Die erwachsenen deutschen Hippies von Gomera

Insel für Erwachsene

Die kleine kanarische Insel La Gomera gilt als Paradies für Aussteiger und Höhlen­hippies. Im Inselort Valle Gran Rey bestätigt sich dieses Klischee heute nur zum Teil. Aus vielen deutschen »Alternativtouristen« der siebziger und achtziger Jahre sind heute gut integrierte deutsche Migranten geworden.

»Man ist in den Tropen, in einer balinesischen Landschaft mit Palmen, einer Welt von zauberhaf­ter Schönheit, die in ein Tal mit Bananenplantagen, Äckern, einem Fischereihafen und armen Leu­ten mündet«, so schilderte der holländische Autor Cees Nooteboom seine Eindrücke, als er vor 25 Jahren den Ort Valle Gran Rey auf der spanischen Insel La Gomera besuchte, und er beschrieb auch einen »Stamm deutscher Hippies, die, wie die japanischen Soldaten im Urwald von Borneo, noch immer nicht gehört haben, dass der Krieg vorbei ist, und hier in Volendamer Tracht« herumlungerten.
Das »Tal des großen Königs« schlängelt sich im Südwesten der kleinen kanarischen Insel gesäumt von Palmen zwischen den klobigen Steilfelsen zur Küste hinunter. Lange Zeit galt die Insel und vor allem das Königstal als Aussteiger- und Hippieparadies, auch heute hat es noch diesen Ruf. »Die kommen hierher und zahlen den Hippies 100 Euro, damit die am Strand etwas in die Kamera sagen.« Velten Arnold, deutscher Migrant und seit vergangenem September im Stadt­rat von Valle Gran Rey, hält den Hippie-Hype für ein von den Medien am Leben gehaltenes Klischee. Die wenigen Hippies, die derzeit noch bei Sonnenuntergang am Strand trommeln, seien die Überbleibsel des Goa-Festivals vom Anfang des Jahres. Tatsächlich trifft man auf echte Hippies, zumindest in der Stadt, nur noch als vereinzelte barfüßige Klischees, mit langem Bart, Batikgewand und wahlweise einer Trommel oder einem Didgeridoo unterm Arm.
Was man hingegen immer und überall trifft, sind Deutsche.
Arnold sitzt im zweiten Stock des Rathauses und ist gerade damit beschäftigt, die Liste der deutschen Residenten abzutelefonieren, um sie zur Eu­ropa-Wahl zu animieren. Nach offiziellen Angaben leben 1 086 Deutsche in »Valle«, wie der Ort von der deutschen Community genannt wird. Damit stellen sie ein Fünftel der Einwohnerschaft. Konsequenterweise sitzt nun auch ein Deutscher als consejal (eine Mischung aus Stadtrat und Dezernent) für die sozialdemokratische Regierungspar­tei Psoe im Rathaus. Velten Arnold sieht sich aber nicht als Vertreter der Deutschen. »Ich finde es ungesund, diese Trennung aufzumachen. Ich mache Politik für die Menschen, nicht für die Deutschen, und habe überhaupt kein Interesse da­ran, deutsche Sitten hier einzuführen.«
Arnold gehört zu einer wachsenden Gemeinde von integrierten Deutschen, die Valle Gran Rey als ihr Zuhause ansehen und sich dementsprechend engagieren. Dabei erscheint die deutsche Gemeinde auf den ersten Blick als eine recht abgegrenzte Gemeinschaft.

In den deutschen Bars und Cafés sitzen alternativ und hippiesk aussehende Menschen mittleren Alters, die anscheinend täglich ihren Rundgang absolvieren, mit einem cortado (kleiner Espresso mit Milch) hier und einem Bier dort. Sie führen ein augenscheinlich entspanntes Leben, bleiben dabei aber unter sich. »Das sind gerade mal 30 bis 40 Leute, die so eine Art Ghetto bilden«, erklärt Ronald, gebürtiger Gomero und Vorsitzender der Nachbarschaftsvereinigung La Mérica.
Die Vereinigung gilt als das liberale Sprachrohr der Einwohnerschaft, die sich in der traditionell von Korruption und Vetternwirtschaft geprägten Politik auf Gomera eine Stimme verschaffen. Ronald sieht die Ankunft der – vorrangig deutschen – Touristen vor 30 Jahren noch immer als eine positive Entwicklung für die Insel. »Wir haben einen anderen Blick auf die Dinge bekommen.« Das unterscheide Valle Gran Rey von ande­ren Dörfern auf der Insel, die nur zweimal täglich von öffentlichen Bussen angefahren werden und wo bis heute sehr traditionelle Lebens- und Moralvorstellungen herrschen. »Ein schwules Pär­chen auf der Straße zu sehen, ist hier nichts Besonderes, im Norden schon.« Bereits Beziehungen zwischen Gomeras und Nicht-Gomeros seien in vielen Dörfern nicht vorstellbar, erzählt Ronald. Die Ankunft der ersten alternativen Besucher, die länger blieben, sei in die Zeit der Transición, des Beginns der Demokratie in Spanien, gefallen: »Die Gesellschaft öffnete sich, wurde toleranter und moderner, und in dieser Zeit kamen auch die Hippies und Touristen.«
Als in den achtziger Jahren der Touristenboom einsetzte, waren im Winter genauso viele Touristen wie Einheimische im Ort. Fast alle Bewohner von damals können Geschichten erzählen, wie sie über Weihnachten Deutschen auf dem Dach oder der Terrasse Unterschlupf gewährt haben. Manche von ihnen sind da geblieben. Dass man die deutschstämmigen Einwanderer nicht den ganzen Tag auf Barhockern sitzen oder am Strand liegen sieht, kann man daher eher als ein Anzeichen von multikultureller Normalität als von Abschottung begreifen.

