Die Kultur-Flatrate

Kultur auf Raten

Die »Kulturflatrate« soll die Kunst vor der digitalen Revolution retten. Oder jedenfalls die Künstler dafür entschädigen, dass ihre Werke im Internet gratis verbreitet werden. Wie das genau funktionieren soll, ist jedoch unklar.

Flatrates erfreuen sich in Deutschland großer Beliebtheit. Was einmal als All-you-can-eat-Angebot in der Gastronomie anfing, hat sich nunmehr auf weitere Bereiche ausgedehnt: Es gibt Flat­rate-Saufen, Handy-, Internet- und Festnetz-Flats und seit neuestem sogar Flatrate-Bordelle. Dem Volk der Dichter und Denker fehlte bisher natürlich nur eine so genannte Kulturflatrate. Allerdings ist damit etwas substantiell anderes gemeint: Normale Flatrates sind Pauschaltarife und beruhen auf einer Mischkalkulation, bei der der Anbieter hofft, dass sein Angebot im Durchschnitt weniger genutzt wird, als die Nutzer dafür zahlen.
Die vor allem von Internetaktivisten, Anhängern der Piratenpartei und Filesharern geforderte »Kulturflatrate« funktioniert anders. Sie soll die Künstler, deren Musikstücke im Internet getauscht oder einfach nur gratis heruntergeladen werden, für ihre Erzeugnisse wenigstens teilweise entschädigen. Geplant ist, dass die Internetserviceprovider (ISPs) den Betrag der Kulturflatrate zusammen mit den monatlichen Kosten für den Internetzugang einziehen. So könne, ohne dass neue bürokratische und damit ineffektive Strukturen erforderlich werden, das Geld direkt bei den Nutzern abgebucht werden. Die Vorstellungen über die Höhe des Betrages variieren jedoch stark und reichen von drei Euro, wie etwa der Verein Musikpiraten fordert, bis 50 Euro monatlich.
Letztgenannte Zahl, die bisherige Maximalforderung, die von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) ins Spiel gebracht wurde, soll allerdings wohl eher das Vorhaben insgesamt und ein allgemeines Engagement für die Einführung einer solch teuren Kulturflatrate verhindern. Andere stellen sich dagegen prinzipiell gegen das Vorhaben. So befürchtet der Kulturexperte der FDP-Bundestagsfraktion, Hans-Joachim Otto, den »Einstieg in den Kultur-Sozialismus«. Die antikommunistischen Wahnvorstellungen sind dabei nicht auf Deutschland beschränkt, die französische Verwertungsgesellschaft SACEM spricht ebenfalls von einer »Sowjetisierung« des Urheberrechts.

Dabei kann von einer Enteignung keine Rede sein. Mit der Kulturflatrate sollen lediglich die Rechteinhaber entschädigt werden, die wegen des privaten, nichtkommerziellen Kopierens ihrer Werke keine Vergütung erhalten. Nach Schätzungen des Bundesverbandes der Musikindus­trie sollen im Jahr 2008 allein in Deutschland 316 Millionen Titel illegal heruntergeladen worden sein – das macht pro Bundesbürger vier Songs. Selbst wenn man die netzfremden Einwohner des Landes herausrechnet, bleiben nur circa acht Titel pro Kopf.
Dennoch überzieht die Musikindustrie Tauschbörsennutzer mit Schadensersatzklagen: In den vergangenen fünf Jahren hat sie über 100 000 zivilrechtliche Klagen angestrengt. Für die verklagten, oft jugendlichen Nutzer ist das Herunterladen von Musik damit riskant geworden. Wer erwischt wird, muss oft Schadensersatzforderungen und Anwaltskosten im vierstelligen Bereich begleichen. Mit der juristischen Verfolgung breiter Bevölkerungsschichten – man geht immerhin von mehreren Millionen Tauschbörsennutzern aus – konnte der illegale Austausch jedoch bisher nicht wirksam unterbunden werden.

Juristisches Vorbild für die Musikindustrie ist seit neuestem Frankreich. Dort hat das Parlament im Mai die so genannte Three-Strikes-Regelung beschlossen. Wer illegale Inhalte im Netz austauscht, wird erst per E-Mail, dann per Einschreiben verwarnt. Beim dritten Verstoß kann der Internetanschluss ein Jahr gekappt werden, dennoch soll der Nutzer weiter Anschlussgebühren zahlen. Dies alles soll ohne gerichtliches Verfahren funktionieren, eine Beschwerde des Rechteinhabers beim Internetprovider soll genügen. Auch aus diesem Grund wurde das Gesetz erst mal vom Verfassungsrat um die entsprechenden Sanktionsparagraphen gekürzt. Eine neue Version soll nach der Sommerpause vom französischen Parlament beschlossen werden – in der revidierten Fassung muss jetzt zumindest ein Richter die Sanktionen beschließen.
Die Musikindustrie preist diesen Gesetzesvorschlag als Modell, garantiert er doch unbürokratische, schnelle Sanktionen mit hoher Abschreckungswirkung auf Jugendliche, denn wer will schon komplett offline sein. Hierzulande würde ein solches Gesetz spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern, verletzt doch der Ausschluss vom Internet diverse Grundrechte. Bei der Bedeutung, die der digitalen Information und Kommunikation mittlerweile zukommt, ist diese Sanktion für Bagatelldelikte nicht vorstellbar. In Deutschland scheint dies lediglich die filmpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Angelika Krüger-Leißner, zu bedauern. Sie sagte der medienpolitischen Zeitschrift Promedia: »Wir haben starke Grundrechte in unserem Grund­­gesetz verankert, aber die hindern uns manchmal, einfache, klare Lösungen zu finden.« In der Tat: Die »einfachen, klaren Lösungen« sind leider oft nicht verfassungskonform.

