Steinmeier und sein »Deutschland-Plan«

Den Berlusconi machen

Seinem »Deutschland-Plan« zufolge will Frank-Walter Steinmeier alles zugleich: regulieren und deregulieren, Arbeitsplätze schaffen und die Sozialpartnerschaft wiederbeleben. Die Utopie vom demokratischen Sozialismus scheint trotz gegenteiliger Behauptungen der Vergangenheit anzugehören.

Ist das nicht ungerecht? Da hat man seit dem Crash bei Lehman Brothers vor elf Monaten täglich erlebt, wie viel Planwirtschaft im Kapitalismus steckt: konzertierte Aktionen von Bankenchefs, Staatsmännern und -frauen, vom Staat koordinierte »Rettungspakete« und eingerichtete Bad Banks und nicht zuletzt die hohen Schwüre der Politiker, die Finanzmärkte nie wieder derma­ßen unkontrolliert expandieren zu lassen. Aber kaum präsentiert Frank-Walter Steinmeier, der Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) für die kommende Bundestagswahl, sein Programm »Die Arbeit von mor­gen«, besser bekannt als »Deutschland-Plan«, da wird er schon verhöhnt: Das ist ja Regulierungs­wahn! Eine Omnipotenzfantasie! Mit einem Wort: Planwirtschaft!

Der Umkehrschluss verbietet sich. Nur weil Konservative, Liberale und der überwiegende Teil der Presse Planwirtschaft vermuten, heißt das noch lange nicht, dass irgendetwas von Belang in Steinmeiers Programm stünde. Tatsächlich ist der »Deutschland-Plan« eine Parodie auf die sozialdemokratischen Modelle der Gesellschaftsplanung der siebziger Jahre. Denn Steinmeier will, um die propagierten vier Millionen neuen Arbeits­plätze bis zum Jahr 2020 zu schaffen, alles auf einmal. Weil alles auf einmal gut ist für den »deut­schen Standort«.
Er will, dass Deutschland Exportweltmeister bleibt, gleichzeitig will er starke Binnenmärkte, was ein wieder steigendes Lohnniveau voraussetzte, was wiederum die Nationalökonomie in der internationalen Konkurrenz schlechter dastehen ließe. Er will einerseits neue »Beschäftigungsmo­toren« anwerfen und denkt da insbesondere an die »Gesundheits- und Kreativwirtschaft« und will andererseits eine Renaissance von »Nachhaltigkeit und Sozialpartnerschaft« einläuten. Vielleicht muss man noch mal darauf hinweisen, dass die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen zu den härtesten gehören und dass in der Kreativwirtschaft alles Mögliche unterwegs ist, bloß nichts, was auch nur im Entferntesten wie »Nachhaltigkeit und Sozialpartnerschaft« aussähe. Das hat seine Gründe. Denn diese Branchen haben deshalb das Potenzial zum Wachstum, weil die klassische rheinisch-kapitalistische Regulierung dort, sagen wir, unterkomplex ist.
Steinmeier will Regulation und Deregulation zu­gleich, und mit dieser Idee sollte er am besten direkt bei Hape Kerkeling anklopfen, denn der lässt seinen Horst Schlämmer bekanntlich auch als »liberal, konservativ und links« auftreten.

Was wir erleben, ist nichts Geringeres als die Ber­lusconisierung der SPD. Das klingt skurril, könn­te der Bürokrat Steinmeier doch gar nicht als unberechenbare Krawallschachtel auftreten, auch ist die Rhetorik des »Deutschland-Plans« be­tont seriös. Aber der Verzicht auf jede innere Stringenz, das hemmungslose Plagiieren anderer Programme (worüber sich die Grünen zu Recht aufgeregt haben), die Absichtslosigkeit (denn natürlich sind – ohne Krieg im großen Maßstab – vier Millionen Arbeitsplätze in den nächsten zehn Jahren nicht zu realisieren), das sind Merkmale, wie sie gerade auch Berlusconis Agenda auszeichnen.
Wie hat die SPD so enden können? Eine »Klassenpartei« ist sie ganz offiziell seit 50 Jahren, seit dem Godesberger Parteitag, nicht mehr, aber auch als »Volkspartei« bezog sie ihre Stärke, ihre Attraktivität aus einer großen Idee – der des demokratischen Sozialismus. Der steht immer noch in den Statuten, aber wer den »Deutschland-Plan« liest, weiß, dass es nicht mehr um die eine starke Idee geht, die für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen attraktiv gemacht wird, sondern dass einfach jedem nach dem Mund geredet wird.
Vielleicht ist das Steinmeiers einzige Chance. Denn der demokratische Sozialismus, dieser reale Rest an irrealer Utopie, der vier Jahrzehnte lang, bis zu Gerhard Schröders »Agenda 2010«, einen Vorsprung im parlamentarischen Wettbewerb um die moralische Hoheit garantierte, ist nach elf Jahren Regierungsbeteiligung wohl unwiderruflich dahin.
Eine von der Sozialdemokratie wesentlich geförderte paradoxe Entwicklung konnte man in diesen Jahren in Deutschland beobachten: Einerseits ist alles Mögliche dafür getan worden, um die Menschen möglichst schnell und lange dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, unter welchen Bedingungen auch immer. So wurde das Studium »verschlankt« und verkürzt, ein ganzer Arbeitsmarkt nur für so genannte Niedrigqualifizierte geschaffen, und demnächst wird die gymnasiale Schullaufbahn in allen Ländern um ein Jahr verkürzt. Das Rentenalter wurde auf 67 Jahre hochgesetzt, und die Pläne, noch zwei Jahre draufzusatteln, sind bereits in der Öffentlichkeit lanciert. Andererseits – wer wartet eigentlich auf die Massen, die nun Jahre früher in Beschäftigungsverhältnisse wollen müssen, um dort noch länger als ihre Vorgängergenerationen zu schuften?