»Ich führe hier mit meinem gomerischen Mann und unserem Sohn ein ganz normales Leben, wie ich es auch in Deutschland tun würde. Ich habe gar nicht die Zeit, den ganzen Tag in Kneipen abzuhängen.« Carol lebt seit 20 Jahren auf der Insel und ist ein Beispiel für gelungene Integration. Vor dem Café neben dem Rathaus herrscht reges Treiben, kein Gomero geht vorbei, ohne sie herzlich zu begrüßen. Neben ihrem Job als Verwalterin von Ferienapartments ist sie im Schulrat und in der Elternvertretung aktiv, betreut in ihrer Freizeit ein deutschsprachiges Gomera-Forum im Internet und spielt Klarinette in der Dorfkapelle. »Es ist hier ein großer kultureller Mix, und das ist gut so«, betont Ronald. Er ist davon überzeugt, dass sich durch die kommende Generation die Zusam­mensetzung der Bevölkerung als Norm etablieren wird. »Stelle dich mittags vor die Schule und sieh zu, wenn die Kinder rauskommen. Die Hälfte sieht aus wie Deutsche, aber es sind hundertprozentige Gomeros.«
Der Sohn von Richard und Andrea ist einer von ihnen. »Luca kennt Deutschland nur vom Urlaub und will hier auf gar keinen Fall weg«, erzählt Andrea. Sie steht mit ihrem Mann hinter der Theke im Sport- und Gesundheitszentrum Fortaleza, das sie gemeinsam führen. Vor acht Jahren kehrten sie Deutschland den Rücken und übernahmen kur­zerhand ein kleines Fitnessstudio. Mittlerweile ist das Zentrum, das vorrangig von Gomeros genutzt wird, als Träger sowohl von deutschen als auch von spanischen Krankenkassen anerkannt, für die spanische Krebshilfe führen die Eheleute im Altersheim Sporttherapien durch. »Wir sind kei­ne Aussteiger, wir arbeiten nur im Ausland«, betont Andrea und widerspricht dem Bild, das ger­ne auf sie projiziert wird.
Wegen ihres erfolgreichen Engagements werden sie von anderen Deutschen als »Spießer« betrachtet. »Es gibt viele hier, die dich schief angucken, wenn du was auf die Beine stellst«, erzählt Richard. Ablehnung durch Gomeros habe er nie erfahren, »die meisten Probleme gibt es unter den Deutschen«. Zwischen dem »Ghetto« und den integrierten deutschen Migranten habe sich eine Zweiklassengesellschaft entwickelt.
Das Organ der vermeintlich nicht spießigen deutschen Gomeraner ist der Valle-Bote, eine Publikation, die nach eigenen Angaben nach »Bock- und Wetterlage« erscheint. Mit einer sehr eigenwilligen Art von Humor wird darin über die Politik und das Inselleben hergezogen, man macht sich über sich selbst und die anderen Deutschen lustig und versteht sich gleichzeitig als Sprachrohr der Freaks. Es gibt die »Meldungen aus Deutsch-Südwest« mit einer Reichskriegsflagge neben der Überschrift, und im Heft werden gerne auch mal innerdeutsche Konflikte ausgetragen. »Ich zie­he sein Kind groß, während er kleine Mädchen für sich ständig an den Geldautomat schickt«, be­schwert sich etwa in einem Leserbrief die »Ex des Schweinebuchtpenners aus einer (bezahlten) Wohnung«. Richard findet das sich selbst so bezeichnende »ultimative Inselmagazin« trotzdem lustig. Außerdem: »Die selbständigen Spießer, über die im Heft gelästert wird, sind die, die mit Anzeigen die Zeitung finanzieren. Die in der Schwei­nebucht schalten keine Anzeigen«, amüsiert sich Andrea.

