Die Krisengewinnler FDP und die Grünen

Grün und gelb im Kern

Die FDP und die Grünen sind derzeit die Krisengewinnler. In Umfragen schneiden beide Parteien sehr gut ab, bei den Europa-Wahlen waren sie erfolgreich.

Ausgerechnet in der Zeit des kapitalistischen Crashs erlebt der politische Liberalismus sowohl in der herkömmlichen Variante als auch in seiner modernisierten Form eine erfolgreiche Phase. Das scheint auf den ersten Blick paradox zu sein, ergibt aber durchaus Sinn. Sowohl die FDP als auch die Grünen sind auf ihre Weise Hoffnungsträger eines verängstigten Bürgertums, das befürchtet, die gegenwärtige Krise könnte grundlegende gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen. Da die Parteien unterschiedliche soziale, kulturelle und politische Milieus innerhalb des hetero­gener gewordenen Bürgertums ansprechen, haben beide Erfolg.

Sowohl die FDP als auch die Grünen schaffen es, den ihnen traditionell jeweils näher stehenden Volksparteien Wähler abspenstig zu machen. So flüchten die von der vermeintlichen »Sozialdemokratisierung« der Union abgestoßenen konser­vativen Wirtschaftsbürger zur FDP, die unverdros­sen weiter den neoliberalen Zeitgeist von gestern predigt. Die Grünen haben der SPD jenes mitt­lerweile gutsituierte, großstädtische, bildungsbürgerliche Milieu abspenstig gemacht, das während der Ära Willy Brandts sozialisiert wurde und mit mehr oder weniger linksradikalen Flausen im Kopf seinerzeit den Weg in die Sozialdemo­kratie fand, jedoch inzwischen mehr zu verlieren hat als seine Ketten. Während der Erfolg der FDP eine für die Union weitgehend ungefährliche Verschiebung innerhalb des gleichen politischen Lagers bewirkt, sind die Grünen dabei, sich behutsam, aber systematisch von der SPD zu lösen. Das Bündnis mit den Sozialdemokraten ist für sie schon längst nicht mehr alternativlos.
Die Fixierung der Grünen auf Rot-Grün war der Preis des »historischen Kompromisses« zwischen Realos und »konstruktiven« Linken Anfang der neunziger Jahre. Damit lieferten die beiden Mehrheitsströmungen ihre Partei, die sich einst in Opposition zur SPD Helmut Schmidts gegründet hatte, auf Gedeih und Verderb dessen Enkeln aus. Nachdem die Grünen sieben Jahre un­ter Gerhard Schröder hatten mitregieren dürfen, war vom Grundsatz »ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei« kaum mehr etwas übrig.
Mittlerweile ist sowohl die Partei als auch ihre Wählerschaft dort angekommen, wo die Grünen im Parlament schon immer saßen – in der Mitte des Parteienspektrums, also zwischen SPD und Union. Nicht aus Versehen empfahl die Financial Times Deutschland, bei der Europa-Wahl die Grünen zu wählen. Es spreche für sie, dass sich die Par­tei »als marktfreundlicher Innovationsmotor« gebe. Zwar fänden sich im Wahlprogramm »auch Forderungen, die naiv oder fragwürdig anmuten«, wie der Atomausstieg oder »die pazifistische Grundhaltung in der Sicherheitspolitik«, aber damit würden sie auf der europäischen Ebene oh­nehin nicht weit kommen.
Der große Erfolg bei der Europa-Wahl mit 12,1 Pro­zent der Stimmen lässt allein noch keine unmittelbaren Rückschlüsse auf das Abschneiden bei der Bundestagswahl zu. Denn es gibt spe­zifische Gründe für das hervorragende Resultat, die sich nicht übertragen lassen. So ist die Begeis­terung ihrer Stammklientel für Europa weit stärker ausgeprägt als bei anderen Parteien. Kein deutsches Phänomen: In zahlreichen Ländern schnitten nicht nur EU-kritische oder ‑feindliche Listen erschreckend gut ab, sondern eben auch pro­europäische wie Daniel Cohn-Bendits »Europe écologie« oder auch die linksliberalen D66 in den Niederlanden. Auch bei der Europa-Wahl 2004 kamen die Grünen auf glänzende 11,9 Prozent – um dann bei der Bundestagswahl im Folgejahr mit 8,1 Prozent nur auf dem dritten Platz zu landen.
Doch auch etwa bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg Anfang Juni waren sie erfolgreich, sie wurden in Stuttgart, Freiburg, Tübin­gen und Konstanz die stärkste Partei. In Karlsruhe und Baden-Baden konnten sie an der SPD vorbeiziehen. Das eine oder andere Stadtratsergebnis in Rheinland-Pfalz konnte sich ebenfalls sehen lassen, wie beispielsweise in Mainz, wo die Grünen mit 21,9 Prozent nur denkbar knapp hinter den Sozialdemokraten landeten.

