Der Film »Hunger« von Steve McQuenn

Totalverweigerung

»Hunger«, der erste Spielfilm des Künstlers Steve McQueen, zeigt in drastischen Bildern den Hungerstreik von IRA-Häftlingen Anfang der Achtziger.

Alltag und Ausnahmezustand sind in »Hunger« untrennbar miteinander verbunden. Bevor sich Raymond Lohan, Wärter im Maze-Gefängnis in der Nähe von Belfast, an den Frühstückstisch setzt, taucht er seine Hände vorsichtig in ein Waschbecken voll Wasser. Ein zunächst nicht eindeutig lesbares Ritual, dessen Bedeutung sich erst in der Wiederholung enthüllt. Denn das Bad verspricht eine kurzzeitige Linderung des po­chen­­den Schmerzes seiner blutigen Knöchel – körperliche Misshandlungen gehören im Hochsicherheitstrakt für IRA-Häftlinge zum festen Re­pertoire des Bestrafungs- und Einschüch­te­rungs­programms des Gefängnispersonals.
Der britische Künstler Steve McQueen, bekannt durch seine meist tonlosen filmischen Arbeiten, hat mit »Hunger« seinen ersten, sehr eindrucks­vollen Spielfilm gemacht. Die konservative Daily Mail bezeichnete ihn entrüstet als »pro-ter­rorist propaganda«, dabei entfaltet der Film seine Politizität gerade nicht in der Formulierung einer politischen Haltung zum Thema Terrorismus und Staatsgewalt. McQueen konzentriert sich vielmehr auf einen existenziellen Kern, auf die »reine« Figur des menschlichen Körpers. In überwiegend langen Einstellungen, die auch die Räumlichkeiten des Gefängnisses genau in den Blick nehmen, zeigt er den machtvollen und machtlosen, den gewalttätigen und geschun­denen Körper – und nicht zuletzt den verwesenden, den verschwindenden Körper.
Bevor der Film zu seinem eigentlichen Zentrum vorstößt, zum Hungerstreik der IRA-Gefangenen im Jahr 1981, der von dem Aktivisten Bobby Sands maßgeblich initiiert wurde, führt er den Zuschauer behutsam an den Handlungsort heran. Die körperliche Gewalt wird vorerst ausgespart; man sieht Lohan und die Wachleute in der Umkleide, im Waschraum, in der Kantine, bei der Zigarettenpause im Hof. Informationen werden in dem Film fast ausschließlich über eine Radiomeldung vermittelt und über die eisige Originalstimme der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher: »Es gibt keine po­litischen Morde, politischen Bombenangriffe oder politischen Gewalttaten. Es gibt nur krimi­nelle Morde, kriminelle Bombenangriffe oder kriminelle Gewalttaten.«
Die Weigerung der Regierung, den IRA-Häftlin­gen den Status politischer Gefangener einzuräumen, war der Auslöser für eine Serie von Pro­testen, die in einem Hungerstreik ihren bitteren Höhepunkt fand; er kostete zehn Häftlinge das Leben. Thatchers Originaltöne sind jedoch die einzige Stimme, die die Ereignisse in »Hunger« politisch kontextualisieren. McQueen geht es weder um eine historische Analyse der Ereignis­se noch um die Motive der Terroristen, sondern vielmehr um das ganz buchstäbliche »nackte Leben« im Ausnahmezustand. Dafür findet er ei­ne präzis komponierte Bildsprache, die zwar distanziert ist, aber einen umso intensiveren Ein­druck körperlicher Erfahrung und biopolitischer Einschreibung vermittelt.
Braun ist die dominierende Farbe im ersten Teil des Films, das Braun von Scheiße. Mit einem neu angekommenen Häftling, Davey Gillen (Brian Milligan), betritt man den berüchtigten H-Block, wo schon seit Jahren der »Blanket«- und »No Wash«-Protest ausgeübt wird. Auch Gillen weigert sich, die Gefängniskleidung zu tragen. Nackt und nur mit einer Decke ausgestattet, wird er in seine Zelle geführt. Die Wände sind mit Kot beschmiert, verdorbene Essensreste liegen herum, ein verwahrloster Mitinsasse kauert auf dem Boden. Doch McQueen nimmt den auf den