Die Schweinebucht, für ausländische Reiseführer und deutsche Medien ein geläufiger Begriff, ist ein kleiner steiniger Strand ein wenig abseits des Ortes, mit mehreren Höhlen in der Felswand, die als Hort der Hippies gelten. Aber nur wenige der Höhlen, die mit Ausdrucksmalereien geschmückt sind, scheinen noch bewohnt zu sein. Die Geschichten aus der Hippie-Zeit sind für Ronald größtenteils Legenden. »Ich habe noch nie in meinem Leben einen nackten Hippie im Dorf gesehen, und ich lebe hier seit 35 Jahren.«
Tatsächlich waren Hippies die ersten Touristen, die auf die Insel kamen, zu einer Zeit, als es noch nicht einmal Strom in Valle gab. Sie schliefen am Strand oder in den Höhlen und arbeiteten ein wenig im Tausch für Essen. »Die Hippies von früher gibt es nicht mehr. Heute sind es nur noch penetrante Alkohol- und Drogensüchtige«, meint Carol.
Auf Suchtkranke trifft man in der Tat immer wie­der: Sie stehen etwa an der Supermarktkasse mit einem Liter Tütenwein in der Hand oder verkaufen am Hafen Aschenbecher, die aus Getränkedosen gebastelt wurden. »Die kriegen ihr Leben in Deutschland nicht auf die Reihe und denken, hier ist es einfacher«, sagt Stadtrat Arnold. »Aber hier gibt es kein soziales Netz, das sie auffängt.«
Die Menschenansammlungen, die mit Trommeln und Joints den Sonnenuntergang vor der traditionellen Kneipe »Maria« genießen, sind nur noch in der Hauptsaison anzutreffen. Die Hippiezeit scheint vorbei zu sein. »Leider«, wie Richard vom Fitnesszentrum hinzufügt. Auch er musste sein Bild von der Insel revidieren. »Als ich hierher­kam, dachte ich, das wäre ein kleines Paradies, wo sich alle immer in den Armen liegen und bekifft umherlaufen. Früher war es irgendwie lockerer, es ist ernster geworden.«

Die nackten Hippies von damals sind erwachsen geworden. Statt kiffend und trommelnd in der Schweinebucht zu sitzen, backen sie nun genfreies Vollkornbrot und gehen wandern. Die »Alternativen« unter ihnen leben im so genannten Künst­lerdorf El Guro, zwei Kilometer die Talstraße hoch, und bieten halbesoterische Massagen und Trommelworkshops in bunten Häusern an. Es verwun­dert nicht, dass sich mehr und mehr ältere Menschen, die nicht auch noch das letzte Drittel ihres Lebens mit deutschem Wetter und deutscher Mentalität verbringen wollen, auf der ruhigen In­sel niederlassen. »Du brauchst hier einfach nicht viel, noch nicht mal Winterkleidung«, erzählt die 53jährige Ulla, die vor sechs Jahren endgültig ihren Wohnort Köln gegen das warme Valle eingetauscht hat. »Das war damals keine bewusste Entscheidung von mir, sondern ist halt einfach so passiert«, sagt sie mit Blick auf das Meer. Mit ihren zwei Hunden genießt sie die entspannte Insel-Atmosphäre, ihr Auto schließt sie ebenso we­nig ab wie ihre Haustür. »Es ist irgendwie alles ein wenig langsamer hier.«
Das hört man häufig. Und das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum sich der Massentourismus hier nie wirklich durchsetzen konnte, auch wenn es immer wieder Versuche gibt.
Doch die Langsamkeit, die viele Touristen und Auswanderer an der verträumten Insel schätzen, ist für Einheimische, vor allem für die junge Generation, ein großes Problem. »Gomera ist ein Gefängnis. Es gibt hier nichts zu tun, noch nicht einmal ein Kino«, erzählt Maria, eine der wenigen gomeranischen Angestellten in einem deutschen Restaurant. Vergangene Woche war sie mit ihrem fünfjährigen Sohn auf Teneriffa. »Stell dir vor, er hat dort zum ersten Mal Ampeln und einen McDonald’s gesehen.« Dazu kommt die für kleine Ortschaften typische soziale Kontrolle: »Du weißt, wann wer aus welchem Haus herauskommt, mit welcher Hand er dich grüßt, wo er hingeht und worüber er redet. Jeden Tag das Gleiche, immer und immer wieder.« Viele junge Leute wandern daher auf eine der größeren Inseln oder aufs spa­nische Festland aus. Auch Maria war nach Ende ihrer Schulzeit aus der schönen Abgeschiedenheit auf die Nachbarinsel Teneriffa geflohen. »Was sollst du hier als Jugendliche auch sonst machen? Du hängst am Strand rum und nimmst Drogen.«
Auf der Straße oberhalb des Hauptstrandes, die den Ortsteil Playa mit dem Rest des Dorfes verbindet, riecht es zwar hin und wieder nach marok­kanischem Hasch oder gomerischem Gras, das aufgrund des warmen Klimas ganzjährig angebaut werden kann. Das »Drogenproblem« liegt aber woanders, wie ein Blick in die Zeitungen zeigt. Im August vergangenen Jahres wurden bei Razzien in Valle Gran Rey 2,5 Kilo Kokain und drei Kilo Ha­schisch sichergestellt, Ende Dezember fand ein Spaziergänger 20 Kilo Kokain in 16 Paketen an dem nahe gelegenen Strand Playa Vallehermoso. Insgesamt eine ganz ordentliche Menge für eine Insel mit der Bevölkerungszahl einer durchschnittlichen Kleinstadt.
»Drogen sind ein großes Problem, vor allem Ko­kain«, erzählt auch Ronald. Er macht dafür aber weniger die Langeweile verantwortlich als die rasante ökonomische Entwicklung des Ortes: »Bis vor zehn Jahren gab es hier keine Apartmentkom­plexe, der ganze Tourismus lebte von privaten Ferienwohnungen. Als in den achtziger Jahren der touristische Boom einsetzte, machten fast alle hier plötzlich einen Haufen Geld. Und damit kamen auch die Drogen.« Auch Carol erinnert sich an diese Zeit: »Es war ganz normal, dass bei deren Partys Koks statt Sekt gereicht wurde.«
Auch heute muss man kein großer Kenner der Szene sein, damit einem in gewissen Kneipen und Restaurants auffällt, dass viele Gäste auffällig oft und immer nur ein bestimmtes Klo aufsuchen. Dort werden ganz solidarisch auch mal gekürzte Strohhalme oder sogar kleine Mengen weißes Pulver hinterlegt.