Die Grünen stehen einer Änderung des Urheberrechtsgesetzes dagegen aufgeschlossen gegenüber, sie hatten schon dieses Frühjahr ein Rechtsgutachten zur »Zulässigkeit einer Kulturflatrate nach nationalem und europäischem Recht« veröffentlicht. Das Institut für europäisches Medienrecht (EMR), das das Gutachten erstellt hat, kommt darin zum Ergebnis, dass eine Kulturflatrate zur Legalisierung des privaten Filesharings in Europa rechtlich machbar ist. Für die Künstler sei eine solche sogar wünschenswert, da sie zum jetzigen Zeitpunkt gar keine Vergütung für illegal getauschte Inhalte erhielten. Die Einführung der Kulturflatrate sei »die logische Konsequenz der technologischen Revolution, die durch das Internet erfolgt ist«.
Auch wenn die Kulturflatrate mit den Grünen und natürlich der Piratenpartei mittlerweile entschiedene Befürworter hat, sind noch viele Fragen dieses Konzeptes offen. Wie soll die Vergütung erfolgen? Nach einem komplizierten Schlüssel – ähnlich dem der Musikverwertungsgesellschaft Gema? Das hieße, dass populäre Musiker die meisten Vergütungen, unbekannte Künstler weiterhin allenfalls Brosamen erhielten. Unklar ist auch, wie und wo die Downloads gemessen werden sollen. Im Cache der Internetserviceprovider oder über die Beobachtung der Download-Programme? Wie wird aber dabei der Datenschutz gewahrt – also garantiert, dass die einzelnen Dateilisten nicht mit den persönlichen Nutzerdaten verknüpft werden können?
Zudem muss eine Kulturflatrate, wenn sie nicht nur kurzfristig die Filesharer legalisieren soll, auch andere Bereiche von vornherein einbeziehen – also Film, Fotografie, Hörbücher und Literatur. Damit ist aber auch klar, dass man diese Werke nicht nach übertragener Dateigröße gewichten kann, bringt es doch jedes noch so kunstvolle Sonett kaum auf ein Kilobyte digitaler Daten. Und was bedeutete es für das »Volk der Dichter und Denker« und die »deutsche Leitkultur«, wenn nach ausgefeilten Zählungen und Berechnungen herauskäme, dass die Hälfte aller hierzulande erzielten Einnahmen fairerweise an die kalifornische Pornoindustrie überwiesen werden sollte?

Bei der derzeitigen Diskussion über die Kulturflatrate fällt auf, dass die eigentlich Betroffenen, die Künstler, sich kaum beteiligen, die Industrie wie immer sture Lobbyarbeit betreibt und die Netzaktivisten ergebnisoffen diskutieren. Noch überwiegen Internetseiten zum Thema Kulturflatrate, die vor allem ausführliche Frequently-Asked-Questions-Listen bieten. Der Willens- und Meinungs­bildungsprozess ist also bei weitem noch nicht abgeschlossen. Dies den Befürwortern einer Kulturflatrate vorwerfen zu wollen, wäre allerdings unfair. Schließlich versuchen sie wenigstens, mit der Zeit zu gehen und sich den Konsequenzen der digitalen Revolution zu stellen. Wurde der Kunstbegriff im vergangenen Jahrhundert durch die technische Reproduzierbarkeit herausgefordert, so tritt nunmehr die völlige Aufgabe jeder stofflichen Einheit durch die Digitalisierung hinzu. Die Musikindustrie weint noch den güldenen Zeiten der Leerkassetten und CD-Rohlinge nach, Zeiten, in denen als Urheberrechtsabgabe noch einfache Aufschläge auf leere Datenträger erhoben werden konnten. Das hat sich erledigt. Niemand weiß mit Sicherheit zu sagen, ob es in zehn Jahren noch Fernsehkanäle, Bücher, Zeitungen oder Computer mit eingebauter Festplatte geben wird.
Und schon heute ist das vertraute Sender-Empfänger-Verhältnis in Auflösung begriffen: Im Web 2.0 mit seinen sozialen Netzwerken wird vielleicht nicht Kunst, aber doch haufenweise content produziert. Den größten Gewinn erzielen im Internet Firmen wie Google oder Googles Tochterunternehmen Youtube, die den Zugriff auf die Inhalte lediglich vermitteln – und dabei von den massenhaften Verstößen der Nutzer gegen das Urheberrecht ordentlich profitieren. Angesichts der skizzierten offenen Fragen und Entwicklungen erscheint es fraglich, ob die Kulturflatrate eingeführt wird, noch bevor das Urheberrecht mit allen erfreulichen und unerquicklichen Nebenerscheinungen untergegangen ist. Vielleicht kann man sich diese Zwischenstufe auch getrost schenken. Den Fragen und Auswirkungen der digitalen Revolution wird man sich ohnehin stellen müssen.