehr an »Dirty Harry« erinnernde Aktion gesehen hat, behauptet, dass der Beamte mit dem schwarzen Kapuzenpulli und dem Bürstenhaarschnitt die Pistole sogar durchgeladen habe.
Nach Mitternacht vergeht den eigens aus Baden-Württemberg nach Berlin verlegten Polizisten allmählich die gute Laune. Ein junger schwäbischer Beamter klagt über die Verhältnisse an diesem Tag: »Es war wirklich friedlich, keiner kam zu Schaden, das ist das Wichtigste. Aber so genervt war ich schon lange nicht mehr. Dieses gan­ze Geschwätz der Leute. Die sollen jetzt einfach mal Schluss machen hier.«
Zur Freude der Schwaben geht die Demonstration auf dem Columbiadamm ihrem Ende entgegen: Die Polizei will aufräumen und nach Hause fahren, die Menge will feiern und Musik hören. Wolf, einer der DJs, die den ganzen Tag die Ha­senheide mit Musik beschallt haben, packt seine Plattenteller dann auch lieber ein. »Ey, Mann, ich muss morgen auf die Fusion zum Aufbau, da kann ich doch nicht mein Zeug beschlagnahmen lassen. Ist jetzt ja auch gut«, sagt er schon etwas angetrunken.
Der Veranstaltungsort des Fusion-Festivals war auch einmal ein streng bewachtes Flughafengelände, das ist mittlerweile 16 Jahre her. So viel Zeit bleibt in Berlin nicht, es liegen bereits Pläne für das Areal vor, die den Gegnern der Gentrification nicht sonderlich gefallen. Aber die Aktion vom Wochenende hat gezeigt: Auch vor dem Flughafen lässt sich ein Festival veranstalten.