Viele Deutsche und andere Touristen ziehen jedoch andere Wege der Bewusstseinserweiterung vor. Für jedes medizinisch nicht nachweisbare Problem und die »Weiterentwicklung« ebenso we­nig nachweisbarer Teile des Körpers ist das Angebot an Behandlungen recht groß: Radixzeichnungen, Erdungen, Quantum Light Breath, Systemaufstellungen und Energiefeldreinigung. Zen­trum der esoterischen Szene ist die Finca Argayall, die auf dem Weg zur Schweinebucht liegt. Umgeben von einer weißen Mauer bietet der »Platz des Lichtes« Meditationen und Ausdruckstanz im All-inclusive-Angebot mit Übernachtung und dreimal vegetarischem Essen. Schon vor Sonnenaufgang wird dort versucht, durch Vipassana-Meditation »die vollständige Beseitigung geistiger Unreinheiten« vorzunehmen »und letztendlich vollkommene Befreiung« zu erreichen.
Aber auch hier gilt die gomerische Faustregel: Solange es keine Probleme mit der einheimischen Bevölkerung gibt, interessiert es einen auch nicht. Wobei Ronald die Ignoranz mancher Spiritueller kritisiert. »Erst neulich war ich im Lichtzentrum und hatte große Probleme, mich zu verständigen. Da gibt es Leute, die sitzen seit 15 Jahren in der Finca und können keine drei Sätze Spanisch!« Dies sei aber die Ausnahme unter den Deutschen. Die Gomeros scheint das nicht zu stören, was viele deutsche Migranten als entscheidenden Fak­tor für das gut funktionierende Zusammenleben sehen. Damit dies auch in Zukunft klappt, hat die Nachbarschaftsvereinigung einen ironischen Ratgeber für Migranten herausgegeben. Darin ist zu lesen, was sie tun müssen, um nicht aufzufallen, zum Beispiel: »Geh nicht mit Stofftaschen im Supermarkt einkaufen« und »Die Sandalen sollten NIE mit Socken getragen werden, hast du gehört, NIE!«
Dieses Klima begünstigt den Wunsch vieler intergrationswilliger Urlauber, hier zu bleiben. Es ist das ganze Jahr über Sommer, und es gibt wenige Stellen im Ort, von denen aus man nicht das Meer sieht. Nachts ist das lauteste Geräusch das Rauschen der Wellen, und der Sternenhimmel gibt meist mehr Licht als die schwachen Stra­ßenlaternen. Bei Vollmond wird seit neuestem sogar die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Dazu kommen die mächtigen Felsen mit 100 Meter hohen Steilhängen direkt vor dem unendlich schei­nenden Ozean. »Deutschland? Nie wieder!« denkt man sich und meint es diesmal ganz anders.