Islamkritik und Säkularisierung

Fundamentalismus ohne Fundament

An säkularen Islaminterpretationen mangelt es nicht. Doch nur die demokratische Revolution kann ihnen zum Durchbruch verhelfen.

Wenn oppositionelle Demonstranten im Iran »Gott ist groß« rufen, herrscht Verwirrung. Weni­ger im Iran selbst, wo die Fronten recht klar sind, als im Ausland, nicht zuletzt in Deutschland. Selbst wenn wir einmal jene ignorieren, die »CIA« hören, wenn »Freiheit« gerufen wird, und bestreiten, dass diese Leute überhaupt befugt sind zu rebellieren, bleiben nicht wenige, die den Aufstand vor allem als Gelegenheit betrachten, die Iraner zu belehren. Sozialistische Gruppen, die selbst nie ei­nen Streik zustande gebracht haben, vermissen die Führung der Arbeiterklasse. Auch viele Antideutsche sind verwirrt. Kaum hat man »den Islam« als neuen Hauptfeind der Menschheit ausgemacht, bedient sich eine Aufstandsbewegung, die das islamistische System erschüttert, der Farbe des Islam.
Zur Debatte steht letztlich die Frage, wie das iranische System säkularisiert werden kann. Im Iran kann eine solche Diskussion nicht offen geführt werden, Säkularisten tarnen sich meist als islamistische »Reformer«, um sich zu schützen. Der Satz »Khamenei handelt undemokratisch« pas­siert die Zensur nicht. Eine weit bessere Chance hat die Aussage: »Der Imam Khomeini hat immer auf die Stimme des Volkes gehört.« Niemand weiß genau, wie groß der Anteil der heimlichen Säkularisten ist. Doch auch viele Iraner, die sich auf die Ideale der »Islamischen Revolution« berufen, wollen Reformen, die den Rahmen des herrschenden Systems sprengen.
Wie immer in der Anfangsphase des Kampfs ge­gen eine Diktatur wird im Rahmen der herr­schen­den Doktrin gestritten. Dass die Feinde des Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad und des religiösen Führers Ali Khamenei Grün zu ihrer Farbe gemacht haben, ist eine Herausforderung, denn damit machen sie der anderen Seite das beanspruchte Monopol auf Rechtgläubigkeit streitig. Diesen Anspruch erhebt jedes autokratische oder diktatorische islamische Regime, auch wenn es sich, wie die »prowestlichen« Regierungen Marokkos oder Ägyptens, gern als Bollwerk gegen den Islamismus präsentiert.
Der schiitische Iran hat eine Sonderrolle, weil sich dort die Geistlichkeit zu einer politisch und ökonomisch unabhängigen Kaste entwickelt hat, während fast alle sunnitischen Kleriker Staats­angestellte sind. Die theologischen Differenzen hingegen sind gering, gestritten wird zwischen Sunniten und Schiiten vornehmlich über die Rolle einiger Führungspersönlichkeiten der früh­islamischen Zeit. Sunnitische und schiitische Muslime müssen sich die gleiche Fragen stellen: Welche Bedeutung haben der Koran, die Überlieferung (Hadith) und das Beispiel der frühislamischen Epoche für die heutige Zeit?

