Die Bremer Ultras

Die Tücken der Ökonomisierung

Während der Fußball zum »Event« wird, wehren sich die Ultras gegen diese Modernisierung. Eine Analyse

Liebe lässt sich nicht kaufen. So beste­hen Ultras bei einer Diskussionsveranstaltung vor Vertretern von Werder Bremen vehement darauf, keine »Fuß­ballkunden« zu sein. Und sie beweisen das mit ihrem Engagement für den Verein und der Unterstützung seiner Mann­schaft: Auswärtsfahrten, Kurvenshows, Stadion­gesänge, möglichst über die gesamte Spielzeit. Als Vorbild haben sie sich die italienischen Fans ausgesucht, die seit Ende der sechziger Jahre mit bunten Stadionchoreographien für Aufsehen sorgen. Was ist passiert? Waren nicht eigentlich die englischen Fans das Vorbild für die deutschen Fußballanhänger? Anscheinend ist diese Kultur nicht mehr in der Lage, die Gefühle und Wünsche der deutschen Fans auszudrücken. Seit Anfang des Jahrtausends ist die »Ultraisierung« der deut­schen Fanszene nicht mehr aufzuhalten.
Anders als in den vorigen Jahrzehnten hat sich der Fußball in diesem Jahrhundert schnell gewandelt – von einer eher unmodischen Sport­art, der vor allem Männer aus den unteren Schich­ten der Gesellschaft beiwohnten, begleitet von Gewalttätigkeiten rund um die Stadien, die bedingt durch ihre Architektur und Infrastruktur abstoßend wirkten, zum modernen Spektakel. Das Ansehen dieses Spiels war damals nicht besonders hoch, und so gab es nur wenige Sendungen, Zeitschriften oder Bücher, die sich mit Fußball beschäftigten. Fußballwerbung war die Ausnahme. Wichtige Politiker oder Prominente traf man selten im Stadion, Sponsoren kamen aus der heimischen Mittelschicht. Auf der Tartanbahn marschierte in der Halbzeitpause der Spielmannszug der örtlichen Feuerwehr vor halbleeren Rängen. Dazu gab es angebrannte Würs­tchen und lauwarmes Bier. Durch Megapho­ne quäkte ab und zu ein schlechter Werbespruch, oder ein so genannter Stadionsprecher legte unzeitgemäße Musik auf. Komplettiert wurde das Ganze durch bedingt professionelle Geschäftsleitungen.
Daneben gab es die Fankurven, die zwar Ausdruck dieser Veranstaltung waren, aber auch Eigensinn besaßen. Vorwiegend mit Schals, Flag­gen und wilder Kostümierung ausgestattet, tobte sich unkontrolliert das jugendliche Leben aus. Streitigkeiten wurden untereinander geregelt, es gab natürlich auch eine selbst geschaf­fene Hierarchie, die festlegte, wer wo stehen durfte und welcher Fanclub die Hegemonie besaß. Ordner innerhalb der Blöcke oder Überwachungskameras gab es nicht. Lediglich die Polizei stand vor meterhohen Zäunen im Stadion­inneren und wachte darüber, dass kein »Chaot« den Platz stürmte. Was im Block vor sich ging, interessierte eigentlich nicht wirklich. Die Chao­ten wiederum veranstalteten einen Heidenlärm mit Gesängen, Trommel- und Klatschrhythmen, die selbst erfunden und organisiert waren. Dies galt ebenso für die Fanutensilien, die vor der Entdeckung des Merchandising von den Fans selber produziert wurden. Mittlerweile ist vieles von dem verschwunden, was den damaligen Fußball auch sympathisch machte. Die Sport­art ist zum »Event« in durchorganisierten Konsumtempeln geworden.
Doch auch heute gibt es noch jugendliche Fuß­ballfans, die sich auf ihre Weise das Fußballspiel aneignen und eigenständige Anhänger und Unterstützer ihres Vereins sein wollen, quasi als Erben dieser Kultur. Die Kurven als soziale Gebilde und die Kunst der Anfeuerung sind ihr kultureller Besitz. Ordnungseingriffe, Merchandising und »Eventgestaltung« werden als Enteignung ihrer Kultur und als Angriff auf ihre Sou­veränität erfahren. Hier nun kommen die italienischen Ultras ins Spiel, wahrgenommen als Anhänger, die sich nichts gefallen lassen vom Verein und auch dem Staat, die ihre eigenen Ord­ner haben, die bengalisches Feuer im Stadion abfackeln. Diese Fans haben riesige Banner und Blockfahnen, auf denen sie ihren Verein und sich selbst verherrlichen oder den Gegner verunglimpfen, und verfügen sogar über ein Manifest, wie eine soziale Bewegung. Sie sind gegen die Kommerzialisierung des Fußballs und den Ausverkauf der Spieler.
Auch die deutschen Vereine sind begeistert, denn irgendwie passen die Kurvenshows in die neuen »Eventkonzepte« zur Zu­schauer­ent­wick­lung. Trotzdem kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen den Ultras und ihren Vereinen.
