Die Behindertenrechtskonvention der UN

All inclusive auf Deutsch

Bereits im Dezember 2006 wurde die UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Im November 2008 ratifizierte der Deutsche Bundestag das Abkommen, seit dem 26. März 2009 ist es für Deutschland verbindlich. In der deutschen Übersetzung wurde der Originaltext allerdings entschärft, und auch ansonsten scheint es so, als scheue man in Deutschland dessen Konsequenzen – vor allem in der Bildungspolitik.

Die Antwort aus dem sozialdemokratisch geführ­ten Bundesministerium für Arbeit und Soziales fiel knapp aus, war aber bemerkenswert. Auf die Frage des grünen Abgeordneten Markus Kurth, wie denn die Protokollnotiz des Bundeskabinetts hin­sichtlich des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen laute, erfuhr er: »Kabinettprotokolle sind vertraulich. Das Kabinett hat … auch beschlossen, dass die der­zei­tige deutsche Rechtslage den Anforderungen des Übereinkommens entspricht.« Damit ist die Rich­tung vorgezeichnet, die die Bundesrepublik Deutsch­land offenbar im Umgang mit dem UN-Übereinkommen verfolgen will. Die von Gruppen und Menschen aus der Behindertenbewegung hart erkämpfte Antidiskriminierungskonvention soll einen Ehrenplatz in der Galerie der bedeutenden Menschenrechtsabkommen finden und dabei – zumindest in Deutschland – möglichst wenig Neu­es in Bewegung bringen: Warum auch etwas verändern in der deutschen Behindertenpolitik, wenn viele bundesdeutsche Politikerinnen und Politiker sie auch so schon für höchst erfolgreich halten?
Die Vorarbeiten dafür, die Konvention der Rechte zu entschärfen und sie von einem Programm, das Rechte garantieren soll, zu einer Deklaration, die schöne Formulierungen bereit hält, zu machen, sind bereits geleistet. In der amtlichen deut­schen Übersetzung des ursprünglich englischen Textes sind einige wichtige Passagen so übersetzt, dass sie ihre politische Brisanz eingebüßt haben.
Zum Beispiel Artikel 3: Die englischsprachige Fas­sung benennt als ein grundlegendes Prinzip des Übereinkommens »Full and effective participation and inclusion in society«. In der deutschen Übersetzung heißt es nun aber nicht etwa: »Umfassende und wirkungsvolle Teilhabe an der und Inklusion in die Gesellschaft«, stattdessen wird verlangt, die »volle und wirksame Teilhabe an der und Ein­beziehung in die Gesellschaft« zu gewährleisten.
Noch größer erscheint der Widerspruch zwischen englischsprachigem Original und deutscher Variation in Artikel 24, der das eminent wichtige Thema »Bildung« behandelt. Während in der englischen Originalfassung verlangt wird, ein »inclusive educational system« zu schaffen, ermöglicht der sprachliche deutsche Sonderweg auch ein »integratives Bildungssystem«. Dass aus »inclusion« in der deutschen Fassung bestenfalls »Einbeziehung«, gelegentlich aber auch »Integration« wird, ist kein sprachlicher Lapsus, sondern Ausdruck einer anderen Perspektive, aus der die of­fizielle deutsche Behindertenpolitik das Verhält­nis zwischen Mehrheitsgesellschaft und behinderter Minderheit gerne weiter betrachten möchte.