Alle Islamisten und westlichen Gesinnungsayatollahs, aber auch viele Islamwissenschaftler und Islamkritiker behaupten, es gebe eine islami­sche Essenz, die in einer fundamentalistischen Koraninterpretation zu finden sei und nur mehr oder weniger konsequent verwirklicht werde. Der zentrale Beleg für diese These ist das Dogma von der göttlichen Herkunft des Koran. Seine Vorschriften seien daher zeitlos gültig, jede Reformbemühung sei unzulässig bzw. vergeblich. Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich schnell heraus, dass Orthodoxe und Islamisten ihren Koran so wörtlich auch wieder nicht nehmen.
So wird die Koranpassage »Heiratet an Frauen, was euch beliebt, zwei, drei oder vier« gern als Beleg für die religiöse Legitimität der Polygamie angeführt. Der vollständige dritte Vers der vierten Sure lautet jedoch: »Wenn ihr fürchtet, die (weib­lichen) Waisenkinder nicht gerecht zu behan­deln, dann heiratet an Frauen, was euch beliebt, zwei, drei oder vier. Doch wenn ihr fürchtet, nicht gerecht zu sein, dann nur eine oder zwei eurer Sklavinnen.«
Die Polygamie ist nur vorgesehen, wenn die Ver­sorgung von Frauen anders nicht sichergestellt werden kann, und selbst für diesen Fall gelten Ein­schränkungen. Doch den patriarchalen Bedürfnissen entgegenkommende Theologen übergehen dies. Dass der Prophet den Gläubigen als Ersatzoption Sklavinnen zugesteht, wird ebenfalls stillschweigend ignoriert, denn die Sklaverei wollen nicht einmal die Islamisten wieder einführen.
Zentral für das orthodoxe islamische Selbstverständnis ist die Vorstellung, Mohammed sei der letzte von Gott gesandte Prophet gewesen. Doch für dieses Dogma sind die Textbelege dürftig. Der 40. Vers der 33. Sure bezeichnet Mohammed als »Siegel der Propheten«, doch kann, darauf weist Rudi Paret in seiner Koranübersetzung hin, der Begriff auch im Sinn von »Beglaubigung« verstanden werden. Noch weitgehend dem Weltbild der Antike verpflichtet, betrachtet der Koran die Geschichte als zyklisch. Gott sendet einen Propheten, der den Monotheismus lehrt. Meist wird dieser Prophet verjagt oder getötet, die renitente Community wird dann von Gott bestraft. Doch auch dort, wo der Prophet Erfolg hat, wird die göttliche Botschaft bald vergessen oder verfälscht. Die im Kern immer gleiche Lehre wird also von Mohammed erneut bestätigt bzw. beglaubigt.
Der zweite herangezogene Beleg findet sich im dritten Vers der fünften Sure: »Heute habe ich eure Religion für euch vollendet«, ist da zwischen zwei recht banalen Speisegeboten zu lesen. Doch offensichtlich wird hier die versammelte Gemeinde angesprochen, dass die gesamte Menschheit gemeint sei, ist eine Interpretation der Theologen, die den Islam als vollendete und letztgültige Religion präsentieren wollen. Man sollte jedoch erwarten, dass Gott sich in einer so wichtigen Frage unmissverständlich ausdrückt und der Angelegenheit etwas mehr Bedeutung gibt.