Ein entscheidender Grund für solche Ergebnisse ist, dass sich die Grünen als Partei des modernen, städtischen Bürgertums etabliert haben. Ihre Wählerschaft finden sie insbesondere im postmaterialistischen Milieu der so genannten Lohas (»Lifestyle Of Health And Sustainability«), die »ökologisch« und »nachhaltig« konsumieren, weil sie es sich leisten können und mit Verachtung auf diejenigen herabblicken, denen dies nicht mög­lich ist. »Die neugrünen Lohas legen hohen Wert auf Distinktion besonders gegen­über den Lebensgewohnheiten der Unterschichten, die man klassisch oberschichtig als ordinär und vulgär ansieht«, konstatiert der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter.
Formal Hochgebildete, die mittlerweile entspre­chend gut verdienen, stellen einen Großteil der grünen Anhängerschaft. Die Grünen haben es nach Josef Fischer geschafft, jenen »städtischen, liberalen, an seinen individuellen Lebensentwürfen zuerst orientierten, konsumfreundlichen Citoyen« für sich zu gewinnen, der schon vor 20 Jahren das Objekt der Begierde des – zu dieser Zeit noch minoritären – realpolitischen Flügels war.
Aus den Hausbesetzern von einst sind Hausbesitzer geworden, die den Kapitalismus nicht mehr abschaffen, sondern ein bisschen begrünen wollen. Der Durchschnittsgrüne halte es jetzt »wie diejenigen Bürger, die er vor 25 Jahren noch verächtlich als Spießer belächelt hat, lieber mit Maß und Mitte«, schreibt Walter. Der frühere Impetus in der sozialen Frage komme bei der Wählerschaft der Grünen mittlerweile nur noch dann zur Geltung, wenn es um üppige Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst gehe. Das stimmt nicht ganz: Zu der Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro konnten sich die Grünen auf ihrem jüngsten Bundesparteitag durchringen.
Es erstaunt dennoch nicht, dass die Zustimmung zur »Agenda 2010« in der grünen Klientel aus Akademikern und Beamten am höchsten ausgefallen ist. Denn diese Leute waren nicht betroffen. Auch die Finanz- und Wirtschaftskrise lässt sie auffallend kalt. Der als Antwort auf die Krise praktizierte Interventionismus des Staates ist ihr ein Graus. »In der Skepsis gegen staatliches Engagement in privaten Unternehmen steht die grüne Klientel ganz in der Reihe mit Schwarzen und Gelben – und ist weit von Rot-Rot entfernt«, so Walter. Wenn schon Konjunkturprogramme, dann bitteschön für das Gute, Wahre, Schöne, beispielsweise »ökologische Zukunftstechnologien«, und höchstens nebenbei für so etwas Profanes wie den Erhalt von Arbeitsplätzen.

Bei aller demonstrativen Abneigung gegeneinander hätten die Wähler von Grünen und FDP vie­les gemeinsam, schreibt Peter Fahrenholz in der SZ: »Man verreist gerne, schickt seine Kinder in gu­te Schulen, ernährt sich gut und teuer, lebt in Maßen umweltbewusst, ist kulturell und gesellschaftlich interessiert.« Vor allem jedoch handele es sich um Menschen, »die den Glauben an den Staat als ordnende und beschützende Instanz verloren haben«. Fahrenholz appelliert an FDP und Grüne, das »stupide Lagerdenken« zu beenden, und schwärmt von einer »Regierung, de­ren Nukleus grün-gelb« ist.
Dazu wird es wohl nicht kommen. Die Wahrscheinlichkeit einer Koalition mit der FDP und den Grünen ist sehr gering. Das ist ein Glück, denn die sozialen Verwerfungen nach der Wahl dürften auch so schon verheerend genug sein.