ersten Blick menschenunwürdigen Verhält­nissen alles Ekel erregende, Degradierende. In einer Szene ist eine Zelle zu sehen, deren Wände mit Mandalas aus Scheiße verziert sind – man kann das für »arty« oder maniriert halten, doch die darin verborgene Schönheit hat etwas sehr Machtvolles. McQueen zeigt den Körper als letzte Zuflucht, als ein Medium des Widerstands, eine Instanz für Autonomie. So werden etwa Kör­perausscheidungen als Waffe gegen die Gefängniswärter eingesetzt. Aus Essensresten und Kot bauen die Häftlinge Dämme, durch die der gesammelte Urin auf Kommando durch die Tür strömt.
Doch auf jede Form der Rebellion antwortet man mit einer Bestrafung. Bei einer kollektiven Reinigungsaktion werden den Gefängnisinsassen die Haare geschnitten, bis ihnen der Kopf blutet, die gewaltsame Körperreinigung in der Badewanne grenzt an Ertrinken. Einmal wird ei­gens eine Truppe von Polizisten bestellt. Sie stellen sich im Spalier auf und schlagen mit ihren Stöcken zunächst ohrenbetäubend laut gegen ihre Schutzschilde, bis ein Häftling nach dem anderen durch ihre Reihen gejagt wird. Verordnete Gewalt und Sadismus lassen sich hier kaum trennen, auch wenn McQueen auf diese Differenz hinweist – einer der Polizisten steht abseits und weint, während seine Kollegen mit Schlagstöcken auf die Häftlinge eindreschen. Der Wechsel von extremer Gewalt und großer Ruhe ist verstörend. Einmal wischt ein Wachmann die Urinpfützen auf dem Flur des Gefäng­nisses auf, die Zeit wirkt dabei unendlich ausgedehnt – die Monotonie dieser Alltagsverrichtung steht dabei im krassen Gegensatz zu der Extremsituation, die unauflösbar daran gebunden ist.
Im zweiten Teil des Films findet eine überraschende Wendung vom Körperlichen zum Sprachlichen statt. Bobby Sands (Michael Fassbender), der als Figur relativ spät eingeführt wurde, liefert sich hier in einer über zwanzigminütigen, nahezu ungeschnittenen Szene ein Rededuell mit einem katholischen Priester. Nach allem, was man zuvor gesehen hat, erstaunt es fast, dass die Sprache als Medium überhaupt noch greift. Was zuvor der Körper war, ist nun das Wort. Auch die Sprache wird in Reinform vorgeführt, die meiste Zeit über ist sie sogar von begleitenden Gesten und Blicken befreit. Das Gespräch beginnt mit einem einleitenden Ge­plän­­kel über Rauchgewohnheiten und Klatsch aus dem Priesterleben, erst dann stößt Sands zum eigentlichen Grund des Treffens vor, zur An­kündigung eines groß angelegten Hungerstreiks, den er bis zu den tödlichen Konsequenzen zu führen bereit ist. Selbstmord, Angst vor dem Le­ben, Angst vor Gesprächen, sagt der Pries­ter, der Sands zu Verhandlungen mit der Regierung bewegen will. Doch dieser lässt sich auf keinen moralischen Diskurs ein: »Mein Leben zu riskie­ren, ist nicht nur das einzige, was ich tun kann, es ist richtig und gut.« Bald sieht man Sands’ langsam verwesenden Körper; seine Kno­chen zeichnen sich unter der Haut ab, blutige Stellen treten hervor. So qualvoll dieses Sterben auch ist, im letzten, stummen Teil des Films breitet sich eine sonderbare Friedlichkeit aus. Der Körper bekommt etwas Sakrales, er wird nun behutsam angefasst, gebadet, auf weiße La­ken gebettet. In Gedanken bewegt sich Sands in die Zeit seiner Kindheit zurück und streift durch die Natur. So befreiend diese Bilder auch für den Zuschauer sind, der Film verliert hier etwas von seiner Radikalität und Konsequenz. Sands verlässt das Gefängnis und er verlässt seinen Körper, schließlich für immer. Das war am 66. Tag seines Hungerstreiks.

»Hunger« (England 2008), Regie: Steve McQueen. Darsteller: Michael Fassbender, Stuart Graham u.a. Start: 13. August