zum 30. Todestag von Herbert Marcuse

Die Objektivität des Glücks

Herbert Marcuse und die Suche nach dem richtigen Leben im falschen.

Die Unterschiedlichkeit der geistigen Interessen und Temperamente, die unter dem Sammelbegriff der Kritischen Theorie zusam­men­gefasst werden, hat dazu beigetragen, deren Geschichte als bloße Abfolge von intellektuellen und politischen Spaltungen zu erzählen und das Verbindende in den Unterschieden zu übersehen. Horkheimers und Adornos Versuche, die Einheit dessen, was sie als Kritische Theorie verstanden, allen gesellschaftlichen Umbrüchen zum Trotz zu wahren, konnten so als Herrschaftspolitik, ihre Kritik an einstigen Bündnisgenossen als Abstrafen von Renegaten missverstanden werden. Im Zuge solch interessierter Fehldeutungen ist Herbert Marcuse zum praxisnahen und studentenfreundlichen Konterpart von Adorno und Horkheimer stilisiert worden, eine Einschätzung, die er zumindest in seinen späten Lebensjahren durch seine Kritik am scheinbar resignativen Gestus Kritischer Theorie selbst befördert hat. Indessen wäre es billig, den Gehalt seines Werks durch Aufzählung seiner politischen Fehleinschätzungen entwerten zu wollen. Wer geistig ansprechbar ist, läuft stets auch Gefahr, von falscher Seite angesprochen zu werden und spontane Euphorie mit geistiger Erkenntnis zu verwechseln. Insbesondere angesichts der Studentenbewegung und der Apo hat sich Marcuse zu einer ganzen Reihe solcher Irrtümer hinreißen lassen und wahlweise der Anti-Atomkraft-Bewegung, dem Ökopazifismus, der Frauen­bewegung, dem Antikolonialismus und der studentischen Boheme seine Sympathien angetragen, was ihm zahlreiche falsche Freunde, aber auch – zum Beispiel seitens des Feminismus – scharfe Entgegnungen eingebracht hat. Dennoch ist es nicht einfach nur ein Widerspruch, wenn sich Marcuse zur gleichen Zeit, als Horkheimer und Adorno sich um eine rettende Kritik der grundlegenden Kategorien bürgerlicher Philosophie bemühten, mit dem antibürgerlichen Impetus der »neuen sozialen Bewegungen« identifizierte und der vermeintlichen Resignation seiner Kollegen einen emphatischen Aktivismus entgegenzusetzen suchte. Vielmehr handelt es sich um notwendig auseinanderstrebende Tendenzen ein und desselben Projekts: Horkheimers und Adornos Skepsis gegenüber »richtiger Praxis« versucht, negativ zu bewahren, was Marcuse endlich zur Verwirklichung drängen will, und das Pathos von Sinnlichkeit und Fantasie, das Marcuses spätem Werk einen oft süßlichen Einschlag verleiht, lebt noch in den sublimsten Innervationen von Adornos vielberufener Negativität fort.

