Twitter und die Proteste im Iran

Aufstieg und Fall der Stadt Twitteran

Twitter war das wichtigste Medium der Proteste im Iran.

Wer zu spät kommt, wird bei Twit­ter sofort erkannt. Denn diejenigen, die eine Weile nicht online waren, sind die, die old news mit dem Vermerk RT getreulich weiter­ver­breiten. RT steht für Re Tweet und wird ver­wen­det, wenn besondere Kurzmitteilungen im Schnee­­ball­system möglichst viele Leute, die sich für ein bestimmtes Thema interessieren, erreichen sollen.
Um den Wust der zigtausend minütlich gesen­deten 140-Zeichen-Botschaften wenigstens ein bisschen zu ordnen, kann man die thematische Zugehörigkeit mit einem Hashtag kennzeichnen. Dieses Hashtag, also das Zeichen #, wird vor einen Begriff gesetzt, so dass man einfach nach ihm suchen kann. Die zehn jeweils meistverfolg­ten gehashtagten Themen werden von Twitter automatisch angezeigt.
Nachdem die ersten Demonstrationen im Iran stattgefunden hatten, dominierten #Iran­elec­tion und #Iran diese Rangliste, atemlos verfolgte die Community die pausenlos aus dem Iran eingehenden Kurznachrichten.
Und sie wurde ihrerseits aktiv – viele der Aktionen, zu denen es in den ersten Tagen aus dem Bedürfnis, den Demonstranten im Iran zu helfen, gekommen war, wurden dann jedoch wieder abgebrochen, weil sie die Sicherheit der iranischen Twitter-User gefährdeten.
Eine Seite mit Links zu allen, die live von Demonstrationen berichteten, wurde wieder geschlossen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die iranischen Behörden diese Informati­onen gezielt benutzten. Dokumentierte die Seite doch auch, wer sich, ohne sich per Twitter abzumelden, mehr als eine Stunde lang nicht mehr gemeldet hatte und deswegen vielleicht verhaftet worden war. Je häufiger die an der Arbeit vor Ort gehinderten internationalen Medien sich in ihren Nachrichtensendungen auf per Twit­ter verbreitete Meldungen und Links zu hochgeladenen Demo-Videos bezogen, um so intensiver machten Polizei und andere Sicherheitskräfte Jagd auf iranische Informanten.
Diese waren zunächst auch leicht zu erkennen, denn jeder User des Mikroblogging-Dienstes kann Wohnort und Ortszeit einstellen, so dass die Teheraner Twitterer zunächst leicht herauszufiltern waren.
Wenn die Behörden den Cyberwar wollen, dann sollen sie ihn bekommen, beschloss die Twitter-Community daraufhin und brach in engagiertes Re-Getwittere aus. An dessen Ende praktisch jeder, der sich für #Iranelection interessierte, seine persönlichen Angaben dahingehend geändert hatte, dass er sich nun in Te­he­ran befand.
Zusätzlich wurden anonyme Proxyserver aufgesetzt und Anleitungen gepostet, wie man die immer stärker werdende staatliche Kontrolle umgehen konnte.
Sichere Internet-Verbindungen und pausenlos gepostete Versicherungen wie »Wir sind in Gedanken bei euch!« können allerdings nichts ge­gen Schlagstöcke und Schusswaffen ausrichten.
Die Bilder zusammengeschlagener Demons­tranten und die Berichte über brutale Prügel­orgien der Basij-Truppen wurden allerdings auch weiter per Twitter verbreitet. Handfeste Ratschläge waren die Folge. »Gießt Öl auf die Straße«, forderte man die Teheraner auf, nachdem bewaffnete Motorrad-Einheiten Protestierende angegriffen hatten, »reißt Straßenschilder und Hausnummern ab«, riet man, nachdem be­kannt geworden war, dass die Polizei dazu über­ge­gan­gen war, Verdächtige zu Hause zu besuchen. Und nachdem in Teheran zum ersten Mal massiv Tränengas eingesetzt worden war, kursierten prak­tisch sofort Anleitungen, wie man sich am besten vor der ätzenden Substanz schützen kann (»Handtuch mit Zitronensaft und Wasser getränkt oder mit Cola abwaschen«), sowie Links zu hastig aufgesetzten Ratgeber-Webseiten, die auf Englisch und Farsi umfassende Informationen über alle möglichen Themen boten, von der rich­tigen Bekleidung bis zu Wiederbelebungsmaßnahmen.
Zunehmend gaben nun auch diejenigen Informationen und Gerüchte weiter, die nicht an Ort und Stelle waren, sondern gerade mit Freunden und Verwandten im Iran telefoniert hatten. »Gegen Panzer helfen nur Molotow-Cocktails, zehn pro Panzer, drei Viertel Benzin, ein Viertel Waschpulver«, hieß es beispielsweise in einer prompten Reaktion, als sich die Falschmeldung verbreitete, das Regime gehe nun mit Tanks gegen die Demonstranten vor.