Die Interessen sind schließlich unterschiedlich: Auf der einen Seite ist der Verein, der wegen des Konkurrenzdrucks den Fußball ständig modernisieren muss. Auf der anderen Seite stehen die Ultras mit ihren eigenen Vorstellungen von Vereinstreue und Liebe zum Verein, mit dem man durch dick und dünn geht. Auswärtsspiele, die nicht am Samstag stattfinden, sind für sie kaum noch zu besuchen. Die selbständigen For­men der Mannschaftsunterstützung vor dem Anpfiff sind wegen des Infotainments im Stadion kaum möglich. Und während des Spiels wird eine selbstorganisierte eigene Unterstützung durch die Stadionanimateure immer mehr eingeschränkt. Die meisten anderen Aktivitäten sind genehmigungspflichtig. So gibt es Fahnen- und Zaunfahnenpässe, Reklametafeln dürfen nicht mit der eigenen Clubfahne überhängt wer­den. Die großen Kurvenshows müssen beim Verein angemeldet werden.
Wie geschildert, tun die Ultras eine Menge für ihre Vereine. Sie verbringen Stunden um Stunden in überfüllten Zügen und engen Bussen, um ihre Mannschaft auch auswärts zu unterstützen. Sie arbeiten manchmal tagelang an ihren selbst finanzierten Kurvenshows, die Hunderte, manchmal sogar Tausende Euro kosten können. Während des Spiels geben sie 90 Minuten lang alles. Sie skandieren und singen sich die Kehle heiser. Sie wedeln mit Fahnen und Schals und tanzen in choreographierten Rhythmen. Nach einem Spiel sehen sie so abgekämpft aus, als hätten sie selber auf dem Platz gestanden. Doch die Menschen, für die sie dies alles tun, wechseln immer häufiger den Verein. Und in der Tat fällt es schwer, sich mit einer Mannschaft zu identifizieren, die schon nach einer Saison ein ganz anderes Gesicht haben kann. Enttäuschun­gen unter den Fans sind damit programmiert, zu­mal wenn Spieler selber ihre Vereinstreue betonen, dann aber zu einem anderen Verein wechseln.
Gleichzeitig wenden sich die Vereine ihren neu­en zahlungskräftigen Zuschauergruppen zu. Repräsentanten und Mitarbeiter des Vereins be­schäftigen sich mit den Besuchern der Logenbereiche, und auch die Spieler sind nach dem Spiel dort zu finden. Diese Art Kundenpflege ist attraktiv und bringt weitere Mittel zur Finan­zierung des Sports, während die Ultras den Bundesligabetrieb stören. Schließlich treten sie ja auch nicht so gepflegt und moderat wie die Kunden auf. So lässt sich beobachten, dass in letz­ter Zeit auch die Kontakte zwischen den Spielern und den Fans immer mehr abgenommen haben. Niemand aus den Vereinen, inklusive Mannschaft und Trainerstab, scheint sich überdies für die Ultras wirklich zu interessieren. Natürlich wird einiges für sie getan, es gibt unter anderem günstige Eintrittskarten und sogar Arbeitskarten zur Organisation ihrer Aktivitäten.
Aber eine wirkliche Anerkennung, die sich von Mensch zu Mensch vermittelt, bleibt versagt. Dabei könnten die Fans und Ultras, als sensibels­ter Teil des Publikums, durchaus die warnenden Seismographen für künftige problematische Entwicklungen des Fußballs sein. Bei Man­chester United sind Tausende von Mitgliedern nach der feindlichen Übernahme des Clubs durch einen amerikanischen Investor ausgetreten und haben einen eigenen Verein gegründet. Mitt­ler­weile haben sich englische Fans zu Trusts zusammengeschlossen, um über Aktienaufkäufe ihre Fußballvereine selber zu übernehmen. In Österreich kam es zu Massenprotesten, als ein Verein von einer Getränkefirma aufgekauft wurde und seine Farben und seinen Namen wechselte.
Die Ökonomisierung des Fußballs, d.h. die Un­terordnung des Sports unter vorwiegend ökonomische Gesichtspunkte, hat eine neue Stufe erreicht. Diese aus Sicht des Managements der Vereine gute Entwicklung hat auch negative Auswirkungen auf das Publikum. Traditionelle sportliche und gesellschaftliche Werte werden in Frage gestellt, und Bindungen der Zuschauer gehen verloren. Auf diese Weise kommt es zu Desintegrationsprozessen, die insbesondere von jugendlichen Fans sensibel wahrgenommen werden und im Verbund mit Ausgrenzungen und Anerkennungsdefiziten zu extremistischem Verhalten führen können. Eine der am intensivsten geführten Diskussionen in der Fanszene ist die Frage, für wen man eigentlich dieses per­sönliche Engagement aufbringt, wenn »nichts dabei rüberkommt«. Entsprechend werden die Verhältnisse im Fußball von vielen Ultras als un­gerecht empfunden.
So wissen wir, dass die Fans schließlich für die Innovation im heutigen Merchandising sorgen, und dies wird sicher auch in Zukunft so bleiben. Und wir wissen auch, dass sie ein entscheidender Faktor für die Stimmung in den Stadien sind, was sich zum einen positiv auf die Vermarktung der Spiele und zum anderen auf den Heim­vorteil auswirkt. Deswegen sollten die Vertreter der Vereine und die Fans zu­sam­men­kommen, die Konflikte offenlegen und ei­ne umfassende Diskussion über den Wertewandel des Fußballs und die Ziele der Vereine führen.

Thomas Hafke ist Dipl.-Sozialwissenschaftler und Leiter des Fanprojekts Bremen.