Dialektik des Glücks
Das Verbindende im Auseinanderstrebenden lässt sich vielleicht am besten am Begriff des Glücks aufzeigen, dem bei Adorno, besonders deutlich in den »Minima Moralia«, weit höhere Dignität als dem schal gewordenen Terminus der »Befreiung« zukommt und um dessen Rekonstruktion sich Marcuse in seiner 1938 entstandenen »Kritik des Hedonismus« bemüht hat. Im Gegensatz zur Emanzipationsrhetorik linker Bewegungen, die mittlerweile vollends tautologisch geworden ist, zielt der Begriff des Glücks auf das Unteilbare, indem er in Erinnerung ruft, dass menschliche Freiheit sich nicht in der »Befreiung« partikularer Gruppen oder in ihrer sozialen »Gleichstellung« erschöpft: Der Begriff des Glücks ist seinem Gehalt nach unvereinbar mit Sozialtechnologie. Wohl nicht zuletzt deshalb spielt er, wie jüngst Jan Gerber in Erinnerung gerufen hat (Bahamas 57/2009), in »linken« Diskussionen seit fast einem Jahrhundert kaum eine Rolle mehr. Als apolitisch und sentimental verfemt und den Sachwaltern kulturindustrieller Gefühlsertüchtigung überlassen, bleibt in ihm doch bewahrt, was im realen Geschichtsprozess von der bürgerlichen Revolution ebenso wie von der antibürgerlichen Revolte verraten worden ist: die Idee der freien Menschengesellschaft als verwirklichter Individualität. An der Dialektik des Glücksbegriffs entfaltet Marcuse konsequent die Aporien gesellschaftlicher Praxis. In Hegels Kritik am Eudämonismus, die im Namen der Allgemeinheit der Vernunft die Nichtigkeit des bloß partikularen Glücks proklamiert, sieht er negativ die Wahrheit ausgesprochen, dass Glück sich nur als Allgemeines verwirklichen lasse: »Was sich in Hegels Kritik des Eudämonismus anmeldet, ist die Einsicht in die geforderte Objektivität des Glücks. Wenn Glück nicht mehr ist als die unmittelbare Befriedigung des individuellen Interesses, dann enthält der Eudämonismus ein vernunftloses Prinzip, das die Menschen in den jeweils gegebenen Lebensformen festhält. Menschliches Glück sollte etwas anderes sein als die persönliche Zufriedenheit: es weist seinem eigenen Anspruch nach über die bloße Subjektivität hinaus.« (Marcuse 1965a, S. 129f.) Bereits der antike Hedonismus der Kyrenaiker ist für Marcuse Ausdruck einer Fetischisierung partikularer »Zufriedenheit«, die sich im Genuss des bloß Seienden erschöpft, ohne der unverwirklichten Möglichkeiten und damit der Negativität gesellschaftlicher Wirklichkeit gewahr zu werden. Indem die Realisierung aller partikularen Genüsse eingefordert wird, bleibt zugleich die schlechte Totalität, das gesellschaftliche Verhältnis, das die »Objektivität des Glücks« verhindert, unangetastet: »Dieser Hedonismus differenziert nicht nur nicht zwischen den einzelnen Lüsten, sondern auch nicht zwischen den Individuen, die sie genießen. So wie sie sind, sollen sie sich befriedigen, und so wie die Welt ist, soll sie zum Gegenstand möglichen Genusses werden.« (ebd., S. 131) Die Fetischisierung des einzelnen Genusses liquidiert mit der Intention aufs Allgemeine zugleich die emphatische Individualität des Glücks. Es erscheint als bloße Addition der partikularen Genüsse und verliert sein qualitatives Moment, seinen notwendigen Bezug auf die unvergleichbare Erfahrung.
Zugleich jedoch zielt der Allgemeinheitsanspruch, den Hegel gegen den bloß partikularen Genuss ins Feld führt, selbst auf nichts anderes als auf die Verwirklichung des je individuellen Glücks. Gerade der vermeintlich vorpolitische Charakter des Glücksbegriffs hält fest, dass Glück keine bloße Sache von Verteilungsgerechtigkeit ist und dem Begriff des Sozialen, wie die moderne Gesellschaftstheorie ihn entwickelt hat, im Grunde inkommensurabel bleibt. Sein revolutionärer Gehalt ist nicht abzutrennen von diesem »privaten« Moment. Glück ist nur als individuelles denkbar, und eben dies hält der Hedonismus gegen die Abstraktheit der Hegelschen Eudämonismuskritik fest: »Der Hedonismus ist unbrauchbar zur Ideologie, und er lässt sich in keiner Weise zur Rechtfertigung einer Ordnung verwenden, die mit der Unterdrückung der Freiheit und mit der Opferung des Individuums verbunden ist. Dazu muss er erst moralisch verinnerlicht und utilitaristisch umgedeutet werden. Der Hedonismus verweist alle Individuen gleichermaßen auf das Glück; er hypostasiert keine Allgemeinheit, in der ohne Rücksicht auf die einzelnen das Glück aufgehoben sei.« (ebd., S. 135) Eine solche utilitaristische Umdeutung des Hedonismus sieht Marcuse bereits im Epikureismus am Werke, der eine Auswahl der Genüsse nach Maßgabe von Weisheit und Vernunft predige und so »die Angst vor der Unsicherheit und Schlechtigkeit der Lebensverhältnisse, die unüberwindliche Beschränktheit des Genusses« verinnerliche: »Es ist ein negativer Hedonismus: sein Prinzip ist eher die zu vermeidende Unlust als die zu erstrebende Lust. Die Wahrheit, an der die Lust gemessen werden soll, ist nur das Ausweichen vor dem Konflikt mit der bestehenden Ordnung« (ebd., S. 138).