Integriert wird jemand, der nicht dazugehört. In­tegration verlangt von der Mehrheitskultur zwar eine gewisse Aufnahmebereitschaft, derjenige, der integriert werden soll, muss sich aber auch in erheblichem Maße anpassen. Die Norm wird von der Mehrheitsgruppe gesetzt, die auch Art und Tempo dieses Prozesses prägt. »Einbeziehung« ist zwar die wörtliche Übersetzung von »inclusion«, hat aber nicht dessen konzeptionellen Gehalt – und verlangt deswegen deutlich weniger. Das mittlerweile zum Fachbegriff erhobene Konzept der Inklusion geht dagegen anspruchsvoll davon aus, dass höchst unterschiedliche, prinzipiell aber stets gleichrangige Gruppen ein großes, inklusives Ganzes bilden, das sich durch allseitige Veränderung weiter entwickelt. Inklusion in diesem Sinne ist ein systemtheoretisches Konzept, das keine Normen und Hierarchien akzeptiert, sondern horizontale Verbindun­gen, die in steter Bewegung sind.
Dieses Konzept der Inklusion prägt die neue Menschenrechtskonvention durchgängig. Was dort auf der Ebene der Vereinten Nationen verhandelt und beschlossen wurde, ist eben kein karitativ an­gelegtes Vertragswerk, das für Behinderte einen sozialen, rechtlichen und ökonomischen Mindest­standard an Teilhabe sichert. Das Übereinkommen zielt vielmehr auf umfassende Veränderungen, die auch Auswirkungen auf die Mehrheitskultur haben werden. Der bildungspolitische Teil des Abkommens geht hier zwar nicht besonders ins Detail, zeigt aber gleichzeitig, wieso dieses Über­einkommen in der Behindertenbewegung, aber auch bei den großen Verbänden und Organisationen derzeit so hoch gehandelt wird: Es rich­tet sich nicht nur wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gegen Diskriminierung in eng umrissenen gesellschaftlichen Teilbereichen; es verlangt nicht nur wie Landes- und Bundesbehin­dertengleichstellungsgesetze ein Minimum an Barrierefreiheit als elementare Grundbedingung von Teilhabe überhaupt; es beschränkt sich nicht wie das Sozialgesetzbuch IX nur auf Behinderung als sozialrechtliches Problem, das durch Sozialleistungen im Rahmen des fiskalisch Machbaren ein bisschen Teilhabe sicherstellen will.

Bildungspolitik ist grundlegende Gesellschaftspo­litik, wer hier Ansprüche etablieren kann – und gerade das hat bislang kein einziges Schulgesetz der Länder sichergestellt –, hat damit eine feste Basis für das Leben insgesamt. Genau das stellt Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention sicher und legt damit einen Grundstein für die Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems. Und das in einem Land, in dem das dreigliedrige Schulsys­tem als Regel vehement verteidigt wird und wo hingegen kaum jemand bereit ist zuzugestehen, dass es neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium noch einen vierten Schulzweig gibt, dessen Absolventinnen und Absolventen noch schlechtere Chancen haben als Hauptschüler: die verschiedenen Sonderschulen.
Während ein »integratives Schulsystem« mit die­ser Teilung weiter leben kann, wenn es nur Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen gibt, auch in anderen Gliederungen als der Sonderschule zu reüssieren, erscheint ein inklusives viergliedriges Bildungssystem schwer vorstellbar, weil ein mehrgliedriges System von exklusiven Grundvorstellungen nicht nur ausgeht, sondern lebt.
Der sprachliche Trick, aus »Inklusion« in der Übersetzung »Integration« zu machen, hilft dabei dem etablierten System übrigens wenig: Im Rechtsstreit kann auf die verbindliche englischsprachige Version der Konvention zurückgegriffen werden – ein Vorgehen, das im Antidiskriminierungsrecht bald gang und gäbe ist, denn auch in anderen Gesetzeswerken hat der zur Umsetzung internationaler Regelungen verpflichtete deut­sche Gesetzgeber versucht, diese durch entschärfte Übersetzungen abzumildern. Gleichzeitig zeigt die Auseinandersetzung um die sprachliche Fassung, mit welchen Hindernissen bei der Umsetzung der Normen der Konvention in ge­sell­schaftliche Wirklichkeit zu rechnen ist: Gerade weil die Behindertenrechtskonvention so um­fas­send konzipiert ist, werden die jeweils zuständigen Gerichte sie kaum so weit auslegen, wie es wünschenswert und erforderlich wäre. Ein Gesetzestext alleine kann in Einzelfällen helfen, Ansprüche durchzusetzen. Gesellschaftliche Wirklichkeit kann er nur verändern, wenn eine starke gesellschaftliche Kraft seine Umsetzung betreibt.

