Zum 30. Todestag von Herbert Marcuse

Im Zweifel für das Individuum

Vor 30 Jahren verstarb Herbert Marcuse. Sein Denken ist der Kritischen Theorie näher, als vielen seiner Bewunderer lieb ist.

Mit der Geschichte hat es eine besondere Bewandtnis: Sie existiert im Realen nur als Fik­tion. Die beständige Gegenwart kennt Geschichte nur als Story, sie muss ihre Geschichtlichkeit zugleich leugnen und herbeireden. Die Geschichte als Geschichtsschreibung findet ihre Relevanz nur im Vergleich mit den Tatsachen der Wirklichkeit, wobei jeder beschriebene Unterschied nur die Bestätigung des immer Selben ist. So ist es möglich, das Denken Herbert Marcuses zu historisieren, das heißt, an die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Entstehung zurückzubinden, oder ihm die eigene Geschichtlichkeit auszutreiben und im Diesseits seine Aktualität bzw. sein Veralten zu behaupten. Beides wird Marcuse, wird der Kritischen Theorie nicht gerecht, weil deren Ausgangspunkt der Widerspruch zwischen dem Vergehen der Zeit, das als Geschichte niedergeschrieben wird, und dem geschichtslosen Prozessieren des Tauschprinzips ist. Kritische Theorie leugnet weder das geschichtliche Gewordensein der Gegenwart und ihrer Subjekte noch deren Irrelevanz für die Aufrechterhaltung von Verhältnissen, die subjektlos erscheinen.
Vielmehr besteht die Kritik Kritischer Theorie genau in jenem Affront gegen den Verrat an der eigenen Geschichtlichkeit, den die historischen Subjekte Tag für Tag begehen. Herbert Marcuses Version der Kritischen Theorie beschäftigt sich emphatisch mit der Frage, wa­rum die Subjekte ihre Erfahrungen nicht begreifen und keine diesen Erfahrungen entsprechenden Konsequenzen ziehen können oder wollen. Obwohl Marcuse als radikaler gilt, weil er sich an die Seite der Protestbewegungen der sechziger Jahre stellte, und also als politischer und anteilnehmender als die praxisresistenten »Westend-Philosophen« (1) vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, hat seine Suche nach immer neuen Subjekten der Veränderung nichtsdestotrotz dieselben Ursprünge wie der vermeintliche Defaitismus seiner Weggefährten und ist diesem letztlich enger verwandt als dem aufs Mitmachen schielenden Verbalradikalismus der Neuen Linken.