Beide Gestalten des Hedonismus verfangen sich somit in den notwendigen Widersprüchen ihres eigenen Begriffs. Die erste hypostasiert die partikularen Genüsse gegenüber dem unverwirklichten Anspruch auf Allgemeinheit, der sich im Begriff des Glücks anmeldet, und affirmiert blind das je Bestehende; die zweite misst jeden Genuss von vornherein an einer ihm äußerlichen Norm und lässt Genuss nur noch um den Preis der Verinnerlichung des Verzichts zu. In der Dialektik des Glücks, wie Marcuse sie umreißt, sind so zwei Grundmotive Kritischer Theorie festgehalten: die Kritik am falschen Genuss, die Marcuse später in der Rede von der »repressiven Entsublimierung« fortschreiben sollte und die ihren wohl authentischsten Ausdruck in Adornos und Horkheimers Kritik der Kulturindustrie gefunden hat; und die Ablehnung jeglicher Logik des Opfers, wie sie in der »Dialektik der Aufklärung« anhand der Urgeschichte bürgerlicher Subjektivität entfaltet wird.

Kritik der Verinnerlichung
In der Widersprüchlichkeit des Glücksbegriffs sind die Aporien gesellschaftlicher Praxis, die sich im vermeintlichen Gegensatz zwischen dem resignativen Habitus Adornos und dem Aktivismus des späten Marcuse artikulieren, bereits angelegt. Keine wie immer auch vorläufige Idee richtiger Praxis kann die Bedürfnisse der konkreten Individuen umgehen, um deren Freiheit es ihr schließlich zu tun ist. Keine Vorstellung richtiger Praxis kann aber auch die Tatsache leugnen, dass das Streben nach Befriedigung individueller Bedürfnisse sich im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Sozialtechnologie und Elendsverwaltung erschöpfen muss, solange das Wirkliche nicht am Möglichen gemessen und mit der Erkenntnis der eigenen Negativität konfrontiert wird. Derselbe Wunsch, den Allgemeinheitsanspruch des Glücks im Hier und Jetzt einzulösen, kann so paradoxerweise zu völlig gegensätzlichen Auffassungen gesellschaftlicher Praxis führen: Entweder mündet das Festhalten an der Möglichkeit besseren Lebens, wie es sich im Begriff des Glücks kristallisiert, in eine alle möglichen »sozialen Bewegungen« fetischisierende Praxis, oder es artikuliert sich angesichts des ungemilderten Bewusstseins falscher Totalität nur mehr negativ, im Verwerfen des aktuell Möglichen angesichts des Wissens um seine Begrenztheit. Um diesen Widerspruch kreisen zahlreiche Aphorismen aus den »Minima Moralia«, nicht zuletzt das Stück »Kind mit dem Bade«, wo die Gleichsetzung von Kultur mit Ideologie als Sphäre des bloß Ideellen angegriffen wird: »Mit der Logik der Konsequenz (…) könnte daher die Kulturkritik fordern, dass die Verhältnisse durchaus auf ihren materiellen Ursprung reduziert, rücksichtslos und unverhüllt nach der Interessenlage der Beteiligten gestaltet werden müssten. Ist doch der Sinn nicht unabhängig von der Genese, und leicht lässt an allem, was über das Materielle sich legt oder es vermittelt, die Spur von Unaufrichtigkeit, Sentimentalität, ja gerade das verkappte und doppelt giftige Interesse sich finden. Wollte man aber radikal danach handeln, so würde man mit dem Unwahren auch alles Wahre ausrotten, alles was wie immer ohnmächtig dem Umkreis der universellen Praxis sich zu entheben trachtet, alle schimärische Vorwegnahme des edleren Zustands, und würde unmittelbar zur Barbarei übergehen, die man als vermittelte der Kultur vorwirft.« (Adorno 1951, S. 48)
