Gespräch mit Dinah Radtke über die internationale Behindertenpolitik

»Vielfalt ist wichtig«

Die 1947 geborene Dinah Radtke gründete zusammen mit anderen 1987 das Erlange­ner »Zentrum für selbstbestimmtes Leben e.V«. In der Organisation »Disabled Peoples’ International Europe« (DPI) engagiert sie sich weltweit in der internationalen Behindertenpolitik. Wegen einer Behinderung ist sie Rollstuhlnutzerin.

Sie haben an der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung mit­gearbeitet. Was war dabei Ihre Aufgabe?
Ich war verantwortlich für den Artikel 6 – Frauen mit Behinderungen.
Was ist für Frauen mit Behinderung anders als für Männer mit Behinderung?
Frauen mit Behinderung werden etwa nicht als gleichberechtigte Partnerinnen angesehen, Frauen müssen ja schön sein, behinderten Frauen wird abgesprochen, dass sie Ehefrau und Mutter sein können, dass sie Sexualität haben. Frauen mit Behinderung werden im Beruf diskriminiert, sie sind öfter arbeitslos. Sie erleben auch doppelt so viel Gewalt wie nichtbehinderte Frauen. Dies Thema ist leider immer noch ein Tabu. Hier brauchen wir ganz viel Aufklärung.
Ist es mittlerweile selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderungen ihre politischen Interessen selbst vertreten?
(lacht) Nein, leider nicht, das ist eher die Ausnahme. Immerhin waren bei den Verhandlungen zur Behindertenrechts-Konvention viele Männer und Frauen mit Behinderungen anwesend, und zwar auch aus den offiziellen Delegationen.
Sie engagieren sich seit 1976 für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Was hat sich seitdem getan?
Wir haben einige Gesetzesänderungen bewirken können, und ich denke, dass sich das Bewusstsein in der Gesellschaft verändert hat – Frauen und Männer mit Behinderungen werden jetzt manchmal in den Medien nicht mehr nur als Fürsorgeempfänger dargestellt, sondern auch als selbstbestimmte Frauen und Männer.
Aber es gibt noch immer viel Behindertenfeindlichkeit. Ein Beispiel ist die Pränataldiagnostik, mit der man behindertes Leben vermeiden will. Oder etwa die Diskussion um Patientenverfügungen und das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Da geht es auch um Kosten, auch wenn es heißt, dass Menschen mit Behinderungen Leiden erspart werden sollen. Die nichtbehinderten Menschen wissen aber nicht, wie es ist, mit Behinderungen zu leben, man entscheidet ja in der Patientenverfügung über einen Zustand, den man nicht kennt. Meine Erfahrung mit schwer behinderten Menschen, die auch beatmet werden, ist, dass sie leben wollen.
Die UN-Konvention soll in Deutschland dazu führen, dass Kinder mit Behinderungen nicht mehr in die Sonderschulen abgeschoben, sondern in normale Schulen integriert werden.
Das ist in Deutschland einer der wichtigsten Schritte. Aber wir reden nicht von Integration. Integration meint ja, dass man vorher aussortiert war und in ein System zurückgebracht wird, an das man sich anpassen muss. Inklusion meint aber – und die Behindertenrechtskonvention spricht von Inklusion –, dass sich das System an die Bedürfnisse der Einzelnen anpassen muss – etwa durch Barrierefreiheit, die sich nicht nur auf bauliche Dinge bezieht, sondern auch auf sprachliche und elektronische Hürden.
Sie sind 1947 geboren. Wie verlief Ihre Schulzeit?
(lacht) Schrecklich. Ich hoffe, dass es den Kindern heute nicht mehr so geht. Ich bin ab dem Alter von elf Jahren nicht mehr in die Schule gegangen, ich war dann zu Hause. Als ich 17 war, gab es das Telekolleg, damit habe ich die Fachschulreife nachgeholt und dann Sprachen studiert. Aber auf dem zweiten Bildungsweg. Es gab ja damals keinen Fahrdienst, es gab nichts.
Ist es heute möglich, dass Kinder mit Behinderungen mit der Hilfe eines Assistenten am normalen Schulunterricht teilnehmen?
Das ist je nach Bundesland verschieden. In Bayern gibt es etwa die Regel, dass behinderte Kinder in die Regelschule gehen können. Aber die Direktorin und die Lehrer müssen einverstanden sein. Auch müssen die Schulämter Gelder zur Verfügung stellen. Wenn sie das nicht tun, gibt es wieder eine Hürde, dann muss man über den Sozialhilfeträger Geld beantragen. Das schaffen nur Eltern, die sich auskennen.
Ich habe neulich ein Interview im Radio gehört mit dem Direktor einer Schule in Südtirol. In Italien ist ja Inklusion von Kindern mit Behinderungen seit 20 Jahren die Regel. Und der Schulleiter dieser Schule sagte, er habe kleine Klassen, zwei Lehrerinnen oder Lehrer pro Klasse, und in diesen Klassen seien Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen und Kinder im Wachkoma. Das kann man sich hier nicht vorstellen. Für mich sind das traumhafte Zustände. Er sagt, dass alle Kinder auch von einem Schüler im Wachkoma profitieren würden.
Behindertenverbände sagen, man ist nicht behindert, sondern man wird behindert. Hat sich das mittlerweile durchgesetzt?
Nein. Aber die UN-Konvention unterstreicht den Paradigmenwechsel weg vom medizinischen Blick, der das Individuum anpassen will, hin zur Anpassung der Umgebung an die Erfordernisse der Einzelnen. In der Konvention steht, dass Vielfalt wichtig ist und der Beitrag, den Menschen mit Behinderungen für das Leben in der Gesellschaft leisten, ganz hoch zu schätzen ist.
Was ist damit gemeint?
Schon mit dem Krüppeltribunal 1981 haben wir Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat aufgezeigt, etwa in Heimen. Wenn hier Verbesserungen erkämpft werden, profitieren alle. Auch weil Menschen mit Behinderungen Normen in Frage stellen, die alle Menschen unterdrücken. Behindertenorganisationen machen auf Dinge aufmerksam, die für alle gefährlich sind. Etwa bei der Pränataldiagnostik, bei der Behinderte aussortiert werden. Wo fängt man denn an mit dem Aussortieren, wer kommt alles auf die Liste?