Abschied von Michael Jackson

Who’s dead?

Das sagt Wikipedia: Michael Joseph Jackson (* 29. August 1958 in Gary, Indiana; † 25. Juni 2009 in Los Angeles, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Sänger, Songwriter und Entertainer. Mit schätzungsweise 750 Millionen verkauften Tonträgern war er einer der kommerziell erfolgreichsten Musiker in der Geschichte der Popmusik.

Tanja Dückers
Mit 50 Mark dabei

Im Frühjahr 1988 fand das legendäre Open-Air-Konzert vor dem Berliner Reichstag statt. Das Konzert fiel in meine Abi-Prüfungszeit, und meine Eltern waren alles andere als begeistert darüber, dass ich mit meinen Freundinnen da hingestiefelt bin. Ich war keine große Disco-Maus und auch kein Fan von Jacksons Musik – ich war eher auf dem Retro-Trip, hörte Sixties, besonders sehr eigentümliche, psychedelische Sachen, und zum Entsetzen einiger Klassenkameraden auch Country, gern Dinge wie »Space Country«. Auf unseren Klassenfeten war ich musikalisch immer eine Außenseiterin. Aber zum Jackson-Konzert bin ich hingegangen und habe für das Ticket mühsam 50 Mark zusammengespart.
Mir imponierte Michael Jackson als Exzentriker, als Klamottenfanatiker mit schrillem Geschmack, als Glamourgestalt (ich begeisterte mich damals auch für David Bowie in seiner Ziggy-Stardust-Phase) und als androgyner Typ, der nicht dem Bild des herkömmlichen männlichen Rockstars entsprach. Er war interessanter als die meisten Stars, wenngleich eher im soziologischen Sinne als im musikalischen. Irgend­etwas an ihm und seinem Auftreten schien absolut neuartig, utopistisch, zukunftsgerichtet, unverbraucht. Er schien wirklich so eigentümlich zu sein, wie er sich gab, er hatte in aller seiner Schrägheit etwas Authentisches, Überzeugendes, man hatte bei ihm nicht den Eindruck, dass er sich nur ein Image zugelegt hatte, um damit Geld zu verdienen. Seine Musik war allerdings auch damals in erster Linie Kommerzmusik, wenngleich etwas interessanter, zum Beispiel mit ihren Rhythmenwechseln, als ganz herkömmliche Discomusik.
Später fand ich Jacksons Versuch, sich seiner Identität und Hautfarbe zu entledigen, jedoch auch traurig. Ich weiß nicht mehr genau, wann man den Eindruck hatte: Hier hat er eine Grenze überschritten.