Diese Debatte ist nicht nur von theologischer Bedeutung, denn unter Berufung auf die angebliche Endgültigkeit der koranischen Botschaft erkennt der orthodoxe Islam nur Religionen an, die vor der Epoche Mohammeds entstanden sind. Des­halb sind unter anderen die iranischen Baha’i, deren Religion erst im 19. Jahrhundert entstanden ist, besonderer Unterdrückung ausgesetzt, sie müssen sogar mit der Todesstrafe rechnen.
Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen. Als Islamisten oder Fundamentalisten jene zu bezeichnen, die eine wörtliche Geltung der ko­ranischen Gebote fordern, ist eine zur Abgrenzung verschiedener islamischer Interpretationen unverzichtbare Definition. Doch sollte sie nicht wörtlich genommen werden, denn der Fundamen­talismus hat letztlich kein Fundament.
Zudem muss das Dogma, der Koran sei das Wort Gottes, nicht eine Bindung an die koranischen Vorschriften nach sich ziehen. Der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid erkennt das Dogma an, meint jedoch, durch die Her­absendung verwandle sich der Koran »in einen menschlichen Text«. Denn »Unveränderlichkeit ist eine Eigenschaft des Absoluten«, also allein Gottes, während der herabgesandte Koran »notwendigerweise vom relativen und veränderlichen Standpunkt des Menschen aus« verstanden werden müsse.
Das klingt ein wenig spitzfindig, ist jedoch im Kontext der islamischen Theologie, die großen Wert legt auf die strikte Unterscheidung zwischen dem Schöpfer und dem Erschaffenen, also eigentlich auch dem Koran, eine konsequente, wenn nicht gar zwingend logische Überlegung. In der Praxis erlaubt es diese Interpretation, nach den hinter koranischen Vorschriften verborgenen Ideen zu suchen, also etwa die Heiratsregel als Mah­nung zu verstehen, für den Lebensunterhalt der Waisenkinder zu sorgen.
Radikalere Denker wie Muhammad Kalisch gehen noch weiter. Der Schiit Kalisch propagiert eine spirituelle und überkonfessionelle Religiosität, er trägt in seinem Aufsatz »Islamische Theologie ohne historischen Muhammad« Belege für die These zusammen, dass der Prophet wahrscheinlich nicht existiert hat. Es gibt Münzen aus den ersten beiden Jahrhunderten nach dem Tod des Propheten, die auf einer Seite den Namen des Propheten, auf der anderen aber ein christliches Symbol zeigen.
Man muss dies nicht, wie Kalisch es tut, als Indiz für die Nichtexistenz Mohammeds betrachten. Dass ansonsten »der Urislam sehr viel toleranter gewesen sein muss«, wie Kalisch schreibt, dürfte die Sache eher treffen. Die mythologisierte frühislamische Zeit gilt Orthodoxen und Is­lamisten als vorbildlich, als eine Epoche feurigen Missionsdrangs und puritanischer Strenge. Doch offenbar gab es damals nicht einmal eine konfessionelle Abgrenzung der »Muslime«, eine solche Haltung entspräche auch der koranischen Geschichts- und Prophetenlehre, die die religiöse Kontinuität betont. Der Übertritt zum Islam war damals der Beitritt zur herrschenden arabischen Kriegeraristokratie. »In Transoxanien bezeichnete man die Konversion zum Islam als ›zum Araber werden‹.«

Die vielfach angemahnte Aufklärung ist also längst im Gange. Doch von wissenschaftlichen Er­kenntnissen lassen sich konservative Kleriker und Fundamentalisten selten beeindrucken. Das war in der christlichen Welt nicht anders. Die Bibel- und Religionskritik wurde in der Epoche der Monarchie meist geduldet, da sie ein harmloses Hobby von Aristokraten und Großbürgern war. Erst nach der bürgerlichen Revolution konnte die Religionskritik eine größere gesellschaftliche Wirkung entfalten.
In der »islamischen Welt« wird es nicht anders sein. Da die Koran- und Religionskritik in der Epoche der Massenmedien keine elitäre Angelegenheit mehr sein kann, wird sie unterdrückt. Kritische Theologen und Religionswissenschaftler haben derzeit auch in »prowestlichen« Staaten wie Ägypten kaum eine Möglichkeit zu publizieren, und ihre Thesen können in der Öffentlichkeit nicht diskutiert werden. Nasr Hamid Abu Zaid erhielt Morddrohungen und musste Ägypten verlassen.
Es fehlt der islamischen Welt nicht an Voltaires, sondern an Dantons. Auch deshalb hat die Revolte im Iran große Bedeutung für die gesamte islamische Welt. Die nachrevolutionäre Macht­übernahme der Khomeinisten war der bislang größ­te Sieg der Islamisten, eine demokratische Revolution, die ihre Herrschaft beseitigt, würde auch andere Diktaturen und Autokratien destabilisieren. Das dürfte auch säkularen Islaminterpretationen zum Durchbruch verhelfen, die sich am 87. Vers der fünften Sure orientieren könnten: »Erklärt nicht die guten Dinge, die Gott euch erlaubt hat, für verboten!«