Große Weigerung und Glückliches Bewusstsein
Jene gab vor, Marcuses Wendung von der »Großen Weigerung« aufzunehmen, die dieser in seinem 1955 in den USA erschienenen Werk »Trieb­struktur und Gesellschaft« so erklärt hatte: Sie sei »der Protest gegen unnötige Unterdrückung, der Kampf um die höchste Form der Freiheit, ›ohne Angst zu leben‹ (Theodor W. ­Adorno). Aber nur in der Sprache der Kunst konnte diese Idee ungestraft geäußert werden.« (2) Die Achtundsechziger wollten, dass sich die Weigerung in der politischen Sphäre beweise; sie sollte nicht mehr länger nur die »Verweisung realer Möglichkeiten ins Niemandsland der Utopie« sein, die nach Marcuse »selbst ein wesentliches Moment der Ideologie des Leistungsprinzips« ist (3), und nicht mehr länger nur der Kunst überlassen bleiben. Marcuse jedoch war es um die Rehabilitation der Fantasie zu tun, deren »Wahrheitswert« er nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft bezogen wissen wollte, weil »die Formen der Freiheit und des Glücks, die sie aufruft, (…) den Anspruch (erheben), historische Wirklichkeit zu werden«. (4)
»Triebstruktur und Gesellschaft« zerfällt in zwei Teile, von denen der erste noch das Programm der Kritischen Theorie einzulösen versucht, die Freudsche Psychoanalyse tatsächlich zu integrieren und nicht zur psychologischen Abteilung eines übergeordneten Theoriegebäudes zu reduzieren, und der zweite, im Versuch darüber hinauszugehen, in der Übertretung des Bilderverbots über die befreite Gesellschaft endet. Hier kündigt sich an, was Marcuse 1964 in »Der eindimensionale Mensch« der Kritischen Theorie dann explizit vorwirft: ihre »Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen«. (5) Implizit war es ihm schon immer genau darum gegangen, solche Tendenzen namhaft zu machen, wie seine Beiträge in der Zeitschrift für Sozialforschung zwischen 1934 und 1941 zeigen. Diese Linie in Marcuses Denken kann hier nachvollzogen werden, am deutlichsten wird sie in dem Beitrag »Philosophie und kritische Theorie« von 1937, wo er den Nexus von der Denkbarkeit der »Befreiung der Menschheit« und der »Degradierung der Fantasie« schon beschreibt: »Die Freiheit der Einbildung verschwindet in dem Maße, wie die wirkliche Freiheit zur realen Möglichkeit gemacht wird.« (6) Allerdings sieht er noch die Einschränkungen, die die Befreiung des Individuums zu seiner »Natur« mit sich brächten. So schreibt er 1941, in seinem letzten Aufsatz für die Zeitschrift für Sozialforschung über »Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie«: »Wenn die menschlichen Verhältnisse tatsächlich menschliche sind, wenn sie befreit werden von allen fremden Maßstäben, auch dann noch werden sie durchdrungen sein von der Trauer über ihren je einzelnen Gehalt. Sie sind vergänglich und unwiederholbar, und ihr vergänglicher Charakter wird deutlicher hervortreten, wenn die Sorge für das menschliche Wesen nicht länger vermischt ist mit der Angst um seine materielle Existenz und überschattet vom Schrecken der Armut, des Hungers und der gesellschaftlichen Isolation.« (7)
Die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft in dieser Form führt Marcuse in den sechziger Jahren dazu, die Subjekte als Opfer von Manipulation zu sehen. Die Abstraktheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die keine persönliche Zuordnung von Schuld mehr zuließen, schaffe ein »Glückliches Bewusstsein« (8), das, von den Widersprüchen der bürgerlichen Existenz befreit, rein positiv funktioniere. »Offenbar hat das Schuldgefühl im Reich des Glücklichen Bewusstseins keine Stätte, und der Kalkül nimmt sich des Gewissens an. Wenn das Ganze auf dem Spiel steht, dann gibt es kein Verbrechen mehr, außer dem, das Ganze abzulehnen oder nicht zu verteidigen. Freud deckte in der Psyche des Individuums die Verbrechen der Menschheit auf, in der individuellen Krankengeschichte die Geschichte des Ganzen. Dieses unheilvolle Bindeglied wird erfolgreich unterdrückt.« (9)
Diese Hypothesen laden zur politischen Verplattung ein: Das Individuum stehe mit seinen eigentlichen, natürlichen Bedürfnissen und Zielen gegen eine verwaltete Gesellschaft, die jede Individualität unterdrückt und ausgeschaltet wissen will; das Wissen um die Unterdrückung müsse selbst unterdrückt werden; insofern seien es in den modernen Gesellschaften die unmittelbaren Bedürfnisse, die Triebe, die befreit werden müssen, was vor allem für die Sexualität gelte; in der Konsequenz sei jede und jeder ein revolutionäres Subjekt und individuelle Befreiung werde hier und heute möglich, sei sogar Voraussetzung, um für die gesellschaftliche Befreiung kämpfen zu können. So wird die Große Weigerung letztlich ihres negativen Gehalts beraubt und ihr ein Ziel eingeimpft – eine existentialistische Entscheidung zum Guten: Marcuse, der bei Heidegger studierte und sich zeitlebens mit dem Existentialismus befasste, lobt 1965 Jean Paul Sartre für das blutrünstige Vorwort zu Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde«, weil Sartre damit das »Versprechen einer ›Moral der Befreiung‹ eingelöst« habe. (10)
Die Beschäftigung mit Marcuse sollte sich jedoch nicht damit zufriedengeben, die in dessen Werk angelegten Möglichkeiten zur Reduktion auf Parolen aufzuzählen. Erstens lässt sich mit jedem Intellektuellen des 20. Jahrhunderts so verfahren; zweitens verstellt ein solches Herangehen den Blick für jene Aporien, die nicht allein den Grenzen des Denkens der Person Marcuses oder dessen Zeit zuzurechnen sind, aber reflektieren, was das Denken allein objektiv nicht einlösen kann. Im Wissen darum widmen sich Max Horkheimer und Theodor W. ­Adorno der Kritik, wo Marcuse nach Elementen der Praxis sucht – die Gemeinsamkeit liegt in dem beständigen Versuch, die Grenzen des Denkens an seinen Aporien entlang zu erweitern. Marcuse geht dennoch nicht in der Affirmation der Bewegungen der sechziger Jahre auf: Noch heute ist »Der eindimensionale Mensch« die grundlegende Kritik des systemtheoretischen Denkens der Kybernetik, der vorherrschenden Wissenschaftsmode, die Tautologien als Resultate verkauft.

