Der Film »Tsahal« von Claude Lanzmann

Die Waffen reden lassen

Auf »Shoah« und »Pourquoi Israel« folgt mit »Tsahal« der kontroverseste Beitrag der filmischen Trilogie von Claude Lanzmann. Seine Ode an die IDF ist jetzt auch in Deutschland auf DVD erhältlich.

Masada darf nie wieder fallen«, schworen zwischen 1965 und 1991 israelische Soldaten am Ende ihrer Grundausbildung an diesem historischen Ort, der zum Symbol des jüdischen Widerstands geworden ist. Nur während dreier Perioden der 3 500jährigen jüdischen Geschichte besaßen Juden eine Souveränität, wie Ehud Barak, zum Zeitpunkt des Interviews Generalstabschef der israelischen Armee, in Claude Lanzmanns »Tsahal« ausführt: »Im ersten Königreich, im Königreich der Makkabäer und im neu gegründeten Staat Israel.« Das Reich der Makkabäer wurde durch die römische Besatzung beendet, die Festung von Masada um 70 nach Christus zum verzweifelten Versuch, sich gegen die römische Übermacht zu behaupten. Nach der Belagerung durch die Römer brachten sich alle 960 Bewohner unter ihrem Anführer Elea­sar ben Ja’ir um, da sie den Tod als freie Menschen der Versklavung durch die Römer vorzogen.
Dies ist einer der Stränge jüdischer Geschichte, entlang dessen Claude Lanzmann im abschließenden Teil seiner Trilogie zum Judentum im 20. Jahrhundert – nach »Pourquoi Israel« (1973) und »Shoah« (1985) – erzählt. Im Zentrum steht in »Tsahal« die Selbstverteidigung Israels, die Wiederaneignung militärischer Stärke nach der Staatsgründung – Tsahal ist das Akronym für den hebräischen Namen der Israel Defense Forces, Tsava Haganah Leisrael. Der Film handelt von der »Eroberung des Muts«, wie Lanz­mann selber das Thema umriss. Sein Film brach­te ihm viel Kritik ein; Le Monde hielt ihm eine ein­seitige Berichterstattung vor, die problematische Aspekte der Armee ausblende, andere sahen in dem Film nichts anderes als Militärkitsch. Vor allem aber kritisierten die Rezensenten die konsequente Perspektive des Films, die alles im Licht der Verteidigung Israels betrachtet, den Zuschauer auch Fahrten durch den Gaza-Streifen ausschließlich durch die Augen der israelischen Soldaten sehen lässt.
Entstanden ist »Tsahal« zwischen 1991 und 1994, also genau zur Zeit der Ersten Intifada. Doch geht es Lanzmann in »Tsahal«, wie auch in seinen anderen Filmen, nicht um eine objektive, ausgewogene Dokumentation, wie von der Kritik eingefordert. Im Interview sagt er: »Die Nationen der Welt sind heute schnell bei der Hand, Israel zu verurteilen, und vergessen dabei das Überlebensproblem, das sich diesem Land unentwegt stellt. Sie nehmen die militärische Macht Israels als gegeben hin und sind nicht einmal erstaunt darüber. Dieses mangeln­de Erstaunen halte ich für eine große Gefahr. Mein Film soll dieses Erstaunen wieder wecken und die Realität in einem neuen Blickwinkel darstellen.«
Das Erstaunen Lanzmanns darüber, dass Israel im Sechstagekrieg, nur 25 Jahre nach der Wann­see-Konferenz, sich gegen eine Übermacht von Feinden zu behaupten in der Lage ist, trans­portiert er in den Film. Ein Erstaunen, das ihn bereits in »Pourquoi Israel« antrieb und das er in den Leitfragen von »Tsahal« formuliert: »Wieso unterscheidet sich diese Armee von allen anderen? Welcher geheime Faden verbindet die Gewalt­losen der Shoah mit den Soldaten von Israel?«
Die Shoah steht dabei immer im Mittelpunkt, manifestiert in einer Überlebendenschuld, die sich fortpflanzt und in ein Verantwortungsgefühl transformiert wird. »Ich erinnerte mich an den Holocaust. An das, was mit den Juden passiert war, als sie unbewaffnet waren und sich nicht selbst verteidigen konnten«, sagt der Brigadegeneral der Reserve Avigdor Kahalani. Das »Warum Tsahal« steht also im Vordergrund, wie auch in »Pourquoi Israel« ohne Fragezeichen, als eine Annäherung an jüdische Identität im Schatten des Holocaust. So drängt sich die Angst vor der Vernichtung des Staates Israel in den Interviews immer wieder in den Vordergrund; das Gedenken an die Shoah wird an den Tod israelischer Soldaten gekoppelt, was ganz konkrete militärische Grundsätze zur Folge hat. Wenn ein Familienmitglied getötet wird, müssen die Geschwister aufhören zu kämpfen und nach Hause zurückkehren, erklärt Kahalani, keine Fa­milie soll Gefahr laufen, alle Nachkommen zu verlieren. »Gib dein Leben, aber die Familie muss weiterbestehen«, so Kahalani.
