Menschen mit Behinderungen in Integrationsschulen

Bei den Fischen abgestellt

In Integrationsschulen werden Menschen mit Behinderungen als selbstverständlicher Bestandteil einer Gruppe behandelt. Wenn Mitschüler von der Lehrerin zum »Rollstuhl-Schiebe-Dienst« verpflichtet werden, geht aber irgendetwas schief.

Die ersten vier Jahre meiner Grundschulzeit waren schön, familiär und freundschaftlich. Wir waren nur 15 Kinder in der Klasse und kannten uns fast alle schon aus dem Integrationskindergarten. Weil der Kindergarten mit der Grundschule kooperierte, kannte uns auch unsere Lehrerin schon sehr lange. Am Anfang waren wir fünf Schüler mit Behinderung und zehn ohne. Nach der Schule sind wir immer zusammen in einen Schülerladen gegangen.
Aber nach vier bis fünf Jahren splitterte die Klasse langsam auseinander. Der Schülerladen hatte sich inzwischen aufgelöst, da sich immer mehr meiner Freunde abgemeldet hatten, weil sie sich zu alt für die Betreuung fühlten. Auch in der Schule spürte man die Veränderung. Wir waren nicht mehr so eng verbunden wie früher, und das wirkte sich natürlich auch auf die Struktur in der Klasse aus.
Mit der Zeit gab es immer mehr Streitigkeiten und Probleme. Immer öfter wurde der Sitzkreis nicht nur deshalb einberufen, um die Stunden zu planen oder die Wochenend-Erlebnisse auszutauschen, sondern um Probleme zu besprechen, die wir untereinander hatten. Oft ging es in diesem Sitzkreis um unseren Klassenkasper, aber leider auch immer häufiger um mich. Ich wurde zwar in meinem Rollstuhl von meinen Mitschülern noch aus dem Klassenraum geschoben, jedoch immer öfter an der Mauer mit der Fischbemalung abgestellt.
Eines Morgens wurden wie schon so oft alle Stühle zum Sitzkreis aufgestellt. Wir sahen drei Pappschilder, von denen wir zwei schon kannten: die Pläne für das Tafel- und Blumen-Amt. Hinter jedem Wochentag standen jeweils zwei Namen. Nun erklärte uns unsere Lehrerin das dritte Schild, auf dem in zierlicher Handschrift sämtliche Namen meiner Mitschüler aufgeführt waren. Die Liste trug die mit rotem Filzstift unterstrichene Überschrift: »Rollstuhl-Schiebe-Dienst«. Meine Mitschüler schauten größtenteils desinteressiert auf die Liste, und die Lehrerin sagte: »An diese Liste hat sich jeder zu halten. Oder wollt ihr wie Marie immer alleine auf dem Schulhof herumstehen?«
Verständlicherweise gingen meine Mitschüler davon aus, dass ich in die Pläne meiner Lehrerin eingeweiht war. Ich war aber genauso überrascht wie sie und fühlte mich ein bisschen wie ein Hund, den man Gassi führen muss. Die ersten zwei Wochen nach Beginn der »Re-Integrations-Kampagne« schoben mich meine Mitschüler noch gelangweilt einmal quer über den Schulhof. Sie waren aber merklich erleichtert, wenn sie mich wieder in der Klasse bei der pädagogischen Mitarbeiterin abstellen konnten.
Das Verrückte war, ich konnte und ich kann sie bis heute noch verstehen. Selbstverständlich hatten sie keine Lust, mich im Kreis über den Hof zu kutschieren, wenn sie ebenso gut über den Schulhof rennen, Fußball oder Gummi-Twist spielen konnten. Und so fragten sie mich, ob sie mich nicht an die Hofmauer stellen könnten, um mich nach der Pause wieder dort abzuholen. Ich stimmte zu und sicherte ihnen mein Schweigen und selbstverständlich auch meine Loyalität zu. »Du bist voll okay!« bekam ich dann stets zu hören, und das tat gut. Dann beobachtete ich traurig, wie sie davonrannten und sich austobten.
Ich war sehr froh, als die Grundschulzeit zu Ende ging, auch wenn sie in den ersten Jahren durchaus sehr viele schöne, wunderschöne Seiten hatte. Rückblickend habe ich mich zumindest zu Beginn in meiner Grundschule aufgehoben und integriert gefühlt. Das ist für mich auch das Tolle an Integrationsschulen, dass Menschen mit Behinderungen als selbstverständlicher Bestandteil einer Gruppe behandelt und nicht ausgegrenzt werden. Diese Erfahrung habe auch ich viele Jahre lang gemacht. Aber beruhend auf meiner Erfahrung denke ich, dass man bei all den Versuchen, Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen zu integrieren, aufpassen muss, dass man nicht zuviel redet und problematisiert, um dann am Ende in der Integration doch eine Ausgrenzung schafft, wie ich sie erlebt habe.
Marie Gronwald ist Redakteurin von »Mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen«. Im Westkreuz-Verlag Berlin-Bonn erschien kürzlich ihr Buch »Der schöne Schein des Lächelns«.