Eros und Thanatos
Die Befassung mit »Triebstruktur und Gesellschaft« bleibt eine Aufgabe der Kritischen Theorie, so sie nicht Abschied nehmen will von der Psychoanalyse Sigmund Freuds und dessen Kulturkritik, sondern sie im besten Sinne des Wortes von Karl R. Popper als »Pseudowissenschaft« begreift – eben in Abgrenzung zum herrschenden Wissenschaftsbegriff. Marcuse wusste, dass Freuds Hypothese vom archaischen Erbe nicht »durch irgendwelche anthropologischen Zeugnisse belegt« werden kann. (11) Sie gewinnt ihren Wahrheitsgehalt, indem sie »die historische Dialektik der Herrschaft in einer Reihenfolge von katastrophalen Ereignissen zusammenfassend überblickt und dadurch bislang ungeklärte Aspekte der Kultur erhellt«. (12) Die Urhorde und der Vatermord mit der ihm folgenden Bruderherrschaft sind nicht historisch zu belegen, aber dieses von Freud als phylogenetisch bezeichnete Erbe spiegelt sich in der Entwicklung sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft wider. Marcuse zeigt, dass für Freuds Hypothese die Annahme zentral ist, dass es keinen herrschaftsfreien Urzustand gegeben hat – wie etwa Friedrich Engels annahm –, sondern »in der Entwicklung der Kultur (…) Freiheit nur als Befreiung möglich« wird. (13) »Die Freiheit folgt der Beherrschung und führt zu ihrer Wiederaufrichtung«, referiert Marcuse den Freudschen Gedankengang (14), aber die Beherrschungsmethoden werden immer differenzierter. In der Emanzipation von den Naturnotwendigkeiten, fügt Marcuse hinzu, wird der Mensch aber zum gesellschaftlichen Wesen und die Herrschaft kann sich nicht mehr über die Auseinandersetzung mit der Natur rechtfertigen. In dem Maße, wie der Mensch ein gesellschaftliches Wesen wird, sind auch die Triebe und ihre Abkömmlinge einer historischen Veränderung unterworfen; überhaupt gewinnt die individuelle Biografie erst von da an ihre Bedeutung, als von menschlicher Geschichte die Rede sein kann.
Die Triebunterdrückung zum Zwecke der Aufrichtung der Kultur ist nicht mehr, wie noch bei Freud, ein mit jedem Individuum von Neuem zu beginnender Prozess, sondern die Triebe selbst sind historisch, und die Entwicklung des Individuums ist es ebenfalls. Marcuse folgt Freud im Gegensatz zu anderen Protagonisten der Kritischen Theorie auch in der Annahme der Triebdualität: War es bei Freud zunächst nur die Libido, der Lebenstrieb, der in durchaus widersprüchlichen Wendungen, aber als eine Energiequelle des menschlichen Körpers auf Befriedigung und Vermeidung von Unlust gerichtet ist, so stellt er unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs der Libido den Todestrieb an die Seite. Allerdings historisiert Marcuse auch diese Trennung im Zusammenhang mit der Aufrichtung der Kultur: »Vielleicht war das Inzesttabu der erste große Schutz gegen den Todestrieb: das Tabu auf das Nirwana, auf den regressiven Impuls nach Frieden, der dem Fortschritt, dem Leben selbst, im Wege stand. Mutter und Gattin wurden getrennt und so die tödliche Identität von Eros und Thanatos gelöst.« (15)
In einem wesentlichen Punkt folgt Marcuse Freud jedoch nicht – in der Notwendigkeit des repressiven, triebunterdrückenden Charakters der Kultur. Auch diese sieht Marcuse historisch begrenzt. »Aber je näher die reale Möglichkeit rückt, den Einzelnen von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten Einschränkungen zu befreien, desto mehr steigert sich die Notwendigkeit, diese Einschränkungen aufrechtzuerhalten und immer funktionstüchtiger zu gestalten, damit sich die bestehende Ordnung nicht auflöst. Die Zivilisation muss sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte. (…) Diesmal darf es keinen Mord am Vater geben – nicht einmal einen symbolischen –, weil er unter Umständen keinen Nachfolger finden würde.« (16) Freud hingegen rechtfertigt die repressive Funktion der Zivilisation mit dem unverändert archaischen Erbe, welches er in jedem Menschen schlummern sieht; eine Befreiung der Triebe ist ihm nicht vorstellbar, vielmehr sollten sie sublimiert, wörtlich übersetzt: in etwas Erhabenes verwandelt werden. In den sechziger Jahren spricht Marcuse von der »repressiven Entsublimierung« (17), weil er zu der Auffassung kommt, dass in der Massenkultur eine Sublimierung überflüssig wird, weil der Konsum die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ermöglicht – auch wenn diese Bedürfnisse ihrerseits historisch überformt sind und nur noch bruchstückhaft das Glück der Befriedigung verheißen, auf welche das Individuum aus ist.
Schließlich wagt Marcuse in »Triebstruktur und Gesellschaft« die These, dass, wenn »das Ziel des Todestriebs nicht die Beendigung des Lebens, sondern das Ende des Leides – das Fehlen von Spannung – (ist,) dann ist, paradoxerweise, im Sinne des Triebes der Konflikt zwischen Leben und Tod umso geringer, je mehr sich das Leben dem Zustand von Befriedigung nähert«. (18) Die Vorstellung, dass Befreiung mit Befriedigung und Entspannung einhergehen sollte, ist in der Tat problematisch, erklärt aber Marcuses Attraktivität für die Studentenbewegung. Hier wird Befreiung letztlich zur Erfüllung einer regressiven Sehnsucht, nicht zum von Karl Marx geforderten Austritt der Menschheit aus ihrer Vorgeschichte, nach dem Entwicklung und Geschichte überhaupt erst ihren Namen verdienen, im Sinne einer Entfesselung ihres produktiven Potentials.
Dennoch ist hier jene Aporie angesprochen, deren Beantwortung objektiv verstellt ist. Marcuse hat versucht, das Bilderverbot zu überschreiten, indem er dem historischen »Traum von einer Sache« (Marx) wieder zu seinem Recht verhelfen wollte. Aber schließlich weiß auch er, dass »selbst der endliche Anbruch der Freiheit (…) diejenigen nicht mehr erlösen (kann), die unter Schmerzen gestorben sind. Die Erinnerung an sie und die aufgehäufte Schuld der Menschheit gegenüber ihren Opfern verdunkeln die Aussichten einer Kultur ohne Unterdrückung.« (19) Es bleibt die Frage, ob eine nicht in die vor- oder antizivilisatorische Barbarei führende »positive Entgrenzung des Individuums«, für die Clemens Nachtmann jüngst plädierte, außerhalb der Kunst möglich ist. (20) Von ihrer Beantwortung hängt ab, ob Befreiung in jener Emphase, wie Marcuse sie ein bisschen zu häufig verwendet, als kritischer Begriff noch brauchbar ist. Die heutige Wirklichkeit scheint Marcuses Gedanken negativ zu bestätigen und damit auch Freuds Kulturpessimismus: Der Konflikt zwischen Leben und Tod verschärft sich im Sinne des Todestriebes in dem Maße, wie der Tod die einzige Möglichkeit zur Beendigung von Leiden wird.