Jens Friebe
Trauriger als der Tod
Am Tag nach der Nacht, in der eine noch größere Göttin Michael Jackson zu sich rief, sah ich fern. Der Sprecher auf NTV sprach folgenden Satz: »Michael Jackson war einer der schillerndsten Menschen der Welt.« Der Satz war in seinem linkischen Abweichen vom Idiom seltsam treffend. »Welt« statt »unserer Zeit« macht die Sache so groß, wie sie ist, und »Mensch« statt »Figur« zeigt an, was den totalen Popstar ausmacht: das Fehlen der Grenze zwischen privat und publik, zwischen Fakt und Fiktion. »Einige Künstler – Springsteen oder U2 vielleicht – meinen, sie hätten alles auf der Straße gelernt. Ich bin im Herzen Künstler, ich habe wirklich alles auf der Bühne gelernt«, schreibt Jackson in »Moonwalk«. Das wirkt wie eine postmodern-selbstreferentielle Ästhetik: die Bretter, die die Welt bedeuten, die ihrerseits nur aus Brettern besteht. Aber dies ist die Realität des Kinderstars.
Jeder Kinderstar ist außerdem das Produkt einer vergangenen oder andauernden, mehr oder weniger subtilen Misshandlung. Denn kein Minderjähriger kann selbständig die Entscheidung für einen kryptosexuellen Akt treffen, wie ihn ein Bühnenauftritt darstellt. Das häusliche Terrorregime, unter dem die Jackson 5 gezüchtet wurden, ist allerdings besonders krank. Der krankhaft ehrgeizige Vater, der jeden falschen Tanzschritt mit Gürtelhieben bestraft, und die fanatisch religiöse Mutter, die die geprügelten Kinder tröstet, aber nicht schützt, bildeten eher ein Komplott der Sorte Good Cop/Bad Cop als ein wirkliches Gegensatzpaar. Die Manie, mit der Jackson schon als Kind Idole und spätere Ziehväter wie James Brown und Fred Astaire studierte und weiterentwickelte, war gleichzeitig Flucht und Gehorsam. Die monumentalen Leistungen, die er im Laufe seines Lebens als Tänzer, Sänger und Songwriter erbrachte, erhoben ihn über den Vater und machten ihn unabhängig. Gleichzeitig übererfüllten sie dessen Plan und gaben seinen Methoden auf sarkastische Weise Recht.
Sein Perfektionismus machte nicht bei der Körperbeherrschung halt, sondern ging weiter zum Körper. Das medizinische Kunstwerk, als das er sich konzipierte, gilt gemeinhin als grandios gescheitert: Einer, der sich selbst operativ zu einem makellosen Wesen ohne race, Geschlecht und Alter morphen wollte, schuf sich aus Versehen zum Monster um. Diese Lesart übersieht vielleicht das gezielt morbide Element in Jacksons Body-Art. Mit kaum einer historischen oder fiktiven Gestalt – außer Peter Pan – identifizierte sich Jackson mehr als mit dem Elefantenmenschen. Lynchs Film hatte er an die 40 Mal gesehen, und dem London Hospital bot er 1986 zehn Millionen Dollar für John Merricks Knochen. Ich halte es nicht für völlig abwegig, in der finalen Selbstzurichtung – inklusive der ebenfalls auf Monströsität verweisenden Ver- und Enthüllungskunststücke – ein letztes großes Werk im perversen, glückverachtenden Sinne Stockhausens zu sehen – vielleicht sogar Jacksons ehrlichstes. Denn sein Tod ist traurig, aber sicher nicht so traurig wie sein Leben.