Frank-Walter Steinmeiers Think Tank preist im »Deutschland-Plan« die Rationalisierungserfolge sozialdemokratischer Regierungspolitik. »Das ist das Geheimnis des Exportweltmeisters Deutsch­land. Wir sind Globalisierungsgewinner, weil sozialdemokratische Regierungen gemeinsam mit der Wirtschaft in Deutschland um die Modernisierung und den Erhalt der Industrie gekämpft haben. (…) Mit sichtbaren Folgen: Das deutsche Exportvolumen ist seit 2002 um die Hälfte gestiegen, in Großbritannien waren es nur acht Pro­zent, in Frankreich 15 Prozent.«
Zwar sind die Arbeitslosenzahlen von 2002 bis zur Wirtschaftskrise zurückgegangen, aber von einer strukturellen Trendwende hat keiner gespro­chen. Wenn also die Ausbildungsbereiche effektiviert und den Bedürfnissen des Marktes angepasst werden, die Arbeitsmärkte dereguliert und die sozialstaatlichen Maßnahmen eingeschränkt werden, ohne dass die Arbeitslosigkeit dauerhaft und signifikant sinkt – dann sind diese Maßnahmen entweder »gescheitert«, oder aber sie dienen nicht dem Zweck, den sie vorgeben.
Für Letztgenanntes spricht viel. Wird das Ge­drän­gel auf den Arbeitsmärkten größer, kann das nur bedeuten, dass die Löhne und Gehälter weiter unter Druck geraten. Jeder Arbeitsplatz wird kostbarer, denn die Zahl der Bewerber steigt. Dass Steinmeier gleich vier Millionen neue Arbeitsplätze schaffen will, klingt vor diesem Hintergrund wie eine Drohung. Er lobt die »hochproduktive Arbeit« als »Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolgs« und fordert im gleichen Atemzug »faire Löhne« – als hätten die Sozialdemokraten nicht in den vergangenen Jahren bewiesen, dass eine steigende Produktivität keineswegs steigende Löh­ne bedeuten muss.

Die »Modernisierung«, für die die SPD seit jeher steht und die sie in den Jahren unter Schröder und als Koalitionspartner unter Angela Merkel vor­angetrieben hat, hat gezeigt, dass jener Rest an Uto­pie verschwunden ist. Der Partei, die das größte Armutsprogramm in der Geschichte der BRD auf­gelegt hat, bleibt der Rückzug in die Gefilde der moralischen Überlegenheit verwehrt. So gesehen sind Steinmeier und sein Team ganz schön mutig, mit dem »Deutschland-Plan« präsentieren sie Stückwerk und Eklektizismus als großen Wurf. Das muss kein Akt der Verzweiflung sein, sondern anerkennt vielmehr die Gegebenheiten einer auf massenmedialen Sensationsinszenierungen beruhenden Demokratie. Der SPD, mit ih­rem Mantra der »Nachhaltigkeit«, ihrer neu entdeckten Liebe für Reproduktionsarbeiter im Gesundheitswesen und die Networker in den Medienklitschen, könnte so etwas wie eine Links-Berlusconisierung gelingen. Dann grübe sie der FDP und den Grünen das Wasser ab und empfähle sich offensiv als partner in leadership einer Ampelkoalition, derweil »Die Linke« sich endgültig als Partei der sozialdemokratischen Wiedergeburt inszenieren kann. Auch das wäre eine Parallele zu Italien.