Literatur:
Marcuse, Herbert (1937): Philosophie und kritische Theorie, in: Ders., Schriften Bd. 3, Springe 2004, S. 227–249
Marcuse, Herbert (1941): Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie, a.a.O., S. 286–319
Marcuse, Herbert (1948/1965): Existentialismus. Bemerkungen zu Jean Paul Sartres »L’Être et le Néant«, in: Schriften Bd. 8, S. 7–40
Marcuse, Herbert (1955): Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Schriften Bd. 5
Marcuse Herbert (1964): Der eindimensionale Mensch, Schriften Bd. 7
Nachtmann, Clemens: Die Attraktivität der Barbarei. Plädoyer für eine positive Entgrenzung des Individuums, in: »Bahamas« Nr. 57/2009, S. 18–25

Anmerkungen:
(1) Georg Fülberth, »Jungle World« 49/1997
(2) Marcuse 1955, S. 131
(3) ebd.
(4) a.a.O., S. 130
(5) Marcuse 1964, S. 265, Hervorhebung im Original
(6) Marcuse 1937, S. 245
(7) Marcuse 1941, S. 318
(8) Marcuse 1964, S. 95
(9) a.a.O., S. 102
(10) Marcuse 1948/1965, S. 40
(11) Marcuse 1955, S. 58
(12) ebd.
(13) a.a.O., S. 62, Hervorhebung im Original
(14) ebd.
(15) a.a.O., S. 70
(16) a.a.O., S. 84
(17) Marcuse 1964, S. 76 ff.
(18) Marcuse 1955, S. 200
(19) a.a.O., S. 202
(20) Vgl. »Bahamas« Nr. 57/2009, S. 18 ff.