Joachim Lottmann
Der Popstar in den Zeiten des Medienfaschismus
Als am späten Abend die Meldung vom Tod des Superstars im Fernsehen verlesen wurde, stand echtes Entsetzen in der Miene des »Tagesschau«-Sprechers. Erstaunlich daran fand ich, dass der Mann ganz offensichtlich Empathie empfand – für Michael Jackson, den schlimmsten Finger seit Beginn des Medienfaschismus, den Kinderficker! Natürlich nur ein angeblicher Missetäter, er wurde ja irgendwann sogar freigesprochen, aber egal.
Das Urteil in der Öffentlichkeit hatte doch stets und völlig eindeutig auf »schuldig« gelautet. Hätte der Sprecher auch bei Eichmanns Tod so bedröppelt geguckt, mit Hundeblick, den Tränen nah? Durfte er das überhaupt, als neutraler Nachrichtensprecher? Sind die medialen Wahrnehmungsreflexe inzwischen so ausgeleiert, und ist die Musikindustrie so am Boden, dass der Selbstmord eines Superstars, selbst wenn er 16 Jahre zu spät kommt und der Superstar weder ein Superstar ist noch gar young und pretty, dass dieser Tod also wieder alles ins Reine bringt?
Dass er als legitime Form dafür gilt, seine Ehre als Superstar plus ewigen Ruhm zu gewinnen und ins Grab mitzunehmen? Prompt sah man als nächstes weinende, aufgelöste, fassungslos schluchzende Fans von Michael Jackson. Jawohl, Fans! Kaum zu glauben. Der hatte doch keine. Wer sich als Fan von Michael Jackson outete, schuf sich damit dieselbe Reputation, als hätte er behauptet, »Mein Kampf« sei sein Lieblingsbuch. Jackson war unmöglich, war durch, war indiskutabel seit 1993. Verstanden hatte ich das durchaus. Aber logisch war es nicht. Vor allem war das Durchschlagen der persönlich-menschlichen Ablehnung auf das Werk zwar unvermeidlich, aber auch ein bisschen schade. Man erwähn­te seine Musik nicht mehr, überließ sie Supermärkten und Hotel-Lift-Berieselungsanlagen, hörte sie nicht mehr im Radio. Zehn Jahre brauchte es, bis immerhin ein erster Nachahmer in Form von Justin Timberlake verschämten Erfolg mit dieser Art von Musik haben durfte. Und in den offiziellen Biographien wurde immer so getan, als handele es sich um ein früh talentiertes Wunderkind, das schon mit fünf Jahren auftrat und am Ende mit »Thriller« einen großen Erfolg landete. Die Zeit danach, spätestens ab »Bad« (1986), wird meistens verschwiegen. So, als hätte er von da an keine neuen Ideen mehr gehabt. Als hätte sein Abstieg mit der gebleichten Haut und der falschen Nase eingesetzt.
Und es stimmt ja: Bei »Thriller« hatte er noch seine milchkaffeebraune Haut und seine Gnubbelnase. Allerdings entwickelte er die besten Körperbewegungen, Choreografien erst danach, die bahnbrechenden Videos, die akustische und visuelle Erotik. Und er wurde inhaltlich-politisch viel breiter. In »We Save the World« schuf er eine durchaus politische Hymne für Milliarden Menschen, mit dem dummen Nachteil, dass es Menschen mit einstelligem Lebensalter sein sollten. Grönemeyers »Kinder an die Macht« und überhaupt das sehr gängige Gefasel, dass wir doch alles »für unsere Kinder« (A. Merkel) tun wollten und sollten, fand in Jacksons Ansatz durchaus eine Entsprechung in der Kategorie »Hipness«. Von all dem durfte nun keine Rede mehr sein. Der Kinder-Visionär mit wirklich genialen Impulsen wurde in zweierlei Hinsicht erdolcht: von sich selbst durch seine Körper­zerstörung mittels Schönheitsoperationen (die Häss­lichkeitsoperationen waren) – in einer Ger­many’s-Next-Topmodel-Gesellschaft der größte denkbare Affront.
Zum zweiten dadurch, dass er immer dutzendweise fremde Kinder in seinem Schlafzimmer nächtigen ließ. Was, zum Teufel, sollte das? Was hatte er sich dabei gedacht? War er wirklich so blöde zu glauben, er würde, bloß weil er die Kinder nicht sexuell belästigte, damit durchkommen? Wie konnte er allen Ernstes beteuern, er sei »totally innocent«? Die Sache war auch ohne Kinderschänderei bereits höchst unappetitlich, und es musste einfach schiefgehen.
Die Prozesse waren dann die üblichen amerikanischen Exzesse, wie der Lewinsky-Prozess. Wer sich als US-Präsident mit einer Praktikantin emotional einlässt, ist erledigt, auch ohne Sex. Und das ist gut so. Trotzdem ist das Leben und Sterben des King of Pop interessant und lehrreich. Es bringt andere, weiterführende Elemente hervor als die vergleichbaren Biographien von Elvis oder Marilyn Monroe. An Jackson konnte man testweise überprüfen, was eigentlich passiert, wenn diese Superstars der James-Dean-Klasse nicht zur rechten Zeit sterben. Sie geistern dann als lebende, entsetzlich anzuschauende Gespenster durch eine zunehmend bösartige Medienwelt. Napoleon konnte in seiner nichtmedialen Welt noch unbemerkt auf Elba oder St. Helena vertrocknen. Schon Hitlers Mythos wäre um 1955 erloschen, hätte er Ähnliches erlebt. Kein Guido Knopp hätte ihm noch 2005 eine Sonder-Serie »Hitlers willige Adjudanten« gewidmet.
Jackson und Lewinsky sind fast identische Phänomene. Hier sah man, wie verroht die Öffentlichkeit im Medienfaschismus geworden war. Kein ernsthafter Journalist glaubte, Jackson habe tatsächlich die quietschfidelen Kinder gevögelt. Auch wurde schnell klar, dass Clintons Kontakte mit Frau Lewinsky einfach nur peinlich gewesen waren. Trotzdem bestand eine unüberschreitbare Übereinkunft aller Medien, den Popstar wie den Präsidenten zu überdimensionalen Verbrechern zu machen. Das Erschreckende daran war, dass es keine einzige Gegenstimme gab. Daher auch der zweite Teil des Wortes Medienfaschismus. Wie bei den Schauprozessen unter Stalin wagte niemand, dem offiziellen Bild zu widersprechen. Die Wahrheit war: Jackson war ein armes Schwein und ein Genie, keinesfalls aber kriminell. Kriminell waren die Eltern, die ihre Kinder zwangen, den Popstar falsch zu beschuldigen und ihm damit Geld abzupressen. Und Clinton war peinlich, aber auch nicht kriminell. Das war sein Nachfolger, der völkerrechtswidrige Kriege führte. Die Wahrheit hatte in der Zeit von Michael Jackson verdammt schlechte Karten. Ein Glück, das sie vorbei ist. Willkommen, Internet-Zeitalter!

Jörg Sundermeier
Aber er liebte uns doch alle
Wir wissen kaum etwas über Michael Jackson. Wir haben eine Menge gehört, wir glauben, viel zu wissen, doch wissen wir kaum etwas. War er zuletzt Alkoholiker? Wahrscheinlich. Aber war er schon immer ein Junkie? Wir wissen es nicht.
Er hat sich Verletzungen beim Dreh eines Werbespots zugezogen, und seither war er abhängig von Schmerzmitteln. Ihm soll »die Nase abgefallen« sein. Aber er hat eine Menge eingeräumt, und eine Menge nicht. Nasenoperationen – ja. Andere Schönheitsoperationen – nein. Ist er bleicher geworden aufgrund einer Krankheit, oder wurde von Ärzten nachgeholfen? Wollte er weiß sein? Er betonte immer wieder, dass er »black and proud« sei. Wollte er ein Weißer sein, wie es Küchenpsychologen aus allen Erdteilen behaupteten? Wollte er wirklich Diana Ross oder Liz Taylor gleichen? Wollte er Peter Pan sein? Oder erzählte er uns nur was? War er religiös? Fand er Reagan prima oder Clinton oder beide? Ist er wirklich Mitglied der antisemitischen Nation of Islam geworden, also konvertiert? Oder flirtete er nur mit möglichen Sympathisanten? War er kindisch? Liebte er Phantasieuniformen? Liebte er uns alle? Dass er oft log, wenn er auf intime Fragen antwortete, ist bekannt. Vielleicht fand er es lustig. Vielleicht log er, wie alle Leute lügen, wenn es ihnen zu weit geht. War er Perfektionist? War er homo- oder heterosexuell? Bi? War er asexuell? War er ein Päderast? War er, wie es in den Achtzigern öfter hieß, mal mit Madonna liiert? Warum hat er gezahlt, um erste Kindesmissbrauchsvorwürfe aus der Welt zu schaffen? Warum später nicht mehr? War der Freispruch gekauft? Ist der ihn verfolgende Sheriff Rassist? Hatte Jackson eine Beziehung mit seinem Affen? Sind seine Kinder mit ihm verwandt? War Jackson krank, verwirrt, lebensunfähig? War er pleite? Größenwahnsinnig? Weltfremd?
Was ich weiß, ist: Er war ein ziemlich guter Sänger, ein hervorragender Musiker und Tänzer, in seiner Kunst unschlagbar und sehr selbstbestimmt. Sein Verhältnis zu den Medien aber war gestört, und das von Anbeginn. Michael Jackson hatte keine Ahnung, wie Medien funktionieren, wie Journalismus funktioniert. In Interviews war er schon zu Beginn seiner Solokarriere schlecht, und das verbesserte sich nicht. Solange er erfolgreich war, ließ man ihm das als Spleen durchgehen, später, als er von jeder neuen CD noch immer mehr verkaufte als Nirvana von ihrer einzigen weltberühmten, galt er bereits als gescheitert. Und auf Gescheiterte wird eingeprügelt, Neid ist ein nicht zu unterschätzendes Motiv bei Journalisten. Zudem stellte die Kunstfigur, die Michael Jackson für die Kameras war, für diese eine Herausforderung dar, denn sie schien aus der Zeit gefallen. Jackson scherte sich wenig um Mode, zur Schau gestellte Privatsphäre (einschließlich Sexualität), Publicity. Er liebte uns alle, er absolvierte Pflichtveranstaltungen, er genoss den Ruhm, zuletzt fiel es ihm sichtbar schwer, vor die Kameras zu treten. Das ist alles, was wir wissen. Und eigentlich sollte das reichen.