»Headbutt your opponent«, schrieb ein anderer User, »knall ihm mit dem Kopf genau unter die Nase, das sollte reichen«.
Nachdem die Bilder vom Tod Nedas um die Welt gegangen waren, verschärfte sich ganz allgemein die Tonart. Hunderte internationale User hatten genug: »Allah wird euch nicht helfen, er tritt euch gerade in den Arsch. Es ist Krieg, ganz einfach, und man braucht Waffen, um das Böse zu besiegen«, schrieb ein amerikanischer Ex-Soldat etwa, während ein Mitglied einer US-Spezial­einheit sich darauf verlegte, stündlich die immer­gleichen Anleitungen zu posten. Die schließlich unter der Überschrift »It might save their lives«, es könnte ihre Leben retten, auf einer Webseite (http://www.iranian.com/main/node/69429) zusammengefasst wurden.
»Die Basij und die Polizei funktionieren am bes­ten, wenn die Menge auseinanderläuft und sich zerstreut«, heißt es da, »das schlimmste Szenario ist für sie entsprechend, wenn diese Menge zusammenbleibt.« Die protestierenden Arbeiter in Südkorea in den neunziger Jahren seien »die best­organisierten Einheiten in der Ge­schichte der Ausschreitungen« gewesen, einfach, weil sie sich unter allen Umständen mit ver­schränkten Armen aneinander festgehalten hätten.
Ob diese und andere Tipps die protestierenden Iraner überhaupt erreichten, ist nicht bekannt. Denn nach und nach verstummten diejenigen, die live berichtet hatten. Manche hatten sich bei ihren Followern, also denjenigen, die sie gebookmarkt hatten, um alle ihre Meldungen automatisch zu erhalten, abgemeldet, meist, nach­dem sie von der Polizei vor weiterem Twittern gewarnt worden waren. Andere hatten zuvor über verletzte Freunde berichtet, um die es sich zunächst zu kümmern gelte. Und andere hörten einfach auf zu posten, was mit ihnen gesche­hen ist, weiß niemand.
Zu denjenigen, über deren Schicksal derzeit nichts bekannt ist, gehört der User »Persiankiwi« – hinter dem Nick verbirgt sich möglicherweise eine ganze Gruppe –, der lange Zeit zu den aktivsten iranischen Twitterern gehört hatte. Seine letzten Nachrichten klingen Besorgnis erregend: »Sie verhaften Leute mit Handys. So viele wurden heute ermordet, so viele verletzt.« Und: »Jeder ist verhaftet, keine Ahnung, wann wir wieder ins Internet kommen. Wenn sie einen von uns fassen, wird er gefoltert und sie bekommen die Namen. Nun müssen wir schnell weg.« Die letzten beiden Mitteilungen lauten: »Danke, dass ihr uns unterstützt habt, bitte behaltet unsere Märtyrer immer in Erinnerung« und »Allah, du bist derjenige, der alles geschaffen hat und zu dem wir alle zurückkehren müssen«.
Nicht zuletzt aufgrund der vielen verstummten Iraner verliert die Twitter-Community nun die Geduld. »Baut Bogen und versucht damit, Kha­menei zu erledigen, das sind gute Distanzwaffen«, schrieb eine Frau, die bislang immer auf friedlichem Protest bestanden hatte, während manche schon zu resignieren scheinen: »Armee gegen Handys, Schlagstöcke vs. Trauer, Lügen vs. Cams, Staatsfernsehen vs. Twitter, Kugeln vs. Facebook, Macht vs. Würde, wer gewinnt?«
Und dann verbreitete sich die Nachricht, dass Michael Jackson in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Noch bevor der Tod des Popstars offiziell bestätigt worden war, verdrängten Hash­tags wie Thriller, Billie Jean, RIP Michael den Iran fast aus den Top Ten der wichtigsten Twitter-Themen. Die iranischen User und ihre Unterstützer reagierten unterschiedlich. »Ahmadinejad hat den King of Pop umgebracht, um #iran­election aus den Topics zu bekommen«, schrieb einer, ein anderer bemerkte, da sei er mal extra ins Kino gegangen, um sich von den Geschehnissen in seiner ehemaligen Heimat abzulenken, »und dann ist das Erste, was ich höre, dass mein musikalisches Idol gestorben ist«. Und einer merk­te zu den Klagen über die sinkende Popularität des Themas Iran kurz und bündig an: »Are you people retarded? We shouldn’t give a flying fuck if #iranelection is the #1 trend right now, this is WAR, not a popularity contest«.