Der Film beginnt mit dem Tod und der Angst. Während die Worte »Ohne Tsahal hätte sich die Frage nach dem Frieden zwischen Israel und seinen ehemaligen Feinden niemals gestellt: Israel würde nicht mehr existieren« durchs Bild laufen, hört man im Hintergrund Kriegslärm, die letzten Aufzeichnungen aus einem kurz darauf von den Ägyptern überrannten Bunker am Suez-Kanal zu Beginn des Jom-Kippur-Kriegs. Dieser Krieg vom Oktober 1973 stellt jenen Moment in der Geschichte Israels dar, in dem der Staat der Vernichtung am nächsten war und der im Bewusstsein der israelischen Gesellschaft am präsentesten ist. Der Reservist Yuval Neria meint: »Als ob ein großes Feuer die israelische Gesellschaft verbrannt hätte und auch die israelische Existenz während dieses Krieges.«
Der Tontechniker Avi Yaffe hatte ein Aufnahme­gerät in seinem Bunker und zeichnete damit die letzten Minuten des Funkers eines benachbar­ten Bunkers auf. Lanzmann lässt seinen Darsteller die Situation im Bunker erneut durchleben, verweilt mit der Kamera während des Hörens auf Yaffes Gesicht und lässt ihn dann die Angst beschreiben, die er in diesem Moment gefühlt hat: »Man hat weiche Knie und kann kaum stehen. Man hat so was wie Schmetterlinge im Bauch. Kalter Schweiß.« So macht Lanzmann gleich zu Beginn des Filmes deutlich, wovon der Film handelt: »Nicht vom Triumph Israels, sondern von der Zerbrechlichkeit und Anormalität dieses Landes.« Die Zerbrechlichkeit zeigt sich dann auch in der darauf folgenden Szene, in der man Yaffe und den Major der Reserve Meir Wiesel über einen Soldatenfriedhof begleitet, auf dem die Toten des Jom-Kippur-Krieges begraben liegen, die meisten um die 20 Jahre alt.
Den permanenten Alarmzustand Israels will Lanzmann einfangen, wozu auch die entstehen­de Rüstungsindustrie gehört, deren Darstellung er viel Platz einräumt. Immer wieder fahren Pan­zer durchs Bild, in die untergehende Wüstensonne, was den Vorwurf des Militärkitsches genährt hat. Diese Kritik unterschlägt jedoch die symbolische Bedeutung dieses Bildes. Bewegung ist in Lanzmanns Israel-Trilogie zentral: »Pourquoi Israel« vollzieht zu Beginn den Weg von Eu­ropa nach Israel nach; »Shoah« wird strukturiert von Aufnahmen fahrender Züge. Doch diesmal ist aus der Fahrt in den Tod eine selbstbestim­m­te Bewegung in Panzern, Flugzeugen und Hub­schraubern geworden. Der Schriftsteller David Grossmann beschreibt die Situation als die permanente Präsenz der Vergangenheit in den Leben von Israelis: »Ein Schritt zurück und wir sind mittendrin. Wir können nicht dahin zurück, wir können nicht in eine Situation zurückgehen, wo wir die Opfer sind. Also schlagen wir zu­rück. Das ist doch klar.« Die Notwendigkeit der Armee wird selbst von dem Pazifisten Grossmann nicht bestritten, der in dem Film ebenso zu Wort kommt wie die Kriegsgegner Avigdor Feldmann und Amos Oz, der Folterbefürworter Schlomo Gazit oder ein Einwohner von Gaza auf der Rückreise von Dubai. Lanzmann sieht die Theorie des Angriffs als direkte Konsequenz des Holocaust: »Nie wieder passiv sein. Es geht in dem Film um die Wiederaneignung militärischer Gewalt.«
Trotzdem zeigt Lanzmann die Rolle der israelischen Armee, die aus der Geschichte der Ver­folgung und der permanenten Bedrohung re­sul­tiert, in all ihrer Widersprüchlichkeit, am schöns­ten wohl dargestellt in jener Szene, in der Ariel Sharon erklärt, warum Soldaten besser kämpfen, wenn ihre Offiziere für sie denken und entscheiden, während im Hintergrund die Schaf­herde des Hobbyschäfers Sharon blökend auf- und abläuft.

»Tsahal« (Frankreich/Deutschland 1991-1994). Regie/Buch: Claude Lanzmann. 2 DVD, Absolut Medien