Adornos Aphorismus lässt sich lesen als antizipierende Kritik jenes Drängens nach unmittelbarer Praxis, das den späten Marcuse für die Protagonisten der Protestbewegung attraktiv gemacht hat: Die Verwerfung der kulturellen Sphäre als bloßem Abdruck von Ideologie droht in Propaganda für eine Praxis umzuschlagen, die im Namen der unmittelbar zu realisierenden Freiheit auch mit allem Zögern, aller Skepsis und Reflexion, mithin mit jener »Vermittlung« Schluss machen möchte, die man als Rationalisierung von Barbarei der Kultur vorwirft und die zugleich doch Voraussetzung aller menschlichen Freiheit bleibt. In Parolen wie »Alles für alle«, die auf Sympathisches zielen, in ihrem drängenden Appellcharakter jedoch immer auch als Aufruf zu antikapitalistischer Landnahme verstanden werden können, klingt diese Problematik nach.
Während Adorno und Horkheimer versucht haben, den ideologischen Charakter von Kultur als falschem Schein zu kritisieren, ohne den überschießenden Gehalt des Begriffs preiszugeben, der in dem besteht, worin Kultur sich »dem Umkreis der universellen Praxis« entzieht, hat Marcuse in dieser Praxis selbst nach Elementen gesucht, die jenen »edleren Zustand« vorwegnehmen, dessen Antizipation Adorno nur mehr in der Sphäre der Kunst auszumachen vermochte. In diesem Sinn übt Marcuse bereits in seinem 1937 veröffentlichten Essay »Über den affirmativen Charakter der Kultur« nicht etwa, wie der Titel nahelegen könnte, Kritik an der negativen Aufhebung des Gegensatzes von Kunst und Lebenspraxis durch die Elaborate der Kulturindustrie, sondern an der bürgerlichen Erbauungskultur mit ihrer Ideologie der Verinnerlichung und Beseelung, die den Begriff des Glücks zugleich festhalte und korrumpiere: »Das abstrakte Individuum, welches mit dem Beginn der bürgerlichen Epoche als Subjekt der Praxis auftritt, wird (…) zum Träger einer neuen Glücksforderung. Nicht mehr als Vertreter oder Delegat höherer Allgemeinheiten, sondern als je einzelnes Individuum soll es nun die Besorgung seines Daseins, die Erfüllung seiner Bedürfnisse selbst in die Hand nehmen.« (Marcuse 1965a, S. 64f.) Da die bürgerliche Gesellschaft jedoch bei der »abstrakten Gleichheit« stehen bleibe und die Verwirklichung der Glücksforderung, als dessen Träger das bürgerliche Individuum auftritt, zugleich verhindere, müsse diese »als Ideal hypostasiert« werden: »Auf die Not des isolierten Individuums« antworte die affirmative Kultur »mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit« (ebd., S. 66). Dieser Gedanke von der Kultur als Verinnerlichung von Unfreiheit qua Sublimierung ungestillter Triebbedürfnisse zum »Ideal« lebt in »Trieb­struktur und Gesellschaft« fort in der Kritik an der Verengung des »Realitätsprinzips« zum »Leistungsprinzip« als »Rationalisierung für die Unterdrückung« (Marcuse 1995, S. 22). Ihr begegnet Marcuse, in kritischer Fortführung von Freuds Triebtheorie, mit der Feststellung, dass »Kulturarbeit an sich zum großen Teil die soziale Nutzbarmachung aggressiver Impulse und damit Arbeit im Dienst des Eros« und »die Triebtheorie von ihrer ausschließ­lichen Orientierung am Leistungsprinzip« zu befreien sei (ebd., S. 85). Der Begriff der »Kulturarbeit« – später spricht Marcuse in Anlehnung an Schiller von der »Umwandlung von Arbeit in Spiel« (ebd., S. 171ff.) – zielt auf eine Form von Arbeit, in der das Leistungsprinzip suspendiert wäre, die als »soziale Nutzbarmachung aggressiver Impulse« aber auch unmittelbar den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen soll. Der bürgerlichen Kultur der Verinnerlichung wird eine Kultur des Spiels entgegengesetzt, in der der Gegensatz von Kunst und Lebenspraxis aufgehoben wäre.