Ob diese Kraft entfaltet werden kann, erscheint un­gewiss. Die harten Auseinandersetzungen um die Ratifizierung des Abkommens haben immerhin gezeigt, dass es eine relevante Lobby gibt, die das politische Potenzial der 50 Konventions-Artikel und der 18 Artikel des Fakultativprotokolls, das Individualbeschwerden wegen Verstößen gegen das Abkommen ermöglicht, ausschöpfen könnte. Dabei ist eindeutig, dass – auch weil die Behinder­tenrechtskonvention, anders als beispiels­weise das Benachteiligungsverbot des Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz, konkrete Punkte für Teilhabe und Inklusion benennt – eine Umsetzung der Grundprinzipien der Konvention die Verabschiedung kon­kreter neuer gesetzlicher Bestimmungen erfordert.
Reflektiert man, um eine Prognose für die neue Regelung abzugeben, die Erfahrungen mit Antidiskriminierungsregelungen und Gleichstellungsgesetzen für Behinderte in Deutschland, gibt das nicht gerade Anlass für Optimismus: Zwar konnten die jeweiligen gesetzlichen Regelungen durchgesetzt werden, es sind auch in allen Bereichen, insbesondere im Bereich der Barrierefreiheit im Internet, gewisse Fortschritte zu verzeichnen. An den besonders konfliktträchtigen Punkten allerdings – sei es die Möglichkeit, Menschen gegen ihren Willen aus Kostengründen in Heime zu zwingen (§ 13 SGB XII), sei es die Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr, insbesondere bei der Bahn, oder sei es die Sonderbeschulung Behinderter – haben Politik und Gerichte bislang stets Wege gefunden, auch gegen Inklusion, Einbeziehung, ja sogar Integration zu entscheiden. Und auch in arbeitsgerichtlichen Verfahren haben es erst wenige der vielen arbeits­suchenden und immer wieder abgewiesenen Behinderten geschafft, wenigstens Entschädigun­gen wegen ihrer Benachteiligung aufgrund ihrer Behinderung durchzusetzen.
Dass das UN-Menschenrechtsabkommen diesen Trend jetzt umkehren wird, ist angesichts der zunehmenden fiskalischen Orientierung der Behindertenpolitik, die in Zeiten der wirtschaftlichen Krise eher in eine Phase des Roll-Backs zu ge­raten scheint, nicht zu erwarten. Ein Gerichtsverfahren in Hamburg, bei dem auf Basis der Ansprüche in der Konvention versucht wird, die Abschiebung einer Behinderten ins Heim zu verhindern, und ein Prozess in Nordrhein-Westfalen, in dem unter Verweis auf Artikel 24 der Behinderten­rechts­konvention ein Anspruch auf gebärdensprach­li­chen Unterricht für einen gehörlosen Schüler durchgesetzt werden soll, bestätigen, dass die Kon­vention gute Anknüpfungspunkte bietet, aber nicht gerade als Selbstläufer funktioniert.
Andererseits haben die Behindertenverbände und die behindertenpolitischen Initiativen schon öfter einen langen Atem bewiesen, der hier sicher­lich helfen kann. Die Konvention bietet mit ihrer klaren Bezugnahme auf das Recht zur unabhängigen Lebensführung an selbst gewählten Orten, auf Mobilität und Achtung der Privatsphäre und der Familie immerhin etliche weitere Anknüpfungspunkte. Sie gibt gute Argumente vor, um in den absehbar kommenden Auseinandersetzungen um Selbstbestimmung und deren Voraussetzungen und Folgen den traditionell karitativen Pflegebegriff zu verändern und ein umfassendes, konkrete Ansprüche sicherstellendes Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen zu etablieren.