Kultur und Praxis
In dieser Hoffnung auf eine dem Feld gesellschaftlicher Praxis selbst abzugewinnende Aufhebung des Gegensatzes von Kunst und Lebens­praxis in einer neuen, gleichsam postbürgerlichen »Kultur« unterscheidet sich Marcuse nun allerdings doch flagrant von Horkheimer und Adorno, die eine solche Aufhebung angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Konstellation nur mehr negativ, als entfesselte Barbarei, zu denken vermochten. Marcuse dagegen postuliert noch 1965 eine anstehende »Neubestimmung der Kultur«, welche »die Welt der nichtwissenschaftlichen Kultur« – die »vieldimensionale Welt« von Literatur, Kunst und Musik – gegen die Eindimensionalität und den »erschreckenden Absolutismus« des behavioristischen und positivistischen Wissenschafts­ideals im Namen einer »Humanisierung der Erde« ins Feld führt (Marcuse 165b, S. 168ff.). Der lebensreformerische Tonfall, der hier anklingt, ist bereits in »Triebstruktur und Gesellschaft« mit Marcuses positiven Bezugnahmen auf Schillers Idee des ästhetischen Staats präsent und verstärkt sich noch in der Technik- und Institutionenkritik von »Der eindimensionale Mensch«. Er soll mit den Mitteln der Rhetorik einen Zustand evozieren, in dem die ersehnte Versöhnung von Individuellem und Allgemeinem, wie sie im Begriff des Glücks festgehalten ist, den Menschen gleichsam von sich aus, aus ihrer unmittelbaren Alltagspraxis, zufällt und der bei Adorno nicht umsonst stets nur vermittelt, als Reminiszenz an frühkindliche Erfahrungen oder, wie im bekannten Aphorismus »Sur l’eau«, als melancholisches Denkbild präsent ist. Indem er die Hoffnung auf Glück und sinnliche Erfüllung der Sphäre theoretischer Reflexion und ästhetischer Imagination zu entreißen und zum Teil der Alltagserfahrung zu machen sucht, suggeriert Marcuse, was letztlich schon der problematische Begriff der »Eindimensionalität« selbst impliziert und in Adornos zu Tode gerittener Formel vom richtigen Leben im falschen gerade dementiert wird: dass die Erneuerung der Kultur im Grunde nur davon abhänge, ob es den Menschen gelingt, die von der Gesellschaft zwar korrumpierten, in ihrem Kern jedoch unzerstörten, vielfältigen »Dimensionen« ihrer Sinnlichkeit zu revitalisieren.
Noch dieser Vitalismus ist aber nicht einfach nur krude Ideologie, sondern verdankt sich dem drängenden Bewusstsein, dass das Glück nicht vertagt werden kann, sondern den Menschen endlich im Hier und Jetzt als zwanglose Erfüllung zufallen müsste. Dass einige von Marcuses Adepten daraus ein Alibi für öden Kommunitarismus, Umwelt- und Heimatschutz und andere vermeintlich linke Entsagungsübungen gemacht haben, ist ihm nicht anzulasten. Vielmehr müssten seine Nachbeter sich schämen, dass auch sie verraten haben, wozu er sie ermuntern wollte.

Literatur:
Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt/M. 1965 (1965a)
Ders.: Kultur und Gesellschaft II. Frankfurt/M. 1965 (1965b)
Ders.: Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995
Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